amanda baggs.

„I remember a boy in a mental institution with me who was there because he’d taken a gun and shot his television and a bunch of other objects. Someone sent him in a bunch of balloons that said ‚Get Well Soon‘ on them. Every last one of us in the dayroom at the time found that bizarre and laughable.“ [#]

die legende der dritten generation.

In „Die Legenden der Väter“ schreibt Kolja Mensing über die Suche nach seinem polnischen Großvater, den er nur aus Erzählungen seines Vaters kennt. Während eines Stipendiumsaufenthalts in Krakau besucht Kolja Mensing die Schwester des Großvaters und beginnt damit, seine Geschichte genauer zu recherchieren. Die Erzählungen über dessen Leben müssen im Zuge der Recherche immer wieder revidiert werden, der Großvater hatte sich seine vom zweiten Weltkrieg geprägte Biographie offensichtlich zu großen Teilen erdichtet, hatte geschönt, weggelassen und in einigen Fällen schlichtweg gelogen. Die Suche gerät unweigerlich zu einer Entzauberung, wenn nicht gar zu einer Demontage. Doch der Autor bricht die Suche nicht ab, er schont weder sich noch seinen Vater vor dem Ergebnis.

Im Laufe der Familienforschung wird Kolja Mensing bewusst, wie auch sein Vater ihm von der Kindheit in der Nachkriegszeit im norddeutschen Fürstenau zunächst ebenfalls sehr selektiv erzählt hatte. Die abenteuerlichen Geschichten des Vaters über Streiche und Stromern, die an Tom Sawyer erinnern, und die er dem kleinen Sohn als Gutenachtgeschichten erzählte, erwähnten die Gewalttätigkeit der alleinerziehenden Mutter nicht, wie auch nicht das ganze, große Geflecht schwieriger Familienbeziehungen in einer Zeit, in der nach dem Krieg viele Menschen auf engem Raum unter einem Dach zu leben gezwungen waren. In den Erzählungen kamen die Schwierigkeiten eines unehelichen Kindes nicht vor, das als Polenkind groß wurde in einer Gesellschaft, die Beziehungen zwischen polnischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen verachtete. Die Tom Sawyer-Geschichten werden erst im Laufe des Aufwachsens angereichert durch diese Dimensionen. Dies ist wohl insofern eine übliche Entwicklung, als die meisten Kinder im Laufe ihres Aufwachsens langsam immer mehr über die Familie erfahren. Dass die Legenden des Vaters mit den Legenden des Großvaters verknüpft sind, macht aber das Besondere auch dieses Erzählstrangs aus.

Für Enkel wird die Beziehung zur Generation der Großeltern wohl meistens teilweise mittelbar über die Eltern geprägt, aber im Falle eines abwesenden Großelternteils ist die Beziehung des Enkels zum Großelternteil jeglicher unmittelbaren und vom Elternteil unabhängigen Dimension beraubt. Der Vater hatte es in den schwierigen Umständen seiner Kindheit vielleicht gebraucht, den eigenen Vater zu idealisieren, der längst zurück nach Polen gegangen war. Ihm war das Phantom nützlich, dem Enkel nicht. Der musste erst hinter die Erzählungen des Vaters gelangen, um zum Großvater vorzustoßen, und dann wiederum hinter die Erzählungen des Großvaters gelangen, um die Familiengeschichte zu verstehen. Eine enorme Aufarbeitungsaufgabe, an der Kolja Mensing fast zehn Jahre gearbeitet hat, und die ein faszinierendes Bild dreier Generationen ergibt. Aus der Aufarbeitung der Legenden der beiden vorigen Generationen entsteht in diesem Buch, fast nebenbei und zuerst fast unbemerkt, die Legende der dritten Generation.

Kolja Mensings Buch ist eine Mischung aus Sachbuch und Fiktion. Der Autor hat all die neuen Informationen, die er in Gesprächen mit Verwandten und aus Archiven in Großbritannien, Polen und Deutschland über Jahre hinweg zusammengepuzzelt hat, nicht einfach nur nüchtern wiedergegeben, das wäre immerhin auch eine Möglichkeit gewesen. Er hat sich dazu entschlossen, die neuen Informationen in eine Erzählung zu gießen, die am Ende ebenso fiktiv und subjektiv ist, wie es die Erzählungen des Vaters und Großvaters waren. Die atmosphärische und erzählerische Tiefe, mit der er die neue Geschichte des Großvaters erschafft, ergibt eine neue Legende. Wie sich der polnische Großvater Jozef und die deutsche Großmutter Marianne in Fürstenau kennenlernen, beschreibt er zum Beispiel mit vielen Details, das Laub knistert unter den Füßen, Jozef kramt in der Jackentasche nach einer Zigarette. Kolja Mensing kann nicht wissen, wie es früher genau war, aber aus den Informationen, die er recherchiert hat, erschafft er ein neues Bild davon, wie es gewesen sein könnte, und in der erzählerischen Dichte, mit der er dies tut, erweist er sich als Sohn seines Vaters und Enkel seines Großvaters. Auch er hat in gewisser Weise ein Denkmal erbaut, ganz besonders in den Passagen des Kennenlernens von Jozef und Marianne bis hin zur Zeugung des Kindes: diese Passagen sind so literarisch erzählt, dass sie zur Legende des eigenen Ursprungs werden. Hier erschafft ein Autor die grundlegende Erzählung: die, woher er kommt, und hier erzählt wiederum ein Vater, so wie seinerzeit sein eigener Vater und noch davor sein Großvater erzählt haben. Die Legenden dreier Väter: am Ende ein Buch von vier Generationen.

Nächste Lesung: diesen Freitag, 28. Oktober ab 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin.
Mehr Termine hier.

fünf dinge.

Sehr gefallen hat mir die neue Website Fünf Dinge, auf die ich über Okka Rohds Weblog Slomo gestoßen bin. Okka Rohd selbst, Dorothea Sundergeld und Karolina Stasiak haben diese Website ins Leben gerufen. Menschen stellen fünf Dinge vor, die sie mögen, und erzählen dazu die Geschichte, die mit dem jeweiligen Gegenstand verbunden ist. Ich fand die Idee sehr schön, habe sofort die fünf Dinge aller Leute gelesen, die schon auf der Website waren und dann dachte ich mir irgendwann, dass so ein Projekt aber davon lebt, dass da auch Leute mitmachen und nicht immer nur lesen, und darum habe ich Okka eine E-Mail geschrieben und meine fünf Dinge angeboten, die sie dann netterweise tatsächlich mit aufgenommen hat, hier also meine fünf Dinge.

die rhetorik der neurowissenschaft.

Interessantes Interview von Jonah Lehrer mit Davi Johnson Thornton über deren Buch Brain Culture: Neuroscience and Popular Media:

„On the one hand, the brain is ‚the most complicated object in the universe‘ and ‚the final frontier of modern science.‘ And yet, we also routinely describe the brain as the most practical of organs, a machine we can harness and hack for endless self-improvement.“

„In the book, I’m trying to parse out the consequences and effects of these brain languages and images – good, bad, and ambiguous – at the level of culture, politics and economics, and withhold anything like an ultimate judgment.“ [#]

komm näher.

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Sie kamen näher, die Besucher des Sommerfestes in Johns Schule, und die Theater-AG, in der John dieses Schuljahr mitgemacht hat, führte ein Stück mit Stabfiguren auf: „Die kleine Maus sucht einen Freund.“ Ich war beeindruckt, dass John vor so einem großen Publikum das ganze Stück über auf der Bühne sitzenblieb und sich sogar richtig freute. (Am Vorabend war er schon ganz aufgeregt gewesen und erst um zehn Uhr eingeschlafen.)

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Wo wir schonmal in Fürstenwalde waren, sind wir nach dem Fest noch gleich in Polen Zigarettenkaufen gegangen. In Slubice ist ein Konkurrenzkampf entbrannt: das eine Geschäft hat einen Parkplatz, diesen nun eingezäunt, damit die Leute nicht mehr darauf parken und dann aber im Geschäft daneben einkaufen, nun hat das nebenliegende Geschäft mit einer großen Videoleinwand auf ihrem eigenen Grundstück gegen den Zaun aufgerüstet, auf der Leinwand zeigen sie einen Film, wie man um den Zaun herumgehen und zu ihrem Geschäft gelangen kann. So sieht die Welt also gerade in der „Tobacco Road“ aus.

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Auch wenn er von der Klowandfirma kommt, ein ganz schöner Spot zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Get closer.

Deutsch [#]

Making-Of [#]

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Eine Kollegin, mit der ich noch letztes Jahr zusammengearbeitet habe, hat sich das Leben genommen, sie ist aus dem Fenster ihrer Eigentumswohnung in einem Chicagoer Hochhaus gesprungen. Janeen war eine sehr warmherzige und sorgende Frau, aber anscheinend auch sehr depressiv, was ich vielleicht manchmal nach Gesprächen durchaus geahnt habe, aber nicht in diesem Ausmaß. Durch einen Mailwechsel mit ihrer Schwester weiß ich, dass selbst die Familie das Ausmaß nicht erkannt hatte. Janeen gehörte einer Gemeinde an, die sich christlich nennt, ein wesentlicher Teil des Glaubens dieser Kirche ist die Ablehnung medizinischer Behandlungen (und das bei einer Depression). Ich hatte darüber Auseinandersetzungen mit Janeen, noch das letzte Mal, als wir gemeinsam mit einer Reisegruppe im Hotel wohnten. Sie lehnte jegliche Medikamente ab.

Sie hat mir auch immer wieder erzählt, ich könne John von seinem Autismus heilen, wenn ich nur daran glaubte. Ich sagte ihr dann jedes Mal, dass Autismus nicht heilbar ist, dass das aber auch nicht schlimm sei: „Janeen, it’s okay, it’s not the end of the world.“ Aber sie wollte darauf nicht hören. Wenn ich sagte: „I’m okay. John’s okay“, dann schüttelte sie nur den Kopf. Es war so, als erreichten meine Worte sie nicht. Sie konnte und wollte die Welt und die Menschen und die Dinge einfach nicht so akzeptieren, wie sie sind. Am Ende unserer letzten gemeinsamen Arbeit schenkte sie mir zum Abschied einen großen Stapel Zeitschriften ihrer Kirche. Darin lauter unwahrscheinliche Heilungsgeschichten, ich habe sie überflogen und weggeworfen. Janeens letzte Worte, bevor sie sich auf den Weg zum Flughafen machte: „Monika, I really think John can be healed.“ Wie sich nun herausstellt, waren es ihre letzten Worte an mich überhaupt, jemals. Ich habe immer diesen Druck gespürt, den ihr Glaube auf Janeen ausgeübt hat. Ich habe viel mit ihr darüber gesprochen, es hat überhaupt nichts gebracht. Ich wünschte mir, ich hätte sie erreichen können. Wenn es nicht um ihren Glauben ging, war Janeen sehr humorvoll und lustig. Hätte sie nicht permanent diesen Druck gehabt und wäre sie bereit gewesen, Medikamente zu nehmen, alles hätte ganz anders ausgehen können.

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Beim Googeln einen interessanten Artikel über Janeens Kirche gefunden: The respectable cult.

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