cis-börger.

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Was ich schon lange empfehlen wollte, für diejenigen, die es noch nicht kennen (ich habe kürzlich in einem Gespräch nämlich festgestellt, dass es durchaus noch Menschen gibt, die es nicht kennen): Meike Winnemuths Reiselog Vor mir die Welt.

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Zur Wertschätzung von Fleisch sagt ein einziges Werbeposter in Neukölln alles:

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Worüber ich in den letzten Tagen auch nicht hinwegkomme: In Mexiko gibt es 11 Milliardäre und 50 Millionen Menschen leben in Armut. [#]

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Kolja bloggt von der Leipziger Buchmesse. Wir reisen nicht so weit wie Meike Winnemuth und noch nicht einmal nach Leipzig, aber zu Ehren des Gastlandes der Buchmesse lese ich gerade Hamam Balkania von Vladislav Bajac. Meine Reisen finden wieder hauptsächlich in Büchern statt, wie früher als Kind.

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Die New York Times soll eine Paywall erhalten, vielleicht werde ich sie demnächst also auch in der Bibliothek lesen müssen, so wie andere Zeitungen und Zeitschriften, die nicht online sind. Etwa einmal pro Woche fahre ich zur Amerika-Gedenkbibliothek und lese, was mich interessiert und was ich online nicht lesen kann. Die AGB wird sicher auch Computer mit Zugängen zur NYT haben, dann lese ich sie eben nicht mehr täglich, sondern einmal pro Woche retrospektiv. Das ist ja das Fatale an dieser Bezahldiskussion, Paywalls lösen kein Problem, sie verlagern nur die Rezeptionsmöglichkeiten.

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Neuester Satz des Kandidaten: „Ein Cis-Börger kaufen!“ Das bedeutet Cheeseburger, gemeint ist allerdings ein Veggie Burger, nur kann John das nicht auseinanderhalten, jeder Burger ist für ihn automatisch ein Cis-Börger, auch wenn er den Veggie Burger viel lieber mag.

all things must pass.

Welche neuen Gefühle uns das Internet beschert:

The state of being ‘installed’ at a computer or laptop for an extended period of time without purpose, characterized by a blurry, formless anxiety undercut with something hard like desperation.

The sense of fatigue and disconnect one experiences after emitting a massive stream of content only to hit some kind of ‘wall’ and forget and/or abandon the entire thing. [#]

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Was gut ist: am Treptower Park zu wohnen.

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Empfehlen möchte ich das Bootleg von George Harrison’s „All Things Must Pass:“ Beware of Abcko und Paul McCartney’s „Ram“, letzteres zur Zeit Johns Lieblingsmusik.

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Gesehen: Winter’s bone, geht einem noch lange nach.

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Was man auf diesem Foto sieht: wie gut John mittlerweile mit seiner Dyspraxie umgehen kann.

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Das Schöne an Berlin ist ja auch, dass man hier im Radio NPR (FM 104,1) hören kann, gestern zum Beispiel in der „Diane Rehm Show“ den Beitrag über Jonathan Gills Buch „Harlem“ (hier nachzuhören). Ein gewisses Gefühl des Anachronismus natürlich, mit NPR durch Berlin zu fahren.

[Ich frage mich, ob es in Deutschland möglich wäre, dass eine Frau mit spasmodischer Dysphonie eine so erfolgreiche Radiosendung moderiert, ich bezweifle es.]

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Die Werder-Raute löst sich vom Autofenster, wtf? Nichtmal die Fanartikel sind mehr gut drauf.

cultivation of the inner eye.

Gelesen: Disability history. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Wieder einmal dieses Gefühl, wie schade es ist, dass ein wirklich interessantes Thema so schwer zu lesen ist und der nagende Gedanke, es müsse doch anders gehen, nur wie? Bei meinem Autismus-Buchprojekt stoße ich auch immer wieder gegen diese Wand, es muss anders gehen, nur wie.

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Zwölf Leute im Warteraum der Ausländerbehörde, drei iPads.

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Band of Horses Konzert im Astra. Das Krasse ist der Übergang zwischen der Pflegesituation, einem großen neurologischen Sturm, der einige neue Kratzwunden an den Händen mit sich brachte, und eine Stunde später mit einem Bier in der Hand zwischen lauter Menschen, die so weit von der Situation Zuhause entfernt sind, dass man diesen Unterschied emotional fast nicht verarbeiten kann. Aber wenn die Musik anfängt, ist das Problem behoben, fast ist man wieder das Paar, das sich so viele Nächte auf dem Balkon des Metro Clubs um die Ohren schlug.

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Was ist Pflege? Aus irgendeinem Grund beschäftigt mich diese Frage in letzter Zeit, vielleicht, weil man im Anflug der Pflege-Reform so viel darüber hört und liest, selten wird aber darüber gesprochen, was genau Pflege für die Pflegenden bedeutet, welche Erfahrungen sie durch das täglich gelebte Handeln machen, wie die Pflege sie prägt, ihre Perspektive auf das Leben, oder auch ihre Beziehung zur Gesellschaft.

Pflege als Dienstleistung, „Hilfen zur Erhaltung, Anpassung oder Wiederherstellung der physischen, psychischen und sozialen Funktionen und Aktivitäten des Lebens“, wie es beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe DBfK beschrieben wird, das ist für Zuhause Pflegende, für Angehörige nur ein Teil des Ganzen. Von ganz grundsätzlichen Dingen wie füttern, wickeln, baden, anziehen oder auch Diagnostik und Therapien, über das unablässige Beobachten des körperlichen und seelischen Zustandes und adäquates Reagieren darauf, bis hin zu zahlreichen Verwaltungsaufgaben lässt sich vieles recht einfach zusammentragen, aber damit hat man noch keine Erkenntnisse über Sinnfindung und Sinnstiftung gewonnen, die doch so wichtig sind in der Pflege.

Was ist Pflege also? Grundsätzlich ist ziemlich klar, dass Pflege für Angehörige ein Akt moralischer Solidarität, ein Akt der Liebe ist. Pflege heißt, dass man sich einer Verantwortung bewusst ist, diese annimmt und ausfüllt: ein abstraktes Wertebewusstsein wird in die Tat umgesetzt und gelebt. (Vorsicht Pathos:) Dies kann zum Kern der Erfahrung dessen führen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Ausgehend von der Idee, dass wir nicht als volle Menschen geboren werden, sondern erst zu solchen werden durch das Kultivieren unseres Selbst und unserer Beziehungen zu anderen Menschen, kann man sich denken, dass in der Pflege große Möglichkeiten eines solchen menschlichen Wachstums liegen.

Klingt sehr moralin, sentimental und utopisch, erst recht, wenn man nur zu genau weiß, wie schwer die Dauerhaftigkeit der Pflege ist, Tag für Tag und Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Die ganze vereinnahmte Zeit und Energie, das Zurückstellen eigener Interessen, das Kräftezehrende, der finanzielle Abstieg, die Rückschläge, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die unumgängliche Strapazierung der Beziehung der Pflegenden untereinander, die permanente Unsicherheit und Unberechenbarkeit, das veränderte Zeitempfinden, weil man nur noch von einem Tag zum nächsten leben kann, der Druck der Verantwortung, die man niemals wirklich abgibt, nur temporär an andere Hilfskräfte überträgt, aber dennoch auch in dieser Zeit die ganze Zeit spürt, die Ohnmacht.

Dennoch pflegt man, und pflegt gerne, und erfährt in all der Schwere einen Sinn, sogar eine Bereicherung. Die Erfahrung der Empathie, die kleinen Erfolge und das Glück der schönen Momente, Dankbarkeit, Gemeinsamkeit, auch diese Aspekte gehören dazu, und vielleicht am Erstaunlichsten: obwohl man so sehr eingebunden und daher eigentlich sehr fremdbestimmt ist, ausgerechnet auch ein großes Gefühl der Freiheit.

Ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu sein, leben die meisten Menschen mit der Einstellung, ihr Leben unter Kontrolle zu haben, Sicherheit und Selbstbestimmung sind wichtig. Nicht wenige gesellschaftliche und politische Initiativen haben ihre Ursache im Streben danach, diese Selbstbestimmung, Sicherheit und Kontrolle zu stabilisieren und auszubauen. Je mehr die Gesellschaft nach diesen Idealen strebt, umso mehr Verlustängste entwickelt sie, es folgen umso mehr Besitzstandwahrung und Kontrollwahn.

Die Perspektive der Pflege ist diametral entgegengesetzt. Wir haben vor langem den Punkt überschritten, uns in Kontrolle des Lebens zu wägen. Wir haben keine Kontrolle. Mit zunehmender Pflege-Erfahrung wird mir immer deutlicher, dass Kontrolle und Sicherheit im menschlichen Leben nie mehr als eine Illusion sein können, und die Gesellschaft, die dieser Illusion immer mehr hinterher hetzt, kommt mir immer unfreier vor. Dagegen haben wir in den letzten zehn Jahren gelernt, dass wir ohne Kontrolle und Sicherheit und mit eingeschränkter Selbstbestimmung leben können, und sogar gut leben können, und dieses Gefühl ist tatsächlich befreiend.

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Ein sehr gutes Interview: Martha Nussbaum on 21st Century Enlightenment
[via]

kiss each other clean.

Valentinstag, Schmalentinstag, egal, trotzdem gefreut.

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moms with apps.

Was für eine tolle Zeit, in der wir leben, eine Zeit, in der es sowas gibt wie Moms with Apps, das beschreibt unsere Zeit vielleicht fast schon hinreichend.

Am meisten begeistert mich, dass es eine prima Liste von Apps für autistische Kinder gibt. Immer wieder muss ich daran denken, was mir eine Frau aus einer amerikanischen Reisegruppe sagte: „You are so lucky to live in this day and age. I have a child with a severe disability and it was very difficult to raise her, living in a small town during the Fifties, all alone, without access to information or help. Today, you have the internet! Everywhere!“

Ja, heute haben wir das Internet (danke!) und wir haben Moms with Apps (thanks!). Yeah.

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Erst habe ich gar nicht bemerkt, wie gut die neue Iron & Wine wirklich ist.

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der kommandospiegel.

John spricht in letzter Zeit immer mehr, um nicht zu sagen unablässig. Ein sehr großer Teil ist reine Echolalie, da bekommen wir nun den verdienten Kommandospiegel vorgehalten: „Hör auf“, „Nein“, „Jetzt ist aber Schluss“, „Ins Bett gehen“, „Komm weiter“, „Setz Dich richtig hin.“ Als ich mich gerade ernsthaft fragte, ob bei John wirklich nur das ankommt, lief er durch den Flur und rief: „Johnny, süßer Spatz.“

Einige Sätze kommen aus der Schule, zum Beispiel „Jetzt erst genug gegessen.“ Aus der Schule kommt auch die Erwähnung des Mitschülers Konrad, der der alten Mitschülerin Owens den Rang abgelaufen hat. Früher nahmen wir Owens überallhin mit: „Owens! Geh da runter!“, ob am Strand in der Normandie oder auf dem Diamond Hill in Irland, Owens war immer dabei, heute aber ruft John den ganzen Tag: „Konrad! Kooon-raad!“

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Dann merkte ich, dass ich Phil Selways tolles Album Familial verpasst habe, zum Glück hat es nun seinen Weg zu mir gefunden.

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Brötchen mit Tsatsiki

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Habe mir eben die letzte Sendung Druckfrisch angesehen. Denis Scheck findet Giovanni di Lorenzos und Axel Hackes Wofür stehst Du? gut: „Auf welchen Polen man seinen moralischen Kompass ausrichtet, wodurch man Werte gewinnt“, diese Fragen beantworteten sie „kompetent und unprätentiös. Leichte, aber keineswegs seichte Lebenshilfe, Respekt.“ Ich mag die beiden Autoren, besonders Giovanni di Lorenzo, und ich fand das Buch zwar auch okay, aber Lebenshilfe? Vielleicht für privilegierte Menschen, die ein bisschen ihr schlechtes Gewissen pflegen möchten. Mir kam das Projekt am Ende etwas unzusammenhängend vor, als habe man Textstücke und Meinungen, die man schon immer mal veröffentlichen wollte, in ein Buch gepackt, das dann aber vor allem entlarvt, wie privilegiert die beiden Autoren sind. Di Lorenzo zitiert Treffen mit einflussreichen Politikern und großen Wirtschaftsbossen, erzählt Anekdoten, etwa wie Bedürfnisse und Krankheiten kreiert werden, um Produkte und Medikamente verkaufen zu können, das kennt man alles schon lange, Di Lorenzo steht geradezu ungläubig davor und scheint davon geschockt zu sein. Liest der Mann denn kein Internet? Die Ausrichtung des moralischen Kompasses und die Wertegewinnung ereignen sich in einer derart saturierten Wirklichkeit, dass sie nach meinem Gefühl leider eher in Belanglosigkeit als in Lebenshilfe münden. Phänomenologisch ist es ganz interessant, wie zwei höchst reflektierte Menschen sich Moral und Werte aus einem solchen Schutzraum her konstruieren, aber man möchte ihnen raten, mal sechs Monate von Hartz IV zu leben, in einer entsprechenden Wohnung und ohne Arbeit, und dabei am besten noch rund um die Uhr einen Demenzkranken pflegen. Der Erkenntnisgewinn, den sie daraus ziehen würden, der würde mich wirklich interessieren, und zwar viel mehr als Gespräche mit Politikern und Wirtschaftsbossen. But that’s just me.

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erst eis, dann schokolade.

Neben der Echolalie spricht John zunehmend zielgerichtet und deutlich mit dem Willen zur Kommunikation. Vorletzten Sonntag auf dem Flohmarkt am Mauerpark bekam er am Eingang eine heiße Waffel mit Puderzucker, dann liefen wir über den Markt, und als wir fast am Ende waren, zog John uns zurück und sagte: „Kuchen, Kuchen, Kuchen.“ Er zog und sagte dabei so lange „Kuchen“, bis wir wieder vor dem Waffelstand standen.

Am selben Tag fuhren wir im Auto an einer Tankstelle mit einem Langnese-Schild vorbei und John verkündete von hinten laut und deutlich: „Eis kaufen gehen!“ Das wurde als Belohnung natürlich sofort umgesetzt.

In der Schule wird viel mit Erst-Dann-Karten gearbeitet, es soll den Kindern dadurch deutlich werden, dass sie nach einer erledigten Aufgabe eine Belohnung bekommen, um so die Motivation zur Kooperation zu erhöhen, etwa: „Erst Arbeitsstation, dann Schaukeln.“ John hat dieses System kurzerhand für sich selbst angepasst und nun ruft er oft: „Erst Eis, dann Schokolade!“ (Kluges Kerlchen, diese ganze Verhaltenstherapie muss man mit ihren eigenen Waffen schlagen.)

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War eigentlich schonmal jemand in einem Gitarrenladen, ohne dass darin mindestens ein Poser herumsaß, der gar nicht wirklich eine neue Gitarre ausprobiert, sondern ganz offensichtlich nur den Effekt seiner Künste auf die anderen Kunden sucht? Scott und ich haben gestern beim Kauf einer neuen Gig Bag festgestellt, dass wir das weder in Chicago noch in Berlin jemals erlebt haben, einen Aufenthalt im Gitarrenladen ohne Poser.

herbst.

Die Idylle trügt: zweimal schon hat John meine Stricksachen erwischt und die Nadeln rausgezogen, so langsam verlässt mich die Motivation des immer neuen Anfangens, und Zuhause sein können wir sowieso erst nach 18 Uhr, vorher muss es den ganzen Tag Programm geben.

Da John sich in der Wohnung nicht beschäftigen kann, sind wir immer auf der Flucht: Waldspaziergang in Beelitz, Cecilienhof in Potsdam, Wanderung auf den Wehlaberg, Rundgang um die Pfaueninsel, Tagesausflug nach Dessau, Spaziergänge im Wildgehege Glauer Tal und im Naturpark Schöneberger Südgelände am Priesterweg. Im Umkreis von 100 km haben wir schon alles abgegrast, wir könnten ein Buch „Ausflüge in und um Berlin“ herausgeben.

Mehr Herbstbilder auf Flickr.

pfingsten auf der pfaueninsel (und nein, wir sind nicht nur wegen der alliteration hingefahren).

Auf der Pfaueninsel vom 1. Mai bis 31. Oktober 2010: „Luise. Die Inselwelt der Königin“ und Positionen zeitgenössischer Kunst. Empfehlenswert. Auf der Insel fahren keine Autos, daher konnten wir John frei laufen lassen, und mit der Kunst hat er viel Spaß gehabt. Es sollte mehr autistenfreundliche Kunst geben.

Robert Stieve: Eicheln / Acorns

Olafur Eliasson: The Blind Pavilion

Michael Lukas: Parkett / Parquet

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