wo fahren wir hin, papa?

„Eltern von Kindern mit unbefristetem Schwerbehindertenausweis hatten lange Zeit Anspruch auf eine Steuerplakette fürs Auto. 1991 wurde sie jedoch abgeschafft, sodass es seitdem keinen Anreiz mehr gibt, behinderte Kinder zu bekommen.“

Bei so einer Fußnote auf den ersten Seiten eines Buches muss man natürlich schmunzeln. Jean-Louis Fournier, Vater zweier behinderter Kinder, hat ein Buch geschrieben, um sich alles Ungesagte von der Seele zu schreiben, vielleicht auch seine Schuldgefühle, wie er im Vorwort erklärt. Er schreibt für seine Söhne: „Damit ich euch sagen kann, wie sehr ich bedaure, dass wir nicht gemeinsam glücklich waren, und vielleicht auch, damit ihr mir verzeiht, dass ihr mir so missraten seid.“ Das Interessante an dem Buch ist, um das schon einmal vorneweg zu sagen, dass am Ende alles exakt auf diese Einleitung zurückfällt, ob beabsichtigt oder unfreiwillig.

Fournier versucht ganz offensichtlich, einen anderen Zugang zum Schreiben über seine behinderten Kinder zu bekommen, als üblicherweise erwartet. Seine Sätze möchten kein Mitleid, zynisch analysieren sie etwa den Umgang der Gesellschaft mit behinderten Kindern und deren Angehörigen: „Wer im Leben Pech gehabt hat, muss den Umständen entsprechend aussehen und ein betretenes Gesicht machen, das ist eine Frage des Anstands“, heißt es da etwa, oder: „Wer behinderte Kinder hat, muss sich obendrein noch allerhand dummes Zeug anhören.“

Lakonisch erzählt Fournier, aber fast ist es schon kein Erzählen, sondern ein Aufzählen, die kurzen Paragraphen fangen kleine Episoden ein, die für das Erleben des Vaters Fournier ebenso flüchtig wie unvergesslich sind. Zur Geburt bekam Sohn Thomas schöne Geschenke seines Patenonkels. „Als Thomas älter wurde und seine Behinderung zutage trat, bekam er nie wieder ein Geschenk von seinem Patenonkel.“ Fournier kann es dem Patenonkel nicht verübeln, schreibt er. „Er wird sich gedacht haben: ‚Die Natur hat ihm nichts geschenkt, warum sollte ich es also tun?'“ Kaum ein Satz in dem Buch, aus dem nicht dieser Zynismus tropft.

Natürlich kann das humorvoll sein, etwa wenn Fournier schreibt: „Mathieu sieht nie fern, ist auch nicht nötig, er hat’s auch so zum geistig Behinderten gebracht.“ Oder es kann, in typisch knapp formulierter Beobachtung, auch auf vieles mehr dahinter deuten: „Wenn ein Kind sich beim Essen mit Schokopudding beschmiert, lachen alle; wenn das Kind behindert ist, lacht keiner.“

Mich macht das das Buch aber auch ein bisschen traurig, nämlich an den Stellen, an denen die Kinder doch sehr herabgesetzt werden. Immer wieder heißt es zum Beispiel, sie hätten nur Stroh im Kopf. „Zwei verbeulte, sabbernde Knirpse, von denen der begabtere ständig wiederholt: ‚Wo fahren wir hin, Papa?'“ Das schießt teils über eine liebevolle Form des Zynismus hinaus. In vielen Schilderungen spiegelt sich wohl doch noch ein Rest dessen, was Fournier schon in der Einleitung schrieb: „Euch zu lieben war nicht leicht.“

Er schreibt: „Unser Familienalbum ist dünn wie eine Briefmarke. Wir haben nicht viele Fotos von den Kindern, weil es keinen Spaß macht, sie zu zeigen. Ein normales Kind fotografiert man bei jeder Gelegenheit, in jeder Haltung, aus jedem Winkel; man sieht, wie es seine erste Kerze ausbläst, die ersten Schritte macht, das erste Bad nimmt. Man betrachtet es voller Rührung. Verfolgt Schritt für Schritt seine Entwicklung. Den Verfall eines behinderten Kindes verfolgt man weniger gern.“

Das ist Fourniers bezeichnende Wahrnehmung: das Leben der Kinder als Verfall. Aus eben diesem Blickwinkel schreibt er in schon bald endlos erscheinenden Variationen all das auf, was er alles nicht mit seinen Kindern tun konnte (auf Berge steigen, Volleyball spielen, in Museen oder ins Kino gehen, Hochzeit feiern, Enkelkinder bekommen etc.) Immer wieder und wieder schleichen sich in den Zynismus diese larmoyanten Aufzählungen ein, was die Kinder alles nie konnten, welche Entwicklungen sie nie durchgemacht haben, was er nicht mit ihnen teilen konnte, und sei es auch als Positiv, als Aufzählung all dessen, was sie ihm erspart haben: er musste sich nie um Schulleistungen sorgen, um die berufliche Zukunft oder darum, dass sie eine blöde Schnepfe heiraten.

Irgendwann merkt man: Fournier denkt eigentlich nur an sich, und seine eigenen Erwartungshaltungen beäugt er nicht besonders selbstkritisch, erkennt sie letztlich nicht als falsch. Zynismus gegenüber dem eigenen Schicksal, Zynismus gegenüber der Gesellschaft und dem Leben in ihr mit behinderten Kindern, ja, aber darunter ist sein Schreiben leider überhaupt nicht so fundamental anders, im tieferen Grund ist es kaum mehr als die übliche, selbstmitleidige Jammerei eines Elternteils, das sich von seinen Kindern alles mögliche erhofft und nie bekommen hat. Gähn.

Kürzlich hat Jenny McCarthy in den USA einen Bestseller geschrieben: „Louder than words“, in dem sie von ihrem Leben mit ihrem autistischen Sohn berichtet. Das Buch kann man kaum lesen, so sehr trieft es vom Egoismus der Mutter, die partout ihre Erwartungen an ihr Kind erfüllt sehen möchte, und den Jungen darum von einer dubiosen Therapie zur nächsten zerrt. In dem Buch gibt es nur Jenny McCarthy, Jenny McCarthy und Jenny McCarthy. Von ihrem Sohn Evan hat man am Ende kein Bild, von seiner Persönlichkeit ahnt man nichts. So ist Fourniers Buch nicht, offensichtlich ist er viel klüger. Er beschreibt seine Kinder durchaus so, dass man das Gefühl hat, sie kennenzulernen. Er versucht sie auch nicht zu verändern. Aber er hat Schwierigkeiten, sie anzunehmen und so zu lieben, wie sie sind, das schreibt er und das merkt man auch. Mit ihnen zu leben kann er sich nicht vorstellen, sie lebten bald im Heim. Trotz allen schönen und auch lustigen Beobachtungen bleibt am Ende des Buches vor allem dieser Eindruck, der schon in der Einleitung vorkam: Fournier konnte mit seinen Kindern nicht glücklich sein.

Müssen die Kinder ihm, wie er in der Einleitung fragt, verzeihen, dass sie ihm so missraten sind? Vielleicht müssen sie ihm eher dafür verzeihen, dass er nicht sehen kann, dass sie nicht missraten sind. Auf Seite 6 heißt es: „Schon gut, ich höre auf zu jammern.“ Leider wird dieses Versprechen erst auf S. 156 eingelöst, mit dem Ende des Buches.

Ich frage mich, warum es Jenny McCarthy oder Jean-Louis Fournier so schwer fällt, über ihren eigenen Schatten zu springen. Auch wenn ich bei Fournier manches Mal gelacht habe, und gedacht: „Genau!“, und auch wenn ich manches ähnlich erlebt und empfunden habe wie Fournier, so kann ich mich mit seinem Buch grundsätzlich dann doch nicht identifizieren, ist doch etwas fundamental anders: ich hatte nie ein Problem damit, mein Kind so zu lieben, wie es ist. Diese Liebe ist mir nicht schwer gefallen, sondern sie war immer schon da, und wir sind gemeinsam glücklich. Der Ausgangspunkt ist zu anders, als dass ich dieses Buch rückhaltlos gut finden könnte.

Darum bei uns auch wahrlich kein Familienalbum dünn wie eine Briefmarke, und darum zu diesem Text mein aktuelles Lieblingsfoto, das so typisch ist für den Kandidaten, den wir hier am Start haben: wenn er nicht mehr laufen will, dann legt er sich halt auf die Straße, und horcht am Asphalt wie ein Indianer.

„Wir brauchten uns nicht den Kopf zu zerbrechen, was einmal aus euch werden würde, denn daran gab es schon bald keinen Zweifel mehr: nichts.“ So Fournier. Oder aber eben: alles. Das kann man so oder so sehen.

tddl 2009 [kloster chorin].

(Nachdem das Kloster Chorin in dem Videobeitrag von Karsten Krampitz so einen schönen Eindruck machte, haben wir am Sonntag gleich unsere Wissenslücke geschlossen und einen Ausflug dorthin gemacht. Es ist wie Irland direkt um die Ecke, es ist verwunschen und so schön, dass wir sicherlich noch oft hinfahren werden. Der Bachmann-Wettbewerb hat sich jetzt schon gelohnt.)

retrospektives tagebuchbloggen.

# Dem wahrlich lindgrenschen Urlaub auf einem schwedischen Bauernhof folgten arbeitsame Wochen in einem Luxushotel am Potsdamer Platz, wo ich zunächst eine Reisegruppe aus Texas betreute, deren Teilnehmer ihre Zeit bevorzugt damit verbrachten, rassistisch über Obama zu reden; ein Mann sagte, er würde noch nicht einmal den Namen des neuen Präsidenten in den Mund nehmen, und ich fragte mich die ganze Zeit, warum republikanische Texaner nach Deutschland reisen, wenn sie doch nur die ganze Zeit schlecht über Obama reden möchten, kann man das nicht Zuhause genauso gut, aber vielleicht braucht man dazu ein immer neues, am besten internationales Publikum, das Ganze war ein zwar schwer zu ertragender, aber dennoch lehrreicher reality check, ahnt man doch sonst immer nur diffus, dass es solche Menschen gibt, dann kamen allerdings noch Kommentare wie etwa, dass H*tler bis 1929 ein Held gewesen sei und dass die Amerikaner damals noch ein paar Wochen hätten dranhängen sollen, dann wären sie schon in Moskau gewesen und hätten die Russen gleich mitbesiegt, und mit fortschreitender Dauer der Betreuung wurde die Gruppe immer schwerer zu ertragen, schon bald ging mir der ganze Luxus im Hotel gleich mit auf den Geist, und als ich am Hospitality Desk in der Lobby plötzlich hörte, dass man Sufjan Stevens als Lobbymusik spielte, ausgerechnet diese Musik hier missbrauchte (wie es sich für mich akut anfühlte), sie einsetzte wie etwa die zentrale Leonardo-Duftverströmung über die Klimaanlagen, da drohte ich für einen Moment gänzlich zu verzweifeln und entfloh für ein paar Stunden in unsere Wohnung, deren überall von Johns dreckigen Fingern angetatzten Tapeten mir noch nie eine solche Wohltat gewesen sind wie bei dieser Heimkehr. Die nächste Gruppe kam zum Glück aus Berkeley und machte alles wieder wett, versöhnte mich wieder mit der Arbeit und auch mit dem Hotel, einigermaßen.

# [Sufjan Stevens ist deshalb so wichtig, weil er seit Schweden Johns unschlagbarer Lieblingsinterpret geworden ist, von allen Alben hört er, der kleine Chicagoer, ausgerechnet „Feel the Illinoise“ am liebsten, und wie er da jedes Mal versonnen und sich wiegend vor der Anlage steht, das ist ein Bild für die Götter | wie man so sagt.]

# Bei einem Mittagessen der ersten Gruppe gab es Hähnchenfleisch, darüber war einer der Texaner sehr empört. Er beschwerte sich bei der Reiseleiterin und kündigte an, sie fortan nur noch „Miss Chicken“ zu nennen (als ob die Reiseleiterin das Essen aussucht), was er dann auch tatsächlich den ganzen Nachmittag getan hat.

# Am Sonntag war ich im Privatclub in Kreuzberg, auf dem Konzert von Ursula Rucker, morgen gehen wir zu den Yeah Yeah Yeahs in die Columbiahalle, überhaupt gehen wir gefühlt nur noch aus, weil wir endlich die ganzen Geldvorräte aus den „zusätzlichen Betreuungsleistungen“ von 2008 wegschmelzen müssen, die kann man nur noch bis 1. Juni 2009 nutzen, dann fallen sie weg, das geht natürlich nicht.
(Deshalb diesen Monat auch noch auf dem Programm: Great Lake Swimmers, Art Brut und Masha Qrella.)
[Mit einem Mann, der immer noch nicht richtig deutsch spricht, scheiden Theater und Lesungen als Ausgehaktivitäten nach wie vor aus, bleiben Konzerte und Kino und Ausstellungen und Fußball; als Werder vor zwei Wochen im Olympiastadion spielte, waren wir natürlich wie jedes Jahr dabei.]

# Über den 1. Mai haben wir versucht, ob John vielleicht auch ohne sein Medikament auskommen kann, noch immer wäre es mir am liebsten, wenn er keine Psychopharmaka nehmen würde, aber schon nach einem halben Tag setzte die Aggression in der gleichen Stärke ein wie vor der Einführung des Dipiperon, er war nicht mehr zu bändigen, er bestand aus nichts mehr als aus Aggression, wir trugen viele Blessuren davon, John konnte sich auf gar nichts mehr konzentrieren, der 1. Mai war nichts als Krawall in unserem Haus, also nimmt er nun wieder sein Medikament und ist bestens zufrieden, damit ist diese Frage erstmal wieder geklärt, nein, es geht nicht ohne, vor allem für ihn selbst und seine Lebensqualität auch nicht.

# Durch Zufall habe ich vielleicht endlich ein passendes und erschwingliches Therapiefahrrad für John und uns gefunden, für übermorgen Abend habe ich mit dem jetzigen Besitzer eine Probefahrt vereinbart, es wäre fast zu schön um wahr zu sein, wenn das klappen würde (was vor allem auch davon abhängt, ob Aussicht besteht, dass John damit klarkommt).

# Leider kommt uns zum neuen Schuljahr unser Schulhelfer abhanden, da müssen wir nun einen neuen finden, eine Aufgabe, von der ich keine Ahnung habe, wie man sie bewältigen soll; Menschen zu finden, die mit John umgehen können, wird mit zunehmendem Alter immer schwerer.

# Morgen habe ich frei, da gehe ich zur Konferenz „Vereint für gemeinsame Bildung„, was mich jetzt schon wieder nicht erfreut, denn ich mag die ganze politische Arbeit eigentlich nicht (genau dieses eigentlich ist es, das bedeutet, dass man es trotzdem tut), all die Konferenzen, all die Treffen, all das Ehrenamt, das bringt eh alles nichts, aber wenn man gar nichts versucht, dann bringt es noch weniger als nichts, nämlich Rückschritte, das weiß man dann auch wiederum.

# Ich bin sehr into „24“, ist denn niemand sonst into „24“? Auch nach all den Staffeln und auch wenn es natürlich manchmal zweifelhaft ist, und sich mittlerweile oft ähnelt, die siebte Staffel ist trotzdem spannend; eigentlich müsste die Folge von gestern Abend schon online sein, gleich mal nachsehen.

# Donnerstag kommt die nächste Reisegruppe; Brown und ein paar kleinere, andere Universitäten, die okay sein dürften, hoffentlich.

der arbeitgeber.

Gestern kleiner Stand-off in der Badewanne, die der Kandidat auch nach einer halben Stunde baden immer noch nicht verlassen wollte. Ich erklärte ihm, dass das Baden nun beendet sei und ließ das Wasser aus. Der Kandidat machte allerdings keinerlei Anstalten, aus der Wanne zu klettern. Ich versuchte, ihm zu assistieren, konnte den nassen Aal allerdings nicht bewegen. So blieb er also in der leeren Wanne liegen. Um ihn herauszuheben, ist er schon zu schwer; ohne seine Kooperation geht nichts mehr, und wenn man die nicht bekommt, heißt die Devise: Warten. So hielt ich den Hebel des Wasserhahns verschlossen, und John versuchte, das Wasser wieder anzustellen, es gelang ihm aber nicht, mich zu überlisten. Ich erklärte wiederholt, dass eine halbe Stunde in der Wanne genug sei, dass seine Haut schon ganz schrumpelig und rot sei und dass er nun wirklich herauskommen müsste.

Letztlich eine wunderbar normale Situation, wie mit einem trotzenden Zweijährigen. Wir haben eine weitere halbe Stunde so verbracht: ich hielt den Hebel zu, und er versuchte, ihn zu öffnen. Ich war entschlossen, diese Grenze geduldig, aber bestimmt zu setzen, und tatsächlich stand er nach einer halben Stunde plötzlich auf, als sei nichts gewesen, kam über den Rand geklettert und griff nach seiner Zahnbürste, mit erwartungsvollem Blick Richtung Zahnpasta, als wolle er sagen: „Nach dem Baden Zähneputzen, right? Dann gib mir aber gefälligst auch die Zahnpasta und hilf mir schon endlich dabei.“ Er war bestens gelaunt, und was mich am allermeisten gefreut hat: dass er diese Situation überwunden hat, ohne auch nur ansatzweise aggressiv zu werden. Noch vor zwei Wochen hätte er bedingungslos gebissen, gekratzt und geschlagen, um seinen Willen durchzusetzen. Vielleicht ist er mit seinen acht Jahren nun wirklich in der Trotzphase angekommen, vielleicht ist das sein Entwicklungsstand, der bei einem kräftigen, nicht-sprechenden Achtjährigen einfach ungleich schwerer zu handhaben ist als bei einem neurotypischen Zweijährigen. Aber langsam kommt er aus der Krise heraus, jeden Tag geht es ein bisschen besser. Toi, toi, toi.

Er hätte es sicher leichter, wenn er sprechen könnte (wir nennen ihn übrigens „das nicht-sprechende zweisprachige Kind“, denn da wir Zuhause zu viel Englisch sprechen, versteht er das mittlerweile fast so gut wie Deutsch, außerdem war Englisch die ersten beiden Lebensjahre ja sowieso seine Muttersprache, das merkt man doch auch). Könnte er sprechen, müsste er Auseinandersetzungen nicht ausschließlich körperlich austragen. Manchmal fehlt einem die Sprache doch. Aber daran arbeiten die Therapeuten, und da fällt mir ein, was ich gestern gedacht habe: John ist ein hervorragender Arbeitgeber. Er beschäftigt seinen persönlichen Bodyguard im Schulbus, er beschäftigt einen Vollzeit-Helfer in der Schule, neben dem herkömmlichen Lehrpersonal, er beschäftigt zwei Einzelfallhelfer und mehrere Therapeuten (Ergo, Logo und unterstützte Kommunikation), und wo uns jetzt die „zusätzlichen Betreuungsleistungen“ der Pflegereform bewilligt wurden, wird er auch noch für 200 Euro im Monat eine zusätzliche Betreuungskraft beschäftigen. Welcher Achtjährige ist schon so ein umfangreicher Arbeitgeber? Der Kandidat als Arbeitgeber schnürt [wie man so sagt] sein eigenes Konjunkturpaket.

der kandidat. (von 2008 zu 2009)

Im Januar ist unser neu gegründeter Verein (mein erster Verein, was das überhaupt bedeuten mag), im Januar also ist unser Verein „Elternzentrum Berlin“ lokaler Filmpartner eines sehr guten Dokumentarfilms über Autismus: „Ihr Name ist Sabine.“ Ich habe ihn bei der Berlinale dieses Jahr schon gesehen und in meinem alten Weblog seinerzeit auch besprochen.

Am 11. Januar wird der Film im Rahmen des „überMacht“-Filmfestivals gezeigt, veranstaltet von der gesellschafter-Initiative der Aktion Mensch. Das Filmfestival findet vom 9.-21. Januar in Berlin statt, ist allerdings ein bundesweites Festival und 2009 zu anderen Zeiten in vielen anderen Städten zu sehen, siehe Programm. Das Berliner Programm ist hier zu sehen, am 11. Januar ab 18:30 Uhr im Zeughauskino also der Autismusfilm „Ihr Name ist Sabine“ mit anschließender Podiumsdiskussion. Als „regionale Filmpartner“ dürfen wir vor allen Filmen des Festivals einen Informationsstand im Foyer betreiben, und bei der zentralen Auftaktveranstaltung am 16. Januar im Kino International einen Trailer zeigen. Den haben wir schon fertiggestellt, John ist darauf manchmal auch zu sehen, siehe Trailer.

Ob dieses ganze Engagement überhaupt etwas bringt, ist weiter dahingestellt. Zweimal haben wir uns im neuen Schuljahr bereits mit den Senatsvertretern getroffen, im Oktober und im Dezember, aber es ist eine mühsame Angelegenheit. Ein zweites Mal nach der Intervention im Frühjahr 2008 hat unser Protest allerdings dazu beigetragen, dass der Berliner Senat die Schulhelfer unserer Kinder nicht abschafft, vergleiche taz vom September mit taz vom Dezember. Was nach den nächsten Sommerferien ist, weiß niemand. Das Ringen, das im Januar 2008 begann, wird offensichtlich von Halbjahr zu Halbjahr neu ausgefochten, gesucht wird der längere Atem. Wenn der Senat sich da aber mal nicht täuscht, denn wenn Eltern schwerbehinderter Kinder sich auch nur irgendetwas haben aneignen müssen, dann genau das. Denn der lange Atem ist der kleine Bruder der Geduld.

Was nicht heißt, dass ich nicht trotzdem meine Zweifel habe. Johns Krise, die sich in unglaublichen Aggressionen manifestiert, verschiebt den Fokus. Durch seine Größe und Kraft kann John sich selbst und andere nun ernsthaft verletzen, und in den Momenten des Ausrastens hat er keinerlei Kontrolle über sich. Er hat Kinder in der Schule und im Schulbus angegriffen, besonders der Angriff im Schulbus war schlimm. Nun darf er nur noch mit Begleitperson im Bus mitfahren. Eine Zeitlang, als Arzt und Jugendamt den entsprechenden Antrag bearbeiteten, brachte ich ihn selbst zur Schule, immer mit der Angst, dass er mich auf der Fahrt im Auto attackieren würde. Zum Glück hat das Jugendamt den Antrag schnell bearbeitet und die Notwendigkeit einer Begleitperson anerkannt (wenn sie wirklich gebraucht werden, sind sie manchmal ja auch wirklich da, die Behörden), also kann John wieder mit dem Bus fahren. Das Busunternehmen musste seinen ganzen Fahrplan deshalb umstellen, aber wir sind wohl über den Punkt hinweg, dass einem jede Unannehmlichkeit peinlich ist, die man anderen verursacht.

Meine eigenen Arme sind von blauen Flecken und Kratzern übersät, gestern beobachtete ich im Supermarkt, wie eine Frau, die hinter mir an der Kasse stand, entsetzt auf meine Hand und meinen Unterarm starrte, als ich bezahlte und die Winterjacke dabei etwas hochrutschte. Ich fühlte mich gleich so, als müsse ich mich rechtfertigen. Was die Leute wohl denken, was das ist? Ich hätte eine Vene für Drogen gesucht, ich würde mich selbst verstümmeln? Ich wollte schon fast zu der Frau sagen: „Das war mein Sohn“, da fiel mir auf, dass diese Erklärung die Situation nicht gerade klären würde, also sagte ich einfach nichts. Man unterliegt sowieso sehr leicht einem Rechtfertigungszwang, man wird da irgendwie hineingebracht, und findet dann schlecht einen Ausweg, das wächst sich aus, bis man irgendwann nur noch und viel zu defensiv mit anderen Menschen umgeht.

Den einen Einzelfallhelfer hat John blutig gebissen, die beiden steckten an der Ecke Danziger Straße und Prenzlauer Allee fest, ich musste sie von dort mit dem Auto abholen. Die andere Einzelfallhelferin traut sich kaum noch, mit ihm alleine zu sein. Wer würde es ihr verdenken, ich traue mich ja selbst kaum noch, mit ihm alleine zu sein. Heute sind wir erstmals seit langer Zeit wieder alleine rausgegangen, John und ich, weil die letzten Tage Zuhause ganz okay waren, also wollte ich mit ihm nur kurz um die Ecke zur Stadtbibliothek, ein paar Bücher, Filme und CD’s zurückbringen. In der Schlange vor uns nur drei Leute, erleichtert dachte ich, das sei ja nun zu schaffen, aber dann ist John doch ausgeflippt, gerade als wir dran waren, riss heftigst in meinen Haaren und biss mich dabei in den Arm, bis es blutete. Wir hatten die Aufmerksamkeit aller anwesenden Bibliotheksbesucher, und das waren nicht wenige, alle starrten uns vollkommen entsetzt an. Hilfe angeboten hat natürlich keiner, aber andererseits: was sollen sie auch tun? Es ist nicht ihre Schuld, und sie kennen sowas nicht, sie wissen damit nicht umzugehen, man ist manchmal fälschlicherweise wütend auf die Leute um einen herum, das ist die nächste ungeeignete Reaktion neben dem Rechtfertigungszwang.

Nach unserer kostenlosen Darbietung einer Jahresendfreakshow in der Stadtbibliothek gingen wir wieder Nachhause, wo John schlagartig bestens gelaunt war. Am liebsten ist er Zuhause, aber wir können doch nicht ständig nichts tun. Der Übergang zurück in die Schule am nächsten Montag wird wahrscheinlich wieder ein Spaß, dann dauert es wieder zwei kämpferische Wochen, bis John sich eingewöhnt hat und die Schule akzeptiert, und dann sind in der ersten Februarwoche natürlich gleich schon wieder für eine Woche Ferien, nach denen das Spiel dann wieder von vorne beginnen kann. Die Schulferien sind für Kinder wie John eigentlich nicht gut, denn er wird ständig aus seiner Routine gerissen, und das verursacht so viele, gravierende Probleme. Am besten wäre, er hätte nur in den Sommerferien mal drei Wochen frei, und dann über die Feiertage im Dezember, aber dazu müsste viel mehr Personal eingestellt werden, und da sind wir wieder bei den Problemen der Behindertenbetreuung, an der die Politik so gerne spart.

Seit vielen Wochen versuchen wir nun schon, gemeinsam mit den Ärzten, Therapeuten und allen in die Pflege involvierten Personen, die Krise in den Griff zu bekommen, ohne Erfolg. Die Umstellung von Risperdal auf Dipiperon hat anfangs gut gewirkt, dann nicht mehr. Die Frage ist, ob man nun einen Schritt weiter geht, zum Beispiel Zyprexa probiert, die fast einzig gebliebene Alternative, aber dass man da in ein Wespennest sticht, ist einem schon vorher klar. Eine sehr gute Zusammenfassung zu den Zyprexa-Entwicklungen gibt es bei der Stationären Aufnahme. Es gab auch mal einen Bericht bei Frontal21. Mir ist das alles nicht recht, ich möchte eigentlich (gibt es nicht noch eine Steigerung des Kursivierens, ich brauche langsam umständehalber ein ultrakursiv), ich möchte also eigentlich überhaupt keine Psychopharmaka, ich möchte, dass mein Kind allein durch die Liebe seiner ihn umgebenden Menschen durch die Krise kommt, wie naiv ist das denn. Ich fühle mich, als müsste ich mich für die Medikamente rechtfertigen, da ist er wieder, der Rechtfertigungsszwang, der letztlich wohl nur durch die Diskrepanz entsteht zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.

Im Supermarkt auch noch ein Gespräch gehört zwischen zwei Männern, die sich dort anscheinend zufällig trafen. Der eine sagte zum andern: „Meine Frau ist ja an einer Schule für geistig Behinderte. Also, wir mussten gerade mit unserer Kleinen zum Sozialpädiatrischen Zentrum, sie ist ja ein Frühchen, aber alles okay, mussten da nur die Augen überprüfen lassen, da trafen wir ein Mädchen, das meine Frau morgens noch in der Schule gesehen hatte, das Mädchen hat eine Epilepsie mit geistiger Behinderung, sie wirft sich immer selbst auf den Boden, ganz schlimm ist das, und diese Kandidaten gehen ja auch alle zum SPZ, solche Kinder sieht man dann da.“ Sein Gegenüber erwiderte: „Ja, da kann man immer nur froh sein, wenn man von sowas verschont bleibt.“ Letzterer Satz drückt wahrscheinlich ziemlich gut aus, warum wir durch Johns Krise in der Öffentlichkeit immer isolierter sind. Froh zu sein, verschont zu bleiben, lässt sich vielleicht am besten verwirklichen, wenn man damit möglichst erst gar nichts zu tun hat. Das Gespräch der beiden war aber gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Mir gefiel besonders der Begriff „diese Kandidaten.“ John, der Kandidat. Das ist er, wahrlich. Schläft gerade schon, der Kandidat, wird aber in einer Viertelstunde sicher vom Geböller wach.

Auf ein besseres two-thousand-and-nine: two-thousand-divine.

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