journal.

Während ich noch immer um die explosive Selbstzerstörung und krasse Selbstdarstellung in Knausis Band 4 herumtapse, google ich natürlich ständig, was es so Neues über ihn gibt – oder Altes, das ich noch nicht gesehen oder gelesen habe. Dabei bin ich auf dieses Interview mit Siri Hustvedt gestoßen. [#]

~

„Leben“ von Karl Ove Knausgård [#]

Karl Ove Knausgaard at the Edinburgh International Book Festival [#]

Homestory [#]

(Seine Frau Linda und er haben ein viertes Kind bekommen, das war mir bis vor kurzem entgangen.)

~

Nächste Obsession: Qualität der Versorgung in der Psychiatrie.
(In der John hoffentlich nie landen wird, aber das weiß man bei einem schwer betroffenen Autisten eben nie, daher bin ich im Gemeinsamen Bundesausschuss nun auch in einer neuen Arbeitsgruppe zum Thema. Die Vorbereitung, also detailliertere Einsicht in die Dinge, macht alles nur noch schlimmer.)

„Psychiatry’s dirty secret is that if you had a severe mental illness requiring hospital care in 1900, you’d be better looked after than you are today. Despite a flurry of media hand-waving about new technologies in psychiatry, the average hospital patient probably does less well now, despite the new drugs, than the average hospital patient a century ago.“ [#]

~

Kelli Stapleton hat letztes Jahr versucht, ihre autistische Tochter umzubringen. Die Berichterstattung in den Medien war damals schon schlecht und sorgte für viele verärgerte Blogposts in der autism community, aber dieser Artikel setzt dem Ganzen die Krone auf: „County Jail Has Been Better Than the ‚Jail of Autism‘.“
Was das wieder für eine Rhetorik ist. [#]

(Es ist absolut lächerlich, das überhaupt sagen zu müssen: Wenn ein Erwachsener ein Kind tötet oder zu töten versucht, dann ist der oder die Erwachsene nicht das Opfer.)

~

Sonst keine News. Möchte immer noch nach Afrika ziehen.
(Not gonna happen.)

t4.

Wir sind froh, dass die Bushaltestelle und Wendeschleife in der Tiergartenstraße 4 endlich durch eine Gedenkstätte an die Euthanasie-Opfer ersetzt wurde. 2008 war kurz die temporäre Ausstellung der Grauen Busse dort, das hatte gut getan, nun hat es noch einmal sechs Jahre gedauert. Wenn man sich das überlegt, bald 70 Jahre später.

T4 Gedenken

Aber immerhin, jetzt sind wir froh. Und viele andere auch, wie wir bei unserem Besuch gemerkt haben: Es waren viele Menschen dort, auch mit verschiedenen Behinderungen, und es war, wenn man an einem solchen Ort davon sprechen kann, eine angenehme Atmosphäre. John war laut und wälzte sich auf dem Rasen, aber keiner hat gestarrt, Menschen haben uns angelächelt. Es hat mich ein bisschen daran erinnert, wie ich einmal mit John auf einer Reha-Messe war, auf der fast nur Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen waren. Große Hallen, viele Menschen, und doch waren wir ein Teil des Ganzen und stachen nicht permanent heraus, wurden nicht kritisch angestarrt. Dieses Gefühl, „Teil des Ganzen“ zu sein, das kennen wir sonst leider eben nicht.

An der T4-Gedenkstätte war es auch so, da standen wir unter vielen Menschen auch endlich mal nicht zur Disposition der kritischen Betrachtung. Das ist einerseits traurig, denn es wäre schön, wenn wir nicht auf eine Reha-Messe oder zu einer Euthanasie-Gedenkstätte gehen müssten, um nicht angestarrt zu werden, andererseits ist es aber auch ein beruhigendes Gefühl, dass wir heute ausgerechnet an der Tiergartenstraße 4 eine Art Refugium haben. Wenn das diejenigen wüssten, die vor 70 Jahren dort die Vernichtung organisiert haben.

Dass die Ressentiments der älteren Generation teilweise durchaus noch vorhanden sind, sah man in der Reportage Die vergessenen Kinder von Leipzig, die heute im rbb lief. Da spricht eine 93-jährige Frau noch heute von Material, wenn sie die Kinder meint, die in die Klinik geliefert wurden. Das ist ein erschreckendes Interview. Das Thema der Euthanasie findet in letzter Zeit aber mehr öffentliche Anerkennung, habe ich das Gefühl. Zuletzt ja auch in einer Ausstellung in der Topographie des Terrors: Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus. Ich bin schon gespannt auf das Gedenkbuch über Pirna-Sonnenstein. Es tut sich was, und das tut gut.

die axt für das gefrorene meer in uns. [a propos überdosis weltgeschehen]

In der Reihe „World’s Untold Stories“ zeigt CNN im Moment einen schwer anzusehenden Dreiteiler: Locked Up and Forgotten über geistig behinderte Menschen in Kenia. [#]

Gleichzeitig kommt immer mehr darüber heraus, wie in den USA noch bis vor 40 Jahren an Behinderten und Gefangenen medizinisch experimentiert wurde:
Past medical testing on humans revealed

Die LA Times berichtet über die Ausbeutung von Behinderten in China:
China’s disabled exploited as slaves

In Großbritannien und in Deutschland werden die Leistungen für Behinderte gekürzt, die Hartz IV-Reform sieht vor, dass erwachsenen Behinderten, die Zuhause leben, 20% ihrer Leistungen gekürzt werden. Die SPD behauptete zwar mal herum, diesbezüglich gäbe es mit ihr keine Einigung, letztlich hat Frau Schwesig es dann aber doch mitgetragen, das nehme ich ihr sehr, sehr übel. [#]

Wegen der Afrika-Doku bin ich gleich in die Bibliothek und habe mir aus der Geschichte der Empfindlichkeit von Hubert Fichte Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika ausgeliehen. Darin der so richtige Satz: „Jeder Krankheitsfall ist die Begegnung zweier geschichtlicher Abläufe: der Geschichte der Persönlichkeit und der Geschichte der Gesellschaft, in der die betreffende Person lebt.“

Weil das alles eh schon so unfassbar schlimm war, habe ich dann auch noch gleich gelesen: Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen ‚Euthanasie’, ein umfangreicher Einblick in die Funktionsweise und Durchführung der Aktion T4. Darin erwähnt: Kafkas Diktum der Bücher, die die Axt für das gefrorene Meer in uns sind, aber was man dann macht, wenn die Axt in Büchern, Artikeln und Dokumentationen das Eis zerhackt, da bin ich auch ratlos.

cultivation of the inner eye.

Gelesen: Disability history. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Wieder einmal dieses Gefühl, wie schade es ist, dass ein wirklich interessantes Thema so schwer zu lesen ist und der nagende Gedanke, es müsse doch anders gehen, nur wie? Bei meinem Autismus-Buchprojekt stoße ich auch immer wieder gegen diese Wand, es muss anders gehen, nur wie.

#

Zwölf Leute im Warteraum der Ausländerbehörde, drei iPads.

#

Band of Horses Konzert im Astra. Das Krasse ist der Übergang zwischen der Pflegesituation, einem großen neurologischen Sturm, der einige neue Kratzwunden an den Händen mit sich brachte, und eine Stunde später mit einem Bier in der Hand zwischen lauter Menschen, die so weit von der Situation Zuhause entfernt sind, dass man diesen Unterschied emotional fast nicht verarbeiten kann. Aber wenn die Musik anfängt, ist das Problem behoben, fast ist man wieder das Paar, das sich so viele Nächte auf dem Balkon des Metro Clubs um die Ohren schlug.

#

Was ist Pflege? Aus irgendeinem Grund beschäftigt mich diese Frage in letzter Zeit, vielleicht, weil man im Anflug der Pflege-Reform so viel darüber hört und liest, selten wird aber darüber gesprochen, was genau Pflege für die Pflegenden bedeutet, welche Erfahrungen sie durch das täglich gelebte Handeln machen, wie die Pflege sie prägt, ihre Perspektive auf das Leben, oder auch ihre Beziehung zur Gesellschaft.

Pflege als Dienstleistung, „Hilfen zur Erhaltung, Anpassung oder Wiederherstellung der physischen, psychischen und sozialen Funktionen und Aktivitäten des Lebens“, wie es beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe DBfK beschrieben wird, das ist für Zuhause Pflegende, für Angehörige nur ein Teil des Ganzen. Von ganz grundsätzlichen Dingen wie füttern, wickeln, baden, anziehen oder auch Diagnostik und Therapien, über das unablässige Beobachten des körperlichen und seelischen Zustandes und adäquates Reagieren darauf, bis hin zu zahlreichen Verwaltungsaufgaben lässt sich vieles recht einfach zusammentragen, aber damit hat man noch keine Erkenntnisse über Sinnfindung und Sinnstiftung gewonnen, die doch so wichtig sind in der Pflege.

Was ist Pflege also? Grundsätzlich ist ziemlich klar, dass Pflege für Angehörige ein Akt moralischer Solidarität, ein Akt der Liebe ist. Pflege heißt, dass man sich einer Verantwortung bewusst ist, diese annimmt und ausfüllt: ein abstraktes Wertebewusstsein wird in die Tat umgesetzt und gelebt. (Vorsicht Pathos:) Dies kann zum Kern der Erfahrung dessen führen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Ausgehend von der Idee, dass wir nicht als volle Menschen geboren werden, sondern erst zu solchen werden durch das Kultivieren unseres Selbst und unserer Beziehungen zu anderen Menschen, kann man sich denken, dass in der Pflege große Möglichkeiten eines solchen menschlichen Wachstums liegen.

Klingt sehr moralin, sentimental und utopisch, erst recht, wenn man nur zu genau weiß, wie schwer die Dauerhaftigkeit der Pflege ist, Tag für Tag und Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Die ganze vereinnahmte Zeit und Energie, das Zurückstellen eigener Interessen, das Kräftezehrende, der finanzielle Abstieg, die Rückschläge, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die unumgängliche Strapazierung der Beziehung der Pflegenden untereinander, die permanente Unsicherheit und Unberechenbarkeit, das veränderte Zeitempfinden, weil man nur noch von einem Tag zum nächsten leben kann, der Druck der Verantwortung, die man niemals wirklich abgibt, nur temporär an andere Hilfskräfte überträgt, aber dennoch auch in dieser Zeit die ganze Zeit spürt, die Ohnmacht.

Dennoch pflegt man, und pflegt gerne, und erfährt in all der Schwere einen Sinn, sogar eine Bereicherung. Die Erfahrung der Empathie, die kleinen Erfolge und das Glück der schönen Momente, Dankbarkeit, Gemeinsamkeit, auch diese Aspekte gehören dazu, und vielleicht am Erstaunlichsten: obwohl man so sehr eingebunden und daher eigentlich sehr fremdbestimmt ist, ausgerechnet auch ein großes Gefühl der Freiheit.

Ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu sein, leben die meisten Menschen mit der Einstellung, ihr Leben unter Kontrolle zu haben, Sicherheit und Selbstbestimmung sind wichtig. Nicht wenige gesellschaftliche und politische Initiativen haben ihre Ursache im Streben danach, diese Selbstbestimmung, Sicherheit und Kontrolle zu stabilisieren und auszubauen. Je mehr die Gesellschaft nach diesen Idealen strebt, umso mehr Verlustängste entwickelt sie, es folgen umso mehr Besitzstandwahrung und Kontrollwahn.

Die Perspektive der Pflege ist diametral entgegengesetzt. Wir haben vor langem den Punkt überschritten, uns in Kontrolle des Lebens zu wägen. Wir haben keine Kontrolle. Mit zunehmender Pflege-Erfahrung wird mir immer deutlicher, dass Kontrolle und Sicherheit im menschlichen Leben nie mehr als eine Illusion sein können, und die Gesellschaft, die dieser Illusion immer mehr hinterher hetzt, kommt mir immer unfreier vor. Dagegen haben wir in den letzten zehn Jahren gelernt, dass wir ohne Kontrolle und Sicherheit und mit eingeschränkter Selbstbestimmung leben können, und sogar gut leben können, und dieses Gefühl ist tatsächlich befreiend.

#

Ein sehr gutes Interview: Martha Nussbaum on 21st Century Enlightenment
[via]

dilemma.

„Psychopharmacology: hit or miss, hard to tune, ripe with side effects, symptom-masking, and once begun, difficult to tail off of. Medicine’s next generation would surely remember Weber’s as sadly as Weber remembered his father’s. The general level of barbarism receded, but never as quickly or completely as thought. Or maybe he was the last barbarian. Months of unnecessary suffering, because of Weber’s eyes-averted Puritanism.“

(Richard Powers: The Echo Maker. In den Roman ist das Thema Hirnforschung auf vielen Ebenen eingewoben: die verschiedenen Dimensionen und Implikationen bis tief in die Gesellschaft auf der ethischen Ebene einerseits, und bis tief in die Familien auf der persönlichen Ebene andererseits. Sehr empfehlenswerte Lektüre.)

euthanasia blues.

„So when they say you’re better off dead/
But they say it’s your right to choose/
You’re gonna be just another statistic of/
The Euthanasia Blues.“ [#]

biopolitik.

NPR versucht anhand eines Fotos die Lobbyisten zu identifizieren, die in Washington für Obamas Reform des Gesundheitssystems um die Durchsetzung ihrer Interessen buhlen. Laut NPR ist ein Sechstel der Wirtschaft von der Reform betroffen.

Derweil kann man bei USA Today die finanziellen Verbindungen von medizinischen Experten zur Pharmaindustrie nachlesen: „Conflicts of interest bedevil psychiatric drug research.“ Es geht um die Neuauflage des „Diagnostischen und Statistischen Handbuchs Psychischer Störungen“ (DSM-5), die 2012 erscheinen soll [verschoben auf Mai 2013]. Daran arbeiten 160 Experten, von denen 68% wirtschaftliche Verbindungen zu Medikamentenherstellern eingeräumt haben. Die Kardinalsfrage ist, ob jemand unabhängig Krankheitsbilder neu definieren kann, wenn er viel Geld von der Pharmaindustrie einnimmt.

Die Debatte hat eine enorme Brisanz, und zwar auch für Deutschland. Mir ist unbegreiflich, dass man sich hier in der Öffentlichkeit so wenig dafür interessiert. Auch hier gelten die Diagnosestandards des DSM (oder des komplementären ICD der Weltgesundheitsorganisation), also werden die Veränderungen des DSM auch für unser Gesundheitssystem potentiell enorme Folgen haben. Was gilt als Krankheit? Immer mehr Erscheinungbilder werden aufgenommen, was nicht zuletzt der Pharmaindustrie zuträglich ist, denn mit zunehmender Pathologisierung können sie immer mehr Psychopharmaka verkaufen. Letztes Jahr betrug der Umsatz von antipsychotischen Medikamenten in den USA $14,6 Milliarden, sie führten damit die Liste der verkauften Medikamente an. Antidepressiva brachten es auf immerhin $9,6 Milliarden. Auch in Deutschland ist dies ein Riesengeschäft, und auch in Deutschland gibt es immer mehr Therapeuten und Gesundheitsexperten.

Seitdem die Mitarbeiter an der Neuauflage des DSM ihre Verbindungen zur Industrie transparent machen müssen, lassen sich so einige „medizinische“ Entwicklungen von einer ganz neuen Warte aus betrachten, nämlich als finanziell motiviert und als anschließend kulturell ausgeformt. Dazu später mehr, zunächst zurück zur Neuauflage des DSM.

Schon letztes Jahr hat es erste Debatten gegeben, ich hatte darauf auch schon einmal hingewiesen. In den USA ist nun ein noch heftigerer Streit entbrannt: „A Warning Sign on the Road to DSM-V: Beware of Its Unintended Consequences.“ Dr. Allen Frances fällt darin ein vernichtendes Urteil: „I believe that the work on DSM-V has displayed the most unhappy combination of soaring ambition and weak methodology.“ Die Verteidigung der „American Psychiatric Association“ erfolgte sofort. Sie wirft den Kritikern wiederum selbst finanzielle Interessen vor, da diese als Mitverfasser des DSM-IV noch Tantiemen verdienen, die mit der Neuauflage auslaufen. Danach eilte Dr. Spitzer zur Verteidigung von Dr. Frances: „APA and DSM-V: Empty Promises.“

Finanzielle Interessen allerorten also, aber was heißt das nun konkret für den Patienten? Betrifft uns das alles überhaupt? Ja, denn die Veränderungen in den Diagnosekriterien haben unumgängliche kulturanthropologische Folgen. Im Fall von Autismus zum Beispiel kann man leicht nachweisen, wie sehr die Veränderungen der Diagnosekriterien bei den jeweiligen Neuauflagen des DSM die Diagnosezahlen, und damit auch Behandlungen von und Sichtweisen über Autismus, beeinflusst haben.

Zwischen der Ausgabe DSM-III im Jahr 1980 und DSM-III-R im Jahr 1987 wurden die Bewertungskriterien derart unkonkreter, dass bei einer Testgruppe von 194 Kindern 51% nach DSM-III dem autistischen Spektrum zugeordnet wurden, nach DSM-III-R beurteilt stieg die Zahl bei denselben Kindern von 51% auf 91% an. Dabei muss man noch im Auge behalten, dass in der Ausgabe DSM-III-R aus dem Jahr 1987 das Asperger-Syndrom noch gar nicht zum Spektrum gehörte, es wurde erst 1994 im DSM-IV hinzugefügt.

Ähnliche Zahlen wie in den Testgruppen der USA stellten Kusch und Petermann 1991 auch für die Bundesrepublik Deutschland fest: nach DSM-III gab es demnach 2.200 Autisten unter 18 Jahren, nach DSM-III-R 20.000. Im Jahr 2000 verglichen drei Forscher in Finnland die Diagnosekriterien von Kanner aus dem Jahr 1943 mit den Diagnosekriterien des ICD-10 (dem Handbuch der Weltgesundheitsorganisation, das dem DSM-IV gleichwertig ist). Bei der Kanner-Statistik kamen sie auf 5,6 Autismusdiagnosen pro 10.000 Menschen, bei der ICD-10-Statistik auf 12,2 pro 10.000.  An allen Tests ist unschwer zu erkennen, wie stark die Prävalenz von der Definition abhängt.

Mit Einführung des DSM-IV im Jahr 1994 hatte man angeblich das Spektrum der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wieder näher eingrenzen wollen. Die Kriterien für die Autismusdiagnose wurden 1994 also spezifischer als im DSM-III-R von 1987, allerdings waren sie nach wie vor weniger spezifisch als im DSM-III von 1980. Zudem fügte man das Asperger-Syndrom hinzu, sowie auch den atypischen Autismus, dessen Definition so offen ist, dass er einer Vielzahl von Grenzdiagnosen Tür und Tor öffnete. Zu guter Letzt unterlief den Autoren dann noch ein Fehler in der Korrektur der Manuskriptfahnen: aus „Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und der verbalen/ nonverbalen Kommunikation“ wurde „Beeinträchtigung der sozialen Interaktion oder der verbalen/ nonverbalen Kommunikation oder stereotypische Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten.“ Die angebliche Absicht der Autoren war es gewesen, dass Autismus nur dann vorliegt, wenn eine Beeinträchtigung in mehr als einem Bereich vorliegt, stattdessen reichte nach der gedruckten Ausgabe nun eine Beeinträchtigung in einem einzigen Bereich für eine Autismusdiagnose aus. Das gesetzte Ziel einer näheren Eingrenzung wurde durch die verschiedenen, gerade beschriebenen Faktoren torpediert und das Gegenteil trat ein. Ich bin schon so paranoid, dass ich mich frage, ob der Fehler in den Manuskriptfahnen wirklich ein Fehler war, oder am Ende nicht doch beabsichtigt. Aber alleine mit der Aufnahme des atypischen Autismus hatte man wahrscheinlich schon genug getan, um Diagnosen auszuweiten.

Tatsache ist, dass die Autismus-Diagnosezahlen enorm ansteigen, obwohl es keine wissenschaftliche Erklärung für eine solche Zunahme gibt. Mit ansteigenden Zahlen öffnet sich natürlich auch ein Markt, der Bedarf nach Therapeuten und Experten steigt, es werden den Diagnostizierten immer mehr Medikamente verabreicht und immer neue Therapie-Ideen offeriert. Auch wenn mein eigenes Kind ein ganz klassischer Fall ist, der noch unter den strengsten Kriterien diagnostiziert werden würde, fühle ich mich diesem Sog ausgeliefert. Manchmal möchte ich nichts mehr hören über Therapien und immer neue Experten. Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden mit meinem Kind, aber durch die Diagnose entstehen natürlich foucault’sche biopolitische Mechanismen, denen man kaum entkommen kann.

Zunächst werden Strukturen geschaffen (DSM), die einen Markt eröffnen (für Ärzte, Therapeuten, die Pharmaindustrie), die dann im gemeinsamen Wechselspiel den Markt immer mehr ausweiten: DSM-Neuauflagen treiben die Pathologisierung voran, begleitend dazu wird mit Epidemisierungsdebatten ein dringlicher Handlungsbedarf suggeriert, woraufhin die Experten schon ihre neuesten Behandlungsideen aus der Tasche zücken können usw. Im Verlauf der kulturellen Einprägung dieser Biopolitik wird der entstehende Sog für jeden einzelnen immer stärker.

Als einzig hilfreich habe ich es bisher empfunden, diesen Mechnismen wenigstens auf den Grund zu gehen und nachzuvollziehen, wie sie entstehen. Auch aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit muss man sich herauszuschälen versuchen. Dank Internet und zunehmenden Transparenzvorgaben kann man das heute wenigstens ansatzweise tun. Die Diskussionen um die Neuauflage des DSM werfen den Schatten dessen voraus, was in biopolitischer Hinsicht auf uns zukommen wird.

that they were careful to assure us that the drone was unarmed gives us a clear indication of the road we’re headed down.

Bei radio eins bestreitet Martina Krogmann, Verhandlungsführerin der CDU/CSU Bundestagsfraktion in Sachen Internetsperre, dass das geplante Gesetz in irgendeiner Form Folgen für andere Bereiche haben wird. Komisch, denn Frau Zypries von der SPD hatte dies kürzlich noch recht freimütig zugegeben: „Angesichts der ‚zahlreichen Verletzungen des geistigen Eigentums im Internet‘ fragte sich die Ministerin auch, ob beispielsweise eine stärkere Regulierung des Netzes erforderlich ist. So werde es die Politik sicher ‚die nächsten Jahre beschäftigen‘, was aus den geplanten Sperren kinderpornographischer Seiten ‚folgen wird‘, schloss sie eine Ausweitung auf illegale Angebote geschützter Werke zumindest nicht komplett aus.“
#
Dazu Felix: Das Internet darf kein bürgerrechtsfreier Raum werden
#
Die Worte von „The coming insurrection“ scheinen ein düsterer Wegweiser: „As an attempted solution, the pressure to ensure that nothing happens, together with police surveillance of the territory, will only intensify. The unmanned drone that flew over Seine-Saint-Denis last July 14th – as the police later confirmed – presents a much more vivid image of the future than all the fuzzy humanistic projections. That they were careful to assure us that the drone was unarmed gives us a clear indication of the road we’re headed down.
#
Während Banken und Opel gerettet werden und das zweite Konjunkturpaket eine Investition in Bildung /sein soll/ hat man in Berlin beschlossen, bei der Bildung weiter zu sparen und gesundheitlich elementare Bildungskomponenten schwerst-mehrfachbehinderter Kinder zu streichen: Pankow will an Sonderschulen Therapeutenstellen sparen. Jetzt protestieren die Eltern.
#
Der Artikel im „Tagesspiegel“ gibt die Situation leider sogar nur ungenügend wieder. Es gibt viele Gründe, weshalb es schwierig ist, freie Praxen in die Schule einzugliedern, und genau darum wurde eigentlich in einem langen Verhandlungsprozess ermittelt, dass die Therapeuten der Gesundheitsämter an den Schulen bleiben sollen und müssen. Der Pankower Amtsarzt Dr. Peters kennt die Hintergründe anscheinend nicht, und meint darum, man könne diese Therapeuten auch einfach entlassen und stattdessen auf die Einbindung freier Praxen setzen. Die diversen Gründe, warum das keine gute Idee ist, hatte ich schon einmal im Posting unserer Resolution aufgeschrieben. Alleine die alle 10 Wochen neu benötigten Verordnungen von Eltern regelmäßig zu bekommen, kann in vielen Fällen problematisch sein – und sobald die Verordnungen nicht regelmäßig vorliegen, wird das Kind nicht adäquat gefördert. Besonders für Kinder im Rollstuhl kann das schwere gesundheitliche Folgen haben.
#
Was man auch dringend erwähnen muss: hätte die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung (SPD) ihre Verantwortung getragen und die Versorgung übernommen, gäbe es das ganze Problem nicht. Erst durch das Abwälzen der Verantwortung auf die Bezirke ist das Problem entstanden. Das Schulhelfer-Problem hat die Senatsverwaltung auch von der ehemals zentralen Bearbeitung auf die Bezirke abgewälzt. Soweit zur immergleichen Strategie, ungeliebte Kürzungen und Streichungen einfach outzusourcen.
#
Schön ja auch der Satz der Schulstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz (SPD): „‚Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Bürger Einsparungen unvermeidlicherweise spüren, so die Stadträtin.“ Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: während man – ebenfalls in Pankow – einer Sonderschule die versprochenen Räumlichkeiten entzieht, zugunsten der neuen Sekundarschule, und während es durchaus allerlei Gewinner der Konkjunkturpakete, Abwrackprämien und Rettungsfonds gibt, sind in den Augen der SPD die schwerst-mehrfachbehinderten Kinder gerechterweise die ersten, die demütiges Verständnis für Einsparungen auf ihre Kosten demonstrieren sollen.
#
Die ethische Diskussion der Pränataldiagnostik erreicht eine neue, wenn auch logischerweise längst absehbare /Qualität/: Deborah und Ariel Levy verklagen einen Arzt, der im Rahmen der Pränataldiagnostik ausgeschlossen hatte, dass sie ein Kind mit Down-Syndrom erwarten. Nach der Geburt stellte sich heraus, dass das Kind doch ein Down-Syndrom hat. Das Paar sagt, sie hätten die Schwangerschaft abgebrochen, wenn der Arzt richtig diagnostiziert hätte. Nun möchten sie 14 Millionen Dollar für Therapien, und zusätzlich die Kosten lebenslanger Versorgung erstattet bekommen, sowie eine Entschädigung für die emotionale Belastung und Depression, die das Kind der Mutter verursacht hat. „The Levys declined to be interviewed. Their attorney, David K. Miller, said the toddler is as dear to them as their two older children but they fear being perceived as ‚heartless.'“ Haha, herzlos, wie kommen sie bloß darauf?
#
(Unverständlich der Adressat der Klage. Verklagen könnten sie zum Beispiel Gott wegen seiner unerhörten Idee menschlicher Vielfalt. Auch warum sie Schmerzensgeld bekommen sollten, ist unklar: wenn sie das nicht auf sich nehmen wollen, können sie das Kind ja auch zur Adoption freigeben, es gibt viele Paare, die gerne ein Kind mit Down-Syndrom adoptieren möchten.)

Posts navigation

1 2 3
Scroll to top