co-pilot.

Mit vorne feststehendem Lenker und optionaler Tretfunktion für das Kind, hervorragend geeignet für John, denn das, was er kann, kann er hier mitmachen, und das, was er nicht kann, wird nicht von ihm verlangt. Jetzt müssen wir vor allem trainieren, dass man nicht in voller Fahrt absteigt.

retrospektives tagebuchbloggen.

# Dem wahrlich lindgrenschen Urlaub auf einem schwedischen Bauernhof folgten arbeitsame Wochen in einem Luxushotel am Potsdamer Platz, wo ich zunächst eine Reisegruppe aus Texas betreute, deren Teilnehmer ihre Zeit bevorzugt damit verbrachten, rassistisch über Obama zu reden; ein Mann sagte, er würde noch nicht einmal den Namen des neuen Präsidenten in den Mund nehmen, und ich fragte mich die ganze Zeit, warum republikanische Texaner nach Deutschland reisen, wenn sie doch nur die ganze Zeit schlecht über Obama reden möchten, kann man das nicht Zuhause genauso gut, aber vielleicht braucht man dazu ein immer neues, am besten internationales Publikum, das Ganze war ein zwar schwer zu ertragender, aber dennoch lehrreicher reality check, ahnt man doch sonst immer nur diffus, dass es solche Menschen gibt, dann kamen allerdings noch Kommentare wie etwa, dass H*tler bis 1929 ein Held gewesen sei und dass die Amerikaner damals noch ein paar Wochen hätten dranhängen sollen, dann wären sie schon in Moskau gewesen und hätten die Russen gleich mitbesiegt, und mit fortschreitender Dauer der Betreuung wurde die Gruppe immer schwerer zu ertragen, schon bald ging mir der ganze Luxus im Hotel gleich mit auf den Geist, und als ich am Hospitality Desk in der Lobby plötzlich hörte, dass man Sufjan Stevens als Lobbymusik spielte, ausgerechnet diese Musik hier missbrauchte (wie es sich für mich akut anfühlte), sie einsetzte wie etwa die zentrale Leonardo-Duftverströmung über die Klimaanlagen, da drohte ich für einen Moment gänzlich zu verzweifeln und entfloh für ein paar Stunden in unsere Wohnung, deren überall von Johns dreckigen Fingern angetatzten Tapeten mir noch nie eine solche Wohltat gewesen sind wie bei dieser Heimkehr. Die nächste Gruppe kam zum Glück aus Berkeley und machte alles wieder wett, versöhnte mich wieder mit der Arbeit und auch mit dem Hotel, einigermaßen.

# [Sufjan Stevens ist deshalb so wichtig, weil er seit Schweden Johns unschlagbarer Lieblingsinterpret geworden ist, von allen Alben hört er, der kleine Chicagoer, ausgerechnet „Feel the Illinoise“ am liebsten, und wie er da jedes Mal versonnen und sich wiegend vor der Anlage steht, das ist ein Bild für die Götter | wie man so sagt.]

# Bei einem Mittagessen der ersten Gruppe gab es Hähnchenfleisch, darüber war einer der Texaner sehr empört. Er beschwerte sich bei der Reiseleiterin und kündigte an, sie fortan nur noch „Miss Chicken“ zu nennen (als ob die Reiseleiterin das Essen aussucht), was er dann auch tatsächlich den ganzen Nachmittag getan hat.

# Am Sonntag war ich im Privatclub in Kreuzberg, auf dem Konzert von Ursula Rucker, morgen gehen wir zu den Yeah Yeah Yeahs in die Columbiahalle, überhaupt gehen wir gefühlt nur noch aus, weil wir endlich die ganzen Geldvorräte aus den „zusätzlichen Betreuungsleistungen“ von 2008 wegschmelzen müssen, die kann man nur noch bis 1. Juni 2009 nutzen, dann fallen sie weg, das geht natürlich nicht.
(Deshalb diesen Monat auch noch auf dem Programm: Great Lake Swimmers, Art Brut und Masha Qrella.)
[Mit einem Mann, der immer noch nicht richtig deutsch spricht, scheiden Theater und Lesungen als Ausgehaktivitäten nach wie vor aus, bleiben Konzerte und Kino und Ausstellungen und Fußball; als Werder vor zwei Wochen im Olympiastadion spielte, waren wir natürlich wie jedes Jahr dabei.]

# Über den 1. Mai haben wir versucht, ob John vielleicht auch ohne sein Medikament auskommen kann, noch immer wäre es mir am liebsten, wenn er keine Psychopharmaka nehmen würde, aber schon nach einem halben Tag setzte die Aggression in der gleichen Stärke ein wie vor der Einführung des Dipiperon, er war nicht mehr zu bändigen, er bestand aus nichts mehr als aus Aggression, wir trugen viele Blessuren davon, John konnte sich auf gar nichts mehr konzentrieren, der 1. Mai war nichts als Krawall in unserem Haus, also nimmt er nun wieder sein Medikament und ist bestens zufrieden, damit ist diese Frage erstmal wieder geklärt, nein, es geht nicht ohne, vor allem für ihn selbst und seine Lebensqualität auch nicht.

# Durch Zufall habe ich vielleicht endlich ein passendes und erschwingliches Therapiefahrrad für John und uns gefunden, für übermorgen Abend habe ich mit dem jetzigen Besitzer eine Probefahrt vereinbart, es wäre fast zu schön um wahr zu sein, wenn das klappen würde (was vor allem auch davon abhängt, ob Aussicht besteht, dass John damit klarkommt).

# Leider kommt uns zum neuen Schuljahr unser Schulhelfer abhanden, da müssen wir nun einen neuen finden, eine Aufgabe, von der ich keine Ahnung habe, wie man sie bewältigen soll; Menschen zu finden, die mit John umgehen können, wird mit zunehmendem Alter immer schwerer.

# Morgen habe ich frei, da gehe ich zur Konferenz „Vereint für gemeinsame Bildung„, was mich jetzt schon wieder nicht erfreut, denn ich mag die ganze politische Arbeit eigentlich nicht (genau dieses eigentlich ist es, das bedeutet, dass man es trotzdem tut), all die Konferenzen, all die Treffen, all das Ehrenamt, das bringt eh alles nichts, aber wenn man gar nichts versucht, dann bringt es noch weniger als nichts, nämlich Rückschritte, das weiß man dann auch wiederum.

# Ich bin sehr into „24“, ist denn niemand sonst into „24“? Auch nach all den Staffeln und auch wenn es natürlich manchmal zweifelhaft ist, und sich mittlerweile oft ähnelt, die siebte Staffel ist trotzdem spannend; eigentlich müsste die Folge von gestern Abend schon online sein, gleich mal nachsehen.

# Donnerstag kommt die nächste Reisegruppe; Brown und ein paar kleinere, andere Universitäten, die okay sein dürften, hoffentlich.

sinn und unsinn.

Im Dezember 2008 hat die Bundesregierung die UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Seither berichten Zeitungen und Zeitschriften in sehr unterschiedlicher Qualität darüber, was dies für das deutsche Bildungssystem bedeuten könnte. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv, der dafür sorgt, dass sich Berichterstattung und Spekulationen auf einem sehr ideologischen Feld bewegen, und sich nicht oder nur wenig an der Realität orientieren.

Der Spiegel titelt in der Ausgabe 2/2009 in einem Artikel: „Die unverdünnte Hölle.“ In ihm finden sich einige wichtige und richtige Passagen, wie zum Beispiel: „Es gibt einen wachsenden Druck zur Optimierung der menschlichen Natur, zur Steigerung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. […] Seit der Radikaleugenik der NS-Zeit spricht zwar in Deutschland so gut wie niemand mehr von ‚lebensunwertem Leben‘. Aber die Ansicht, dass Menschen mit Behinderungen die Gesellschaft belasten, ist weit verbreitet. Mit der ‚Art der Geräusche‘ begründete ein Richter sein Urteil, das einer Wohngruppe von sieben geistig behinderten Menschen vorschrieb, sich nur noch zu festgelegten Zeiten im Garten aufzuhalten. Ein Flensburger Gericht sprach Hotelgästen eine finanzielle Entschädigung zu, weil sie im Urlaub gemeinsam mit behinderten Menschen hatten speisen müssen. Und im Stuttgarter Stadtteil Muckensturm klagten Anlieger gegen ein Heim, weil sie Lärmbelästigung, tätliche Übergriffe und den Wertverlust ihrer Häuser fürchteten.“

Leider ist der Artikel in seiner Schlussfolgerung aus den richtig beschriebenen Problemen sehr wenig differenziert. Behindertenvertreter plädierten für die Abschaffung des Sonder-Förderschulsystems, heißt es. Eine Frau aus der Behindertenbewegung wird zitiert, die Sonderschulen seien „nichts als Abfalleimer.“ Die Kinder lernten dort nur kochen und übten Tischmanieren. Ein weiteres Zitat: „In Sonderschulen herrscht eine regelrechte Friedhofsruhe.“ Ich weiß ja nicht, wie man darauf kommt; in der Schule meines Sohnes habe ich Friedhofsruhe jedenfalls noch nie erlebt. Auch ist es bei weitem nicht so, als ob alle Behindertenvertreter für die Abschaffung der Sonderschulen plädieren, und vor allem ist es nicht so, als ob dort nur kochen und Tischmanieren eingeübt würden. Sonderpädagogen setzen sich teils mit sehr großem Engagement für die Kinder ein, eine solche Schilderung tut der Schulform ebenso wie engagierten Pädagogen großes Unrecht an.

Es gibt sicher viele Kinder mit Behinderungen, die von einer Integration in eine Regelschule profitieren würden, vielleicht und vor allem Kinder mit körperlichen Behinderungen. Genauso gibt es aber Kinder, die eine solche Integration überhaupt nicht verkraften könnten. Diese Erkenntnis mag nicht in die Integrations-Ideologie passen und das Ganze kompliziert machen, sie ist aber dennoch wahr und muss Beachtung finden. Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörungen, wie etwa Kinder mit schwerem frühkindlichen Autismus, könnten den Lärm, die Größe und die Dynamiken einer großen Regelschule niemals aushalten. Am Unterricht einer Sonderschule in kleinen Klassen teilnehmen zu können, ist für diese Kinder schon Integration; selbst dafür brauchen sie schon spezielle Integrationshelfer. Wenn es keine Sonderschulen mehr gäbe, sondern nur noch Regelschulen, würden diese Kinder wie früher als unbeschulbar gelten und sogenannten Hausunterricht bekommen, um der Schulpflicht Genüge zu tun. Das hieße wiederum, dass für sechs Stunden in der Woche ein Lehrer Nachhause kommt – und dass ein Elternteil seine Berufstätigkeit aufgeben muss. Integration ohne Alternativen bedeutet Ausgrenzung, nämlich Ausgrenzung der schwerstbetroffenen Kinder aus der Schule und gleichzeitig noch ihrer Eltern aus dem Arbeitsleben. Sonderschulen und Integration gegeneinander auszuspielen, wie es der Spiegel-Artikel tut, mag einigen Behinderten dienen, geht aber zu Lasten von anderen Behinderten und ihren Angehörigen. Eine viel differenzierte Betrachtung ist angebracht und notwendig, leider haben Journalisten, Lobbyisten und Politiker dafür wenig Zeit, wenn sie versuchen, die UN-Konvention dafür zu missbrauchen, ihre Ideologie durchzusetzen.

Die Zeit titelt: „Am Ende des Sonderwegs.“ Nun weiß man von der Zeit schon, dass sie über Behinderung nicht in guter Qualität berichten kann, man denke nur an den katastrophalen Artikel von Frau von Thadden, in dem sie die Frage stellte: „Wer könnte heute noch sagen, dass auch ein behindertes Kind ein Geschenk ist, wenn man das Geschenk doch zu Beginn der Schwangerschaft faktisch ablehnen konnte und das Kind also einer Entscheidung entspringt?“ Bei der Zeit hat man kein Gespür für dieses Thema, das ist auch in diesem Artikel zur Sonderschule wieder zu sehen, so heißt es zum Beispiel: „Geistig oder körperlich Behinderte, aufmerksamkeitsgestörte Problemkinder, schwer Erziehbare mit Migrationshintergrund – wer, der dafür nicht bezahlt wird, will schon mit ihnen zu tun haben? Und wer, außer ihren Eltern, nähme Anteil am Schicksal dieser geborenen Verlierer?“ Der Autor dieses Satzes offenbart mit seinen Fragen wahrscheinlich mehr über seinen eigenen Zugang zu Menschen mit Behinderungen, als ihm lieb sein würde, wenn er denn verstünde, was er da schreibt, bzw. was dies über ihn selbst aussagt. Ich frage mich angesichts solcher Sätze immer, in was für einer Welt Zeit-Redakteure eigentlich leben. Es muss eine sehr abgeschirmte und realitätsfremde sein. Dabei meinen diese Redakteure es, auch wenn sie so beleidigen, eigentlich auch immer noch gerade besonders gut, sie haben bloß keine Ahnung und kein Gespür – eine unglückliche Kombination. Der Artikel zielt nämlich durchaus darauf ab, dass Kinder mit Behinderungen integriert werden sollen. Allerdings endet er auch mit der pauschalen Diagnose über Sonderschulen: „Es ist Zeit, sie abzuschaffen.“ Die Sonderschulen werden als „Apparate“ beschrieben, die ihre Existenz verteidigen. Dieses Argument ist blanker Unsinn, denn die sonderpädagogische Förderung wäre ja auch in einer neuen Schulform weiter notwendig, und Lehrer wie Schulleiter würden ihre Stellen nicht verlieren, sondern nur in einer anderen Schulform weiterarbeiten. Der Artikel ist derart von Ahnungslosigkeit geprägt, dass man schon fast Mitleid haben muss.

Der Verweis darauf, dass im Ausland schon mehr Sonderschulen aufgelöst wurden, und dass Deutschland somit hinterherhinke – auch diese Behauptung ist unter Integrationsideologen sehr beliebt. Leider enthält uns der Artikel vor, welches Land/ welche Länder im Ausland genau gemeint ist/sind, und was dort konkret besser läuft. In Frankreich und Italien jedenfalls läuft diese Auflösung so ab, dass schwer beeinträchtigte Kinder zu viel größeren Anteilen als in Deutschland keine Schulen besuchen können und Zuhause bleiben. Auch in den USA ziehen Menschen von einem Staat in den nächsten auf der Suche nach einer Schule, die ihrem schwer beeinträchtigten Kind genügend Schutzraum bieten kann. Die Frage, ob Deutschland vielleicht nicht komplett hinterherhinkt, sondern sich in Teilen etwas Bewahrenswertes bewahrt hat, ist aber hierzulande geradezu undenkbar und öffentlich tabu. Das Problem liegt in der Differenzierung: in Ländern wie den USA bedeutet die Integration für manche Kinder mit Behinderungen viel Gutes, und hier hat Deutschland tatsächlich Nachholbedarf, auch großen Nachholbedarf. Es ist nicht einzusehen, warum ein Kind im Rollstuhl eine Sonderschule besuchen muss, wenn es genausogut in einer Regelschule lernen könnte. Den Fehler anderer Länder, dabei aber das Kind mit dem Bade auszuschütten, könnte und sollte man in Deutschland vermeiden. Integration muss unbedingt vorangetrieben werden, wo möglich. Auf der anderen Seite müssen aber Schutzräume bleiben für die Kinder, die diese benötigen.

Für die schwer beeinträchtigten Kinder wäre Integration nur dann denkbar, wenn sehr, sehr viele Voraussetzungen dafür geschaffen würden, dass sie es an einer Regelschule aushalten können: sie bräuchten kleine Klassen wie in der Sonderschule, also sechs Kinder pro Klasse, selbst in diesem Rahmen bräuchten manche noch einen Integrationshelfer, sie bräuchten einen Trakt, in dem sie nicht zu vielen Reizen und Kindern ausgesetzt sind, da ihr Wahrnehmungsapparat sonst überfordert wird, worauf sie mit massiven Aggressionen reagieren, sie bräuchten Räume mit Lärmschutz, damit ihr übersteigertes Hörvermögen nicht überlastet wird, damit sie nicht in Aggressionen ausbrechen usw. usw. Die baulichen und personellen Anforderungen wären enorm.

Viele Politiker plädieren – hinter vorgehaltener Hand – vor allem deshalb für Integration, weil die Sonderschulen sehr teuer sind. Sie meinen, durch Integration der Kinder mit Behinderungen und Abschaffung der Sonderschulen Geld sparen zu können. In den USA spielt nicht zuletzt dieses Argument eine Rolle: Kinder mit Behinderungen werden nicht ausschließlich aus lauter Behindertenfreundlichkeit integrativ beschult, sondern weil man nicht willens ist, ein großes Maß an Sonderförderung staatlich zu finanzieren. Für Kinder mit Behinderungen, die mit einer mangelhaft ausgestatteten Integration nicht zurechtkommen, gibt es teure Privatschulen, die schwer beeinträchtigten Kindern für viel Geld den benötigten Schutzraum bieten – wenn es sich die Eltern denn leisten können. Um Integration erfolgreich, staatlich und für alle zugänglich anzubieten, müsste man sogar mehr Geld ausgeben als für das System der Sonderschulen. Sollte man dazu bereit sein, spricht auch nichts gegen die Integration. Nur leider läuft es genau so nicht ab: die Integration wird vorangetrieben (auch durch Druck der Presse), ohne alle Voraussetzungen dafür zu eruieren und umzusetzen. Man macht den ersten Schritt vor dem zweiten.

Was die tatsächliche Umsetzung einer theoretisch guten Idee, und was die Zukunfts- und Erfolgsaussichten einer solchen Politik betrifft, so lohnt sich ein Blick in die Berliner Schulpolitik, wo das Schulgesetz seit 2004 der Integration absoluten Vorrang einräumt. Anfangs gab es für die integrative Beschulung noch viele Förderstunden und die Klassenstärke war begrenzt. Doch in den letzten Jahren haben sich die Bedingungen für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf immer mehr verschlechtert. Die Begrenzung der Klassenstärke wurde aufgehoben und die Förderstunden auf durchschnittlich 2,5 in der Woche reduziert. Kommt es zu Erkrankungen im Lehrerkollegium, fallen auch diese Förderstunden weg. Eine verantwortungsvolle Integration behinderter Kinder kann nicht mehr durchgeführt werden. Die Sonderpädagogen fahren von einer Schule zur nächsten, drei Schulen oder mehr am Tag, geben hier und da eine Stunde Sonderförderung – das reicht alles überhaupt nicht mehr aus, die Klassen sind zu groß und die Integrationskinder kommen nicht mehr zurecht. In unserer Elterngruppe melden sich zunehmend Eltern, die ihre Kinder krankschreiben lassen, weil die Beschulung nicht funktioniert. Und dabei muss man noch sagen, dass in dieser Integration momentan vor allem Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialem Förderschwerpunkt beschult werden: die schwer beeinträchtigten Kinder sind noch gar nicht dabei.

Wahr ist: unter dem Deckmantel erstrebenswerter, humanitärer Argumente der Integration und Inklusion wird in Wirklichkeit ein Sparmodell vorangetrieben, das letztlich genau zu Lasten derjenigen gehen wird, denen es eigentlich helfen wollte. Verbände und Behindertenvertreter sollten sich genau überlegen, ob sie auf diesen Zug aufspringen wollen.

Der differenzierteste Artikel kommt denn auch aus Berlin, der Stadt, in der wir diese Erfahrungen seit Jahren leidvoll sammeln: „Wann ist die Sonderschule die richtige Wahl?“ 

whitehouse.gov

„President Obama and Vice President Biden are committed to supporting Americans with Autism Spectrum Disorders, their families, and their communities.“ [#]

(Auf der neuen Website des Weißen Hauses bekommen Disabilities eine eigene Seite, werden nicht einfach unter Health Care subsumiert, und Autismus wird als einzige Behinderung sogar extra auf- und ausgeführt. Zumindest ein erstes Anzeichen, dass die Wahlversprechen in dieser Sache nicht vergessen wurden.)

krisen im autismus.

„Es ist mir wichtig, dass die Arbeit mit Menschen mit autistischen Verhaltensweisen mehr ist als nur eine empathische Annäherung. Insofern brauchen wir mehr Verstehen, als nur Empathie. Empathie ist notwendig, Intuition ist notwendig. Es reicht aber für wirkliches Verstehen von Fremdheit nicht aus. Für wirkliche Fremdheit muss ich aus mir selbst und über mich hinauswachsen. Das kann ich nur mit Begriffen, mit Theorien, die von mir distanziert sind, die mich reflektieren.“ [#]

(Ich kann kaum beschreiben, wie sehr mir dieser Aufsatz dabei geholfen hat, zu verstehen, einzuordnen, meinem Kind durch die Krise zu helfen. Was haben die Menschen bloß vor dem Internet getan? Wie kamen sie an so wichtige Anregungen und Erkenntnisse? Danke Internet, und danke Prof. Rödler.)

der arbeitgeber.

Gestern kleiner Stand-off in der Badewanne, die der Kandidat auch nach einer halben Stunde baden immer noch nicht verlassen wollte. Ich erklärte ihm, dass das Baden nun beendet sei und ließ das Wasser aus. Der Kandidat machte allerdings keinerlei Anstalten, aus der Wanne zu klettern. Ich versuchte, ihm zu assistieren, konnte den nassen Aal allerdings nicht bewegen. So blieb er also in der leeren Wanne liegen. Um ihn herauszuheben, ist er schon zu schwer; ohne seine Kooperation geht nichts mehr, und wenn man die nicht bekommt, heißt die Devise: Warten. So hielt ich den Hebel des Wasserhahns verschlossen, und John versuchte, das Wasser wieder anzustellen, es gelang ihm aber nicht, mich zu überlisten. Ich erklärte wiederholt, dass eine halbe Stunde in der Wanne genug sei, dass seine Haut schon ganz schrumpelig und rot sei und dass er nun wirklich herauskommen müsste.

Letztlich eine wunderbar normale Situation, wie mit einem trotzenden Zweijährigen. Wir haben eine weitere halbe Stunde so verbracht: ich hielt den Hebel zu, und er versuchte, ihn zu öffnen. Ich war entschlossen, diese Grenze geduldig, aber bestimmt zu setzen, und tatsächlich stand er nach einer halben Stunde plötzlich auf, als sei nichts gewesen, kam über den Rand geklettert und griff nach seiner Zahnbürste, mit erwartungsvollem Blick Richtung Zahnpasta, als wolle er sagen: „Nach dem Baden Zähneputzen, right? Dann gib mir aber gefälligst auch die Zahnpasta und hilf mir schon endlich dabei.“ Er war bestens gelaunt, und was mich am allermeisten gefreut hat: dass er diese Situation überwunden hat, ohne auch nur ansatzweise aggressiv zu werden. Noch vor zwei Wochen hätte er bedingungslos gebissen, gekratzt und geschlagen, um seinen Willen durchzusetzen. Vielleicht ist er mit seinen acht Jahren nun wirklich in der Trotzphase angekommen, vielleicht ist das sein Entwicklungsstand, der bei einem kräftigen, nicht-sprechenden Achtjährigen einfach ungleich schwerer zu handhaben ist als bei einem neurotypischen Zweijährigen. Aber langsam kommt er aus der Krise heraus, jeden Tag geht es ein bisschen besser. Toi, toi, toi.

Er hätte es sicher leichter, wenn er sprechen könnte (wir nennen ihn übrigens „das nicht-sprechende zweisprachige Kind“, denn da wir Zuhause zu viel Englisch sprechen, versteht er das mittlerweile fast so gut wie Deutsch, außerdem war Englisch die ersten beiden Lebensjahre ja sowieso seine Muttersprache, das merkt man doch auch). Könnte er sprechen, müsste er Auseinandersetzungen nicht ausschließlich körperlich austragen. Manchmal fehlt einem die Sprache doch. Aber daran arbeiten die Therapeuten, und da fällt mir ein, was ich gestern gedacht habe: John ist ein hervorragender Arbeitgeber. Er beschäftigt seinen persönlichen Bodyguard im Schulbus, er beschäftigt einen Vollzeit-Helfer in der Schule, neben dem herkömmlichen Lehrpersonal, er beschäftigt zwei Einzelfallhelfer und mehrere Therapeuten (Ergo, Logo und unterstützte Kommunikation), und wo uns jetzt die „zusätzlichen Betreuungsleistungen“ der Pflegereform bewilligt wurden, wird er auch noch für 200 Euro im Monat eine zusätzliche Betreuungskraft beschäftigen. Welcher Achtjährige ist schon so ein umfangreicher Arbeitgeber? Der Kandidat als Arbeitgeber schnürt [wie man so sagt] sein eigenes Konjunkturpaket.

kein mitleid.

Jerry Lewis soll bei den Academy Awards dieses Jahr den Jean Hersholt Humanitarian Award bekommen, eine Auszeichnung für seine langjährige Tätigkeit als Moderator einer Spendengala in den USA. Beim „Telethon“ wird ähnlich verfahren wie etwa bei der Gala „Ein Herz für Kinder“ hier in Deutschland. Erst im Dezember präsentierte Thomas Gottschalk dort vor Mitleid triefende Beiträge, unterlegt mit kitschiger Musik, die ganze Gala voll auf die Tränendrüse gedrückt, um den Griff zum Geldbeutel zu erleichtern: das schlimme, schlimme Schicksal all dieser armen kranken und behinderten Kinder. Ich wollte mir das ansehen, um herauszubekommen, wie schlimm diese Veranstaltungen tatsächlich sind, konnte es allerdings nur 20 Minuten aushalten, dann hätte ich vor Wut am liebsten den Fernseher erschossen (wie Elvis; ich muss dann immer an den sehr lustigen Film „Elvis meets Nixon“ denken). „Ragged Edge“ hat eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Jerry Lewis und dem Telethon, wie alles immer auf Mitleid zielt anstatt auf Respekt. Die Behindertenbewegung in den USA ist in Aufruhr und sammelt Unterschriften gegen die Verleihung des Preises an Lewis: Petition online. Sollte es in Deutschland irgendwann einmal ähnliche Erwägungen geben, beispielsweise Thomas Gottschalk als Moderator von „Ein Herz für Kinder“ auszuzeichnen – ich hoffe, wir würden hier auch so eine Unterschriftenaktion auf die Beine stellen.

der kandidat. (von 2008 zu 2009)

Im Januar ist unser neu gegründeter Verein (mein erster Verein, was das überhaupt bedeuten mag), im Januar also ist unser Verein „Elternzentrum Berlin“ lokaler Filmpartner eines sehr guten Dokumentarfilms über Autismus: „Ihr Name ist Sabine.“ Ich habe ihn bei der Berlinale dieses Jahr schon gesehen und in meinem alten Weblog seinerzeit auch besprochen.

Am 11. Januar wird der Film im Rahmen des „überMacht“-Filmfestivals gezeigt, veranstaltet von der gesellschafter-Initiative der Aktion Mensch. Das Filmfestival findet vom 9.-21. Januar in Berlin statt, ist allerdings ein bundesweites Festival und 2009 zu anderen Zeiten in vielen anderen Städten zu sehen, siehe Programm. Das Berliner Programm ist hier zu sehen, am 11. Januar ab 18:30 Uhr im Zeughauskino also der Autismusfilm „Ihr Name ist Sabine“ mit anschließender Podiumsdiskussion. Als „regionale Filmpartner“ dürfen wir vor allen Filmen des Festivals einen Informationsstand im Foyer betreiben, und bei der zentralen Auftaktveranstaltung am 16. Januar im Kino International einen Trailer zeigen. Den haben wir schon fertiggestellt, John ist darauf manchmal auch zu sehen, siehe Trailer.

Ob dieses ganze Engagement überhaupt etwas bringt, ist weiter dahingestellt. Zweimal haben wir uns im neuen Schuljahr bereits mit den Senatsvertretern getroffen, im Oktober und im Dezember, aber es ist eine mühsame Angelegenheit. Ein zweites Mal nach der Intervention im Frühjahr 2008 hat unser Protest allerdings dazu beigetragen, dass der Berliner Senat die Schulhelfer unserer Kinder nicht abschafft, vergleiche taz vom September mit taz vom Dezember. Was nach den nächsten Sommerferien ist, weiß niemand. Das Ringen, das im Januar 2008 begann, wird offensichtlich von Halbjahr zu Halbjahr neu ausgefochten, gesucht wird der längere Atem. Wenn der Senat sich da aber mal nicht täuscht, denn wenn Eltern schwerbehinderter Kinder sich auch nur irgendetwas haben aneignen müssen, dann genau das. Denn der lange Atem ist der kleine Bruder der Geduld.

Was nicht heißt, dass ich nicht trotzdem meine Zweifel habe. Johns Krise, die sich in unglaublichen Aggressionen manifestiert, verschiebt den Fokus. Durch seine Größe und Kraft kann John sich selbst und andere nun ernsthaft verletzen, und in den Momenten des Ausrastens hat er keinerlei Kontrolle über sich. Er hat Kinder in der Schule und im Schulbus angegriffen, besonders der Angriff im Schulbus war schlimm. Nun darf er nur noch mit Begleitperson im Bus mitfahren. Eine Zeitlang, als Arzt und Jugendamt den entsprechenden Antrag bearbeiteten, brachte ich ihn selbst zur Schule, immer mit der Angst, dass er mich auf der Fahrt im Auto attackieren würde. Zum Glück hat das Jugendamt den Antrag schnell bearbeitet und die Notwendigkeit einer Begleitperson anerkannt (wenn sie wirklich gebraucht werden, sind sie manchmal ja auch wirklich da, die Behörden), also kann John wieder mit dem Bus fahren. Das Busunternehmen musste seinen ganzen Fahrplan deshalb umstellen, aber wir sind wohl über den Punkt hinweg, dass einem jede Unannehmlichkeit peinlich ist, die man anderen verursacht.

Meine eigenen Arme sind von blauen Flecken und Kratzern übersät, gestern beobachtete ich im Supermarkt, wie eine Frau, die hinter mir an der Kasse stand, entsetzt auf meine Hand und meinen Unterarm starrte, als ich bezahlte und die Winterjacke dabei etwas hochrutschte. Ich fühlte mich gleich so, als müsse ich mich rechtfertigen. Was die Leute wohl denken, was das ist? Ich hätte eine Vene für Drogen gesucht, ich würde mich selbst verstümmeln? Ich wollte schon fast zu der Frau sagen: „Das war mein Sohn“, da fiel mir auf, dass diese Erklärung die Situation nicht gerade klären würde, also sagte ich einfach nichts. Man unterliegt sowieso sehr leicht einem Rechtfertigungszwang, man wird da irgendwie hineingebracht, und findet dann schlecht einen Ausweg, das wächst sich aus, bis man irgendwann nur noch und viel zu defensiv mit anderen Menschen umgeht.

Den einen Einzelfallhelfer hat John blutig gebissen, die beiden steckten an der Ecke Danziger Straße und Prenzlauer Allee fest, ich musste sie von dort mit dem Auto abholen. Die andere Einzelfallhelferin traut sich kaum noch, mit ihm alleine zu sein. Wer würde es ihr verdenken, ich traue mich ja selbst kaum noch, mit ihm alleine zu sein. Heute sind wir erstmals seit langer Zeit wieder alleine rausgegangen, John und ich, weil die letzten Tage Zuhause ganz okay waren, also wollte ich mit ihm nur kurz um die Ecke zur Stadtbibliothek, ein paar Bücher, Filme und CD’s zurückbringen. In der Schlange vor uns nur drei Leute, erleichtert dachte ich, das sei ja nun zu schaffen, aber dann ist John doch ausgeflippt, gerade als wir dran waren, riss heftigst in meinen Haaren und biss mich dabei in den Arm, bis es blutete. Wir hatten die Aufmerksamkeit aller anwesenden Bibliotheksbesucher, und das waren nicht wenige, alle starrten uns vollkommen entsetzt an. Hilfe angeboten hat natürlich keiner, aber andererseits: was sollen sie auch tun? Es ist nicht ihre Schuld, und sie kennen sowas nicht, sie wissen damit nicht umzugehen, man ist manchmal fälschlicherweise wütend auf die Leute um einen herum, das ist die nächste ungeeignete Reaktion neben dem Rechtfertigungszwang.

Nach unserer kostenlosen Darbietung einer Jahresendfreakshow in der Stadtbibliothek gingen wir wieder Nachhause, wo John schlagartig bestens gelaunt war. Am liebsten ist er Zuhause, aber wir können doch nicht ständig nichts tun. Der Übergang zurück in die Schule am nächsten Montag wird wahrscheinlich wieder ein Spaß, dann dauert es wieder zwei kämpferische Wochen, bis John sich eingewöhnt hat und die Schule akzeptiert, und dann sind in der ersten Februarwoche natürlich gleich schon wieder für eine Woche Ferien, nach denen das Spiel dann wieder von vorne beginnen kann. Die Schulferien sind für Kinder wie John eigentlich nicht gut, denn er wird ständig aus seiner Routine gerissen, und das verursacht so viele, gravierende Probleme. Am besten wäre, er hätte nur in den Sommerferien mal drei Wochen frei, und dann über die Feiertage im Dezember, aber dazu müsste viel mehr Personal eingestellt werden, und da sind wir wieder bei den Problemen der Behindertenbetreuung, an der die Politik so gerne spart.

Seit vielen Wochen versuchen wir nun schon, gemeinsam mit den Ärzten, Therapeuten und allen in die Pflege involvierten Personen, die Krise in den Griff zu bekommen, ohne Erfolg. Die Umstellung von Risperdal auf Dipiperon hat anfangs gut gewirkt, dann nicht mehr. Die Frage ist, ob man nun einen Schritt weiter geht, zum Beispiel Zyprexa probiert, die fast einzig gebliebene Alternative, aber dass man da in ein Wespennest sticht, ist einem schon vorher klar. Eine sehr gute Zusammenfassung zu den Zyprexa-Entwicklungen gibt es bei der Stationären Aufnahme. Es gab auch mal einen Bericht bei Frontal21. Mir ist das alles nicht recht, ich möchte eigentlich (gibt es nicht noch eine Steigerung des Kursivierens, ich brauche langsam umständehalber ein ultrakursiv), ich möchte also eigentlich überhaupt keine Psychopharmaka, ich möchte, dass mein Kind allein durch die Liebe seiner ihn umgebenden Menschen durch die Krise kommt, wie naiv ist das denn. Ich fühle mich, als müsste ich mich für die Medikamente rechtfertigen, da ist er wieder, der Rechtfertigungsszwang, der letztlich wohl nur durch die Diskrepanz entsteht zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.

Im Supermarkt auch noch ein Gespräch gehört zwischen zwei Männern, die sich dort anscheinend zufällig trafen. Der eine sagte zum andern: „Meine Frau ist ja an einer Schule für geistig Behinderte. Also, wir mussten gerade mit unserer Kleinen zum Sozialpädiatrischen Zentrum, sie ist ja ein Frühchen, aber alles okay, mussten da nur die Augen überprüfen lassen, da trafen wir ein Mädchen, das meine Frau morgens noch in der Schule gesehen hatte, das Mädchen hat eine Epilepsie mit geistiger Behinderung, sie wirft sich immer selbst auf den Boden, ganz schlimm ist das, und diese Kandidaten gehen ja auch alle zum SPZ, solche Kinder sieht man dann da.“ Sein Gegenüber erwiderte: „Ja, da kann man immer nur froh sein, wenn man von sowas verschont bleibt.“ Letzterer Satz drückt wahrscheinlich ziemlich gut aus, warum wir durch Johns Krise in der Öffentlichkeit immer isolierter sind. Froh zu sein, verschont zu bleiben, lässt sich vielleicht am besten verwirklichen, wenn man damit möglichst erst gar nichts zu tun hat. Das Gespräch der beiden war aber gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Mir gefiel besonders der Begriff „diese Kandidaten.“ John, der Kandidat. Das ist er, wahrlich. Schläft gerade schon, der Kandidat, wird aber in einer Viertelstunde sicher vom Geböller wach.

Auf ein besseres two-thousand-and-nine: two-thousand-divine.

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