gedanken zu aids und covid-19.

Seit Monaten werden wir jetzt zwischen Hysterie und Leugnen hin- und hergeworfen. Es ist anstrengend und entsprechend scheint auch jeder von Ermüdung zu sprechen, aber wie kommen wir da wieder raus? Dazu lese ich erstaunlich wenig.

Die Situation ist für uns alle neu, eine solche Pandemie haben wir noch nicht erlebt. Wir haben uns das alle nicht gewünscht. Am einfachsten wäre, man könnte einen oder mehrere Schuldige ausmachen, ihnen das Problem anheften und es damit zumindest auf eine Art von sich selbst fernhalten. Doch keiner ist unmittelbar Schuld, wir haben es mit einer Verkettung vieler Faktoren zu tun, die uns an diesen Punkt geführt haben.

Alle tapsen so ein bisschen im Dunkeln herum, die Politik reagiert auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens, wobei die Reaktion gefühlt eigentlich immer schon ein bisschen zu spät kommt. Dennoch ist Deutschland in der Pandemiebekämpfung bisher ziemlich erfolgreich, im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Die Unzufriedenheit ist trotzdem groß. Es begegnet uns das alte Problem: Man kann es nie allen Recht machen.

Alle sind gleichzeitig aus dem rückblickend ziemlich ideal scheinenden Vorher hinausgefallen und jeder fühlt sich nach dem Fall im Gemenge der neuen Lage erstmal tendenziell zu kurz gekommen. So treiben wir uns gegenseitig durch den Käfig, in dem wir doch gemeinsam sitzen. Als Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategie scheint mir das nicht gerade optimal.

Ich wundere mich, dass in den Medien nicht viel mehr danach gesucht wird, wie es in ähnlichen Situationen war, und ob man daraus nicht vielleicht etwas lernen könnte. Ja, es gab Artikel über die Pest und die Spanische Grippe, aber diese Katastrophen sind historisch. Ich frage mich vielmehr, warum man nicht nach etwas guckt, was in unseren eigenen Erfahrungshorizont fällt: die Erfahrungen mit der Ausbreitung von Aids. In der Hoffnung, meine eigene innere Unruhe besser zu verstehen und vielleicht auch etwas zu befrieden, habe ich mich ein bisschen näher damit beschäftigt.

Natürlich gibt es grundlegende Unterschiede. Die Übertragung des SARS-CoV-2-Coronavirus durch Aerosole und Schmierinfektionen bedeutet viel breitere Übertragungswege als die Übertragung des HI-Virus über Sperma und Blut. Aids wurde relativ schnell als „Krankheit der anderen“ angesehen, da die zentralen Risikogruppen (schwule Männer, Drogenabhängige, Bluter) als Randgruppen wahrgenommen wurden. Covid-19 hingegen ist eindeutig ein Problem der Mehrheitsgesellschaft.

Die Unterschiede sind offensichtlich, aber ich habe mich gefragt, ob es nicht trotzdem auch viele Gemeinsamkeiten gibt. Mir hat die Beschäftigung damit geholfen, deshalb schreibe ich das hier einfach mal auf.

Ganz ähnlich wie bei den ersten an Covid-19 Erkrankten wusste auch bei Aids, zuerst 1982 erkannt, zu Beginn niemand, um was für eine Krankheit es sich überhaupt handelt. Die Übertragungswege der Infektion waren unklar, es gab keine Therapieformen. Was ich über die große Unsicherheit und das Ohnmachtsgefühl dieser ersten Zeit gelesen habe, finde ich durchaus mit unserer Situation zu Beginn des Jahres 2020 vergleichbar.

Im empfehlenswerten Buch „Die Kapsel“ von Martin Reichert, erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, beschreibt das Jan Feddersen so: „Aids, das hat einem wirklich den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war wie eine Lähmung.“ Wie ein Damoklesschwert schwebte die Todesangst über dem Alltag.

1982 war ich erst zehn Jahre alt und kann mich daher nicht an diese unmittelbaren Anfänge erinnern. In unserer Kinderwelt kam das Thema nicht vor. Meine Erinnerung setzt etwa 1986 ein, als ich 14 war und auf den Schulfluren darüber diskutiert wurde, ob man durch Küssen Aids bekommen kann. Erwachsene zu fragen, das kam natürlich nicht in Frage. Das maßgebliche Informationsorgan war die BRAVO. Der Konsens der Diskussionen war, dass das laut dem, was man so hörte und las, keine Gefahr darstellen sollte. Ganz sicher war man sich allerdings nicht.

Heute weiß ich, dass schon seit 1984 offiziell anerkannt war, dass die Krankheit von einem Virus ausgelöst wird, das sich vorwiegend über Sperma und Blut verbreitet. 1985 wurde der erste HIV-Antikörpertest zugelassen.

Drei Jahre lebte die ganze Welt schon mit dem Virus und in großer Unsicherheit, da kam erst der erste Antikörpertest heraus. Und ob Kondome wirklich schützen, war zu dieser Zeit sogar auch noch ungewiss. Wenn ich darüber nachdenke, setzt es meine eigene innere Ungeduld in ein neues Verhältnis. Es macht mir bewusst, was für hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen wir heute haben. Wir leben weniger als ein Jahr mit dem neuen Coronavirus.

Innerhalb der Schwulenbewegung prägten sich in der unsicheren Lage Konflikte aus, in öffentlich geführten Diskussionen. Einige Vertreter forderten als Reaktion Enthaltsamkeit ein, oder zumindest den Verzicht auf Promiskuität, worauf andere sich nicht einlassen wollten. Was sollte die Zielgröße sein: Null-Risiko oder Minimierung des Risikos? Wie sollte man mit der Risikobewertung umgehen?

Auch diese Fragen erinnern mich sehr an heute. Null-Risiko wäre nur mit einem totalen Shutdown machbar. Das scheint kaum machbar. Selbst der verhältnismäßig leichte Lockdown im Frühjahr, der nie mit einer Ausgangssperre einhergegangen ist, hat – in einer Freiheitsgesellschaft wie der unseren – schon zu großen Verwerfungen geführt. Wir haben gelernt, dass Null-Risiko wohl keine Option ist.

Das hat die Schwulenbewegung schon in den achtziger Jahren erfahren. 1986 schrieb der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock in seinem Buch „Aids kann schneller besiegt werden“, dass die Zielgröße Null-Risiko nur durch ein lebensfernes Abstinenz-Prinzip und Verbote zu erreichen sei, was dann aber zu Resignation und totalitären Wahngebilden führen würde.

Genau das erleben wir heute schon bei deutlich weniger ambitionierten Zielgrößen: Die Coronaleugner und Querdenker wähnen sich bereits in einem totalitären Staat, wenn sie beim Einkaufen eine Maske tragen sollen.

Rosenbrock schlug vor, stattdessen auf Verhaltensveränderungen zu setzen, zumal sich auch herauskristallisierte, dass Kondome tatsächlich schützen (ähnlich, wie sich in der aktuellen Situation herauskristallisiert hat, dass Masken tatsächlich schützen). Den Beteiligten war dabei bewusst, dass Verhaltensveränderungen vielleicht leicht klingen mögen, aber für den Menschen mit zum Schwersten gehören. Martin Reichert zitiert dazu einen treffenden Satz von Martin Dannecker: „Menschen fällt es schon schwer, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, um sich vor Karies zu schützen.“

Wissen verhaltenswirksam zu machen, das ist schwierig. Wie schafft man neue Routinen, neue Selbstverständlichkeiten? Die Politik setzte auf weitreichende Informationskampagnen. Auch etwas, das wir heute erleben, jüngst mit den neuen Werbespots der Bundesregierung über „besondere Helden“.

Interessant fand ich auch, dass die Politik damals mindestens genauso stark zwischen den Alternativen harter Maßnahmen einerseits und gemäßigter Strategie andererseits gerungen hat. (Den Showdown zwischen Peter Gauweiler und Rita Süssmuth nachzulesen, ist köstliche Lektüre.) Sollte es Ordnungsvorschriften für Infizierte geben, sollte man Zwangsuntersuchungen potentiell Infizierter anordnen können? Dass Randgruppen betroffen waren und nicht die Gesamtheit der Bevölkerung, machte es wohl etwas leichter, sich für die gemäßigte Strategie zu entscheiden. Auch pragmatische Gründe sprachen dafür: Was bringen Zwangstests am Ende überhaupt? Wie und von wem könnte eine ständige Kontrolle umgesetzt werden?

So setzte sich am Ende Rita Süssmuth mit dem Motto „Ratio statt Razzia“ durch. Die Sofortprogramme der Regierung zielten in drei Richtungen: Schutz der Bevölkerung gegen die Infektion, Beratung und Versorgung der Erkrankten, Verhinderung von Diskriminierung. Der Slogan „Aids geht alle an“ sollte dafür sorgen, dass durch Aufklärung eine Ausgrenzung der Betroffenen verhindert wird. Kurzum, es entstand eine Präventionsstrategie, die auf vernünftig handelnde und lernfähige Menschen setzte. 1987 waren Kondom und Aids die Worte des Jahres.

Ebenfalls 1987 gab es erste therapeutische Behandlungen. Zunächst waren die Nebenwirkungen äußerst heftig. Dadurch trat unter anderem auch das Thema Compliance in den Vordergrund: Wie genau befolgt der Patient den Medikamentenplan? Zumal die Medikamente anfangs pünktlich alle vier Stunden eingenommen werden mussten. Vieles war noch unbekannt und experimentell. Medikamente wurden überdosiert und die ersten Ansätze von Monotherapien führten zu Resistenzbildung. Erst mit der Zeit entwickelte sich die Kombinationstherapie. Vielleicht haben wir solche Turbulenzen bei der therapeutischen Behandlung von Covid-19 auch noch vor uns?

Für Aids gab es erst 1996 einen Messparameter, mit dem sich die Viruslast quantifizieren ließ, um den Erfolg einer Therapie präzise bestimmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt gab es Aids schon 14 Jahre. Beim Lesen über Aids habe ich immer wieder das Gefühl, dass wir momentan unglaublich ungeduldig sind. Die Schwulen-Community musste 14 Jahre auf Messparameter zur zuverlässigen Bestimmung der Viruslast warten, das muss man sich wirklich mal bewusst machen.

Noch etwas anderes wird mir beim Lesen über die achtziger Jahre neu klar: Es gab auch damals eine insgesamt aufgewühlte Stimmung, eine aufgeladene Atmosphäre. Neben der Bedrohung durch Aids, die anfangs noch nicht auf bestimmte Risikogruppen reduziert war, sorgte auch der Rüstungswettlauf im Kalten Krieg für Endzeitstimmung, Mitte der achtziger Jahre besonders durch die Stationierung der Pershing-Mittelstreckenraketen. Und dann kam ja 1986 auch noch Tschernobyl dazu. An die tiefe Verunsicherung und Angst, die da ausgelöst wurden, und die eine Zeitlang quasi alles andere überdeckten, habe ich noch sehr gute Erinnerungen. Ich hatte das aber bisher noch nicht zusammengedacht mit dem Kalten Krieg und Aids, und wie prägend das im Zusammenhang der verschiedenen tiefen Verunsicherungen tatsächlich war.

Martin Reichert zitiert Rita Süssmuth, die sich an eine Situation in der Stadthalle Hannover erinnert. Sie sagt: „Ich war umringt von einer Gruppe Frauen, die Angst um ihre Kinder hatten. Sie schrien, ohne Unterlass. Und ich habe dann gewartet, eine halbe Stunde lang, bis ich mit ihnen sprechen konnte. Es gibt Situationen, da versinken Menschen vor Ratlosigkeit in Angst.“

Es gab auch damals eine Stimmung von Apokalypse, es gab Dauerdebatten und Überforderung. Und auch damals prägten sich Hysterie einerseits und Leugnung andererseits aus, und auch damals nährten sich auf diesem Boden Verschwörungstheorien, zum Beispiel dass das HI-Virus 1979 von den USA als Geheimwaffe entwickelt worden war und durch Tests an Gefängnisinsassen in Umlauf geraten sei (dies stellte sich später als gezielte Desinformationskampagne des KGB heraus, an der auch die Stasi beteiligt war).

In der Unsicherheit wird der Sog des Gruppenverführerischen stärker. Im Ausnahmezustand ist es keine leichte Sache, der Sogwirkung der Extreme zu widerstehen, Ruhe zu bewahren und eine praktikable Mitte zu finden.

Aids wurde damals zu einer Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Gesellschaftspolitik. Wie gehen wir mit einer ansteckenden Krankheit um? Und wie gehen wir mit den Menschen um? Das hat die Gesellschaft damals schon bei einer deutlich kleineren Gruppe von Betroffenen und bei deutlich selektiveren Übertragungswegen vor enorme Herausforderungen gestellt. Die Herausforderung der Covid-Pandemie ist um ein Vielfaches größer: eine Schnittstelle zwischen Gesundheits-, Gesellschafts- und dieses Mal auch Wirtschaftspolitik.

Die Beschäftigung mit dem Thema Aids hat für mich einiges in ein neues Licht gerückt. Unsere Situation heute kommt mir nicht mehr so singulär vor. Mir ist bewusst geworden, wie ungeduldig wir sind und was für hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen wir haben. Ich habe ein bisschen mehr Verständnis für die Maskenverweigerer, weil mir noch klarer geworden ist, wie schwer Verhaltensveränderungen für Menschen sind. Ich schätze die Gefahr durch die Querdenkerbewegung allerdings jetzt eher größer ein, als ich es vorher getan habe. Die Mechanismen der Sogwirkung im Zusammenspiel verschiedener tiefer Unsicherheiten scheinen mir jetzt gravierender und potentiell dauerhafter, beziehungsweise schwerer wieder aufzulösen.

Ich weiß jetzt zwar auch immer noch nicht, wie wir aus der Polarisierung wieder rauskommen, aber zumindest verstehe ich das alles nun etwas besser.

spiel mit dem feuer.

Robert Habeck kritisierte in der Tagesschau das Klimaschutzpaket wie folgt: „Beispielsweise ist der Klimarat, der das Ganze überprüfen sollte, deutlich geschwächt worden. Der Bundestag hat nicht mehr die Möglichkeit, selber Gesetze anzuschärfen, wenn Ziele nicht erreicht sind.“

Der letzte Satz ist ziemlich nebulös. Was meint Robert Habeck damit? Der Gesetzgeber ist der Deutsche Bundestag. Kein anderes Verfassungsorgan kann in Deutschland Gesetze beschließen. Und selbstverständlich hat der Bundestag das Initiativrecht, neue Gesetze oder Änderungen bestehender Gesetze anzustoßen. Es bleibt also erstmal ein großes Fragezeichen und man kann nur spekulieren. Meint Robert Habeck vielleicht die Tatsache, dass im Bundestag die Regierungsfraktionen die Mehrheit haben und sie deshalb Vorhaben der Regierung durchbringen können, solange sich die Koalition einig ist?

Man kann sich natürlich über die Vor- und Nachteile der Gewaltenverschränkung (das Regierungsoberhaupt wird vom Parlament gewählt) streiten. In den USA, wo es diese Verschränkung nicht gibt und das Regierungsoberhaupt von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt wird, hat die Regierung nicht automatisch eine Mehrheit im Repräsentantenhaus. Das führt dann u.a. zu Phänomenen wie dem des Haushaltsboykotts, bei dem das öffentliche Leben zum Erliegen kommt und Angestellte, die keinen Lohn erhalten, nicht wissen, wovon sie ihre Miete und Lebensmittel bezahlen sollen. Das könnte bei uns nicht passieren. Jedes System hat Vor- und Nachteile, und die sollte man differenziert abwägen.

In unserem System ist es im Übrigen ja auch nicht so, als ob innerhalb der Fraktionen nicht kontrovers miteinander debattiert und gerungen würde. Der Bundestag macht eben nicht einfach alles, was die Regierung vorgibt. Ich erinnere an das Struck’sche Gesetz, dass noch kein Gesetzesentwurf so aus dem Bundestag herausgekommen ist, wie er hineingegeben wurde.

Robert Habeck weiß das alles natürlich. Aber wenn man keine differenzierte Analyse vornehmen möchte (oder dies aufgrund des Interviewzeitfensters auch nicht kann), dann sollte man sich meines Erachtens einen solchen Satz sparen. Was davon stehenbleibt und bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ankommt, ist der schlicht falsche Eindruck, der Bundestag könne selber keine Gesetze auf den Weg bringen bzw. bei Bedarf novellieren.

Natürlich braucht man dafür eine Mehrheit, aber die wird ja gerade durch die Bundestagswahlen für einen Zeitraum von vier Jahren für das Parlament mit Erst- und Zweitstimme von den Bürgerinnen und Bürgern direkt erzeugt. Man kann gerne mit dem Ergebnis der Wahlen unzufrieden sein. Robert Habeck kann sagen, dass er sich eine andere Mehrheit wünscht, und in klassischer Oppositionsarbeit Alternativen aufzeigen und den Bürgerinnen und Bürgern erklären, wie er es machen würde, wenn seine Partei Teil einer Mehrheitskoalition wäre. Aber einfach zu behaupten, der Bundestag könne keine Gesetze „anschärfen“, das ist falsch und meines Erachtens auch kontraproduktiv. Kontraproduktiv in dem Sinn, dass es negative Emotionen gegenüber der Politik schürt: das Parlament sei ineffektiv oder gar irrelevant.

Möchten wir wirklich gerade in dieser Zeit dazu beitragen, das Vertrauen in die Arbeit und Funktionsweise unserer Demokratie zu erschüttern? Genau das scheint mir momentan leider verstärkt und an vielen Stellen zu geschehen, zudem von Menschen, von denen ich es nicht erwartet hätte. So twitterte Igor Levit: „Frage an die Community: warum nochmal ist die GroKo noch da? Was ist ihre Existenzgrundlage, ihre Daseinsberechtigung?“

Ich möchte dagegen fragen: Im Ernst? Die Existenzgrundlage der GroKo sind die letzten Bundestagswahlen. Von einem zweifelhaften Begriff wie Daseinsberechtigung schonmal ganz zu schweigen. Und was soll denn die Alternative zu unserer parlamentarischen Demokratie sein? Ohne das aufzuzeigen, bleibt ein solcher Tweet pure Agitation.

Bei dieser Stimmungslage wunderte es mich dann auch kaum noch, im ZEIT-Podcast mit Rezo zu hören, wie er sagt: „Überhaupt erstmal Monate zu brauchen für so ein Klimapaket, das hätte ich dir in zwei Wochen geschafft, also ohne Scheiß. Also really, ich glaub, ich hätt den Job viel besser gemacht als die Leute. Ich glaub, die worken nicht genug.“

Ich schätze das im Wesentlichen als Dunning-Kruger-Effekt ein. Zumindest erschließt sich aus den Sätzen ein Mangel an politischen Grundkenntnissen, die eigentlich jeder Schüler und jede Schülerin im Sozialkundeunterricht lernt. Bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen werden viele Personen und Institutionen beteiligt, es werden unterschiedlichste Experten angehört, es wird eine Vielfalt von gegensätzlichen Aspekten bedacht und abgewogen, es werden Konsequenzen antizipiert und eingeschätzt, für über 80 Millionen Menschen in diesem Land. Wer überhaupt mal irgendwo in der Politik gearbeitet hat, weiß, wieviel Zeit und Energie das kostet, und was das für eine Detailarbeit ist. Diejenigen, die auf Bundesebene diese Verantwortung tragen, haben eine 60-Stunden-Woche oder mehr. Dass sie „nicht genug worken“ ist eine absurde, in ihrer Fehleinschätzung eklatant ignorante Aussage.

Warum mir das Sorgen bereitet: Die hier zitierten Sätze von Rezo, wie auch von Igor Levit und Robert Habeck, tragen meines Erachtens zu einem Demokratieverdruss bei, der letztlich Kräfte stärken könnte, die sie eigentlich nicht unterstützen. Die Sätze enthalten im Kern Ressentiments, die ich sonst vorwiegend von Gesprächen mit AfD-Anhängern kenne. Ich wünschte mir, wir könnten im öffentlichen Diskurs rhetorisch wieder etwas abrüsten. Dies sind drei Beispiele aus einer einzigen Woche. Ich finde, es ist höchste Zeit, zu sachlichen und differenzierten Diskussionen zurückzukehren.

Neue Regeln für U-Untersuchungen

Meines Wissens gab es bisher nur einen Artikel in der Ärzte-Zeitung darüber, dass gerade Änderungen für die Früherkennungsuntersuchungen von Kindern bis zum Alter von 6 Jahren beschlossen wurden. Dabei geht das natürlich alle Eltern etwas an: In Deutschland werden jedes Jahr über 600.000 Kinder geboren und sie durchlaufen alle die sogenannten U-Untersuchungen.

Vielleicht gibt es mehr Aufmerksamkeit, wenn die Änderungen in der Praxis ankommen. Der Beschluss tritt nämlich erst in Kraft, wenn auch das Gelbe Vorsorgeheft neu erarbeitet ist, in dem die Ergebnisse der Untersuchungen festgehalten werden. Doch auch wenn die Vorgaben zur Dokumentation noch fehlen: zur inhaltlichen Neustrukturierung wurde im öffentlichen Plenum des Gemeinsamen Bundesausschusses ein Beschluss gefasst, der auch online einzusehen ist.

Ich bin seit drei Jahren in der Arbeitsgruppe tätig, die diese Neustrukturierung erarbeitet hat, dabei seit zwei Jahren in der Funktion als Sprecherin der Patientenvertretung in dieser AG. (Zur Erklärung: Der Gemeinsame Bundesausschuss ist das höchste politische Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Dort wird in Form von Richtlinien der Leistungskatalog für mehr als 70 Millionen Versicherte beschlossen. Seit 2004 haben Patientenvertreter ein Mitberatungsrecht in allen Gremien und ich bin seit 2008 über den Deutschen Behindertenrat dabei.)

Was wird anders?

Es wird sich bei den Früherkennungsuntersuchungen einiges ändern. Zunächst einmal die grundsätzliche Ausrichtung: Es wurde ein empirisches Konzept entwickelt, das für eine verbesserte Evidenzbasis der Untersuchungen sorgt. Die Früherkennungsuntersuchungen gibt es seit Anfang der 70er Jahre und sie sind 30 Jahre lang nahezu gleich geblieben. Die Arbeitsgruppe hat sich intensiv mit wissenschaftlichen Studien befasst und aus den übereinstimmenden Erkenntnissen Items für die Untersuchungen erstellt.

Diese Items sind dabei an der 90. Perzentile ausgerichtet, um auch Raum für individuelle Entwicklungsunterschiede zu lassen. Wir haben also versucht, die Untersuchungen erstens auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen und zweitens einer zunehmenden Pathologisierung entgegen zu wirken. Im Rahmen der Beratungen wurde die Kinder-Richtlinie dabei in den vergangenen Jahren bereits mehrfach geändert, beispielsweise wurden das Neugeborenen-Hörscreening, die Kinderuntersuchung U7a und die Untersuchungen auf Früherkennung von angeborenen Stoffwechseldefekten sowie von Hüftgelenksdysplasie und -luxation eingeführt.

Die neuen U’s berücksichtigen stärker Aspekte der sozialen, psychosozialen, emotionalen und geistigen Entwicklung, da in diesen Bereichen zunehmend Probleme beobachtet werden. Und Eltern erhalten in Zukunft mehr Informationen zu regionalen Unterstützungsangeboten, wie zum Beispiel zu Frühen Hilfen.

Datenschutz: Einführung einer neuen Teilnahmekarte

Auf Initiative der Patientenvertretung wird eine neue Teilnahmekarte eingeführt. Hintergrund hierzu ist, dass die Ergebnisse der Früherkennungsuntersuchungen im vertraulichen Dokument des Gelben Vorsorgeheftes dokumentiert werden. In der Zwischenzeit hat sich – besonders nach Einführung des verbindlichen Einlade- und Meldewesens in einigen Bundesländern – eine Praxis entwickelt, in der beispielsweise Kitas und Behörden zu Unrecht Einsicht in das Gelbe Heft verlangen um sicherzugehen, dass ein Kind regelmäßig an den U-Untersuchungen teilnimmt. Viele Eltern wissen nicht, dass sie nicht zur Vorlage des Gelben Heftes verpflichtet sind.

Eltern werden nicht selten unter Druck gesetzt, zum Beispiel wenn ein Kitaplatz an die Bedingung geknüpft wird, das Gelbe Heft vorzuzeigen (so berichtet aus Bayern). Die Teilnahmekarte bietet Eltern nun die Möglichkeit, bei den entsprechenden Behörden ein Dokument vorzulegen, welches ohne weitere vertrauliche Informationen nur noch die reine Teilnahme an den U-Untersuchungen bestätigt.

Warum war uns das als Patientenvertretung wichtig? Im Gelben Heft stehen sensible Informationen, die ein Kind zudem ein Leben lang begleiten können. Nehmen wir einmal das Beispiel einer Verdachtsdiagnose auf ADS. Wir haben gehört, dass Kitas oder Kindergärten mit diesem Wissen schon versucht haben Eltern zu überreden, dass ihr Kind doch einen I-Status bekommen könnte und dann stünde mehr Personal zur Verfügung. So werden also womöglich Personalengpässe mit Diagnosen zu lösen versucht. So war das nie gedacht.

Ich selbst habe erlebt, dass für die Bewilligung von Johns Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Gelben Heft gefragt wurde. Die Eingliederungshilfe läuft in Berlin über das Jugendamt und das Jugendamt ist daran interessiert, so viele Informationen über Familien zu sammeln wie möglich. Was dann damit geschieht, welche Schlüsse das Jugendamt daraus zieht etc., darüber haben die Eltern dann keine Kontrolle mehr. Das kann schon gefährlich werden und gesetzlich ist es eigentlich gar nicht erlaubt. Aber da es gelebte Praxis ist, wollten wir als Patientenvertretung etwas tun, um dagegen anzusteuern.

Dass wir uns damit durchsetzen konnten, sah lange Zeit nicht so aus und ist mein bisher größter Verhandlungserfolg, auf den ich auch ein bisschen stolz bin (gemischt mit Bedenken, dass es in der Praxis dann vielleicht aber trotzdem wieder übergangen wird – hierzu ist es auch wichtig, dass die Eltern gut über ihre Rechte informiert werden).

Leider keine stärkere Verankerung der Sozialpädiatrischen Zentren

Abgelehnt wurde unser Antrag, eine bessere Vernetzung mit Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) in der Kinder-Richtlinie zu verankern. Diese sind nach dem Gesetz spezialisiert auf die Behandlung von frühgeborenen Kindern sowie von Kindern, die von einer dauerhaften Erkrankung, Entwicklungsstörung oder Behinderung bedroht sind. Die interdisziplinäre Arbeitsweise dieser Zentren hat sich aus Betroffenensicht bewährt, aber eine Überweisung dorthin erfolgt häufig viel zu spät. Leider wurde unser Vorschlag hierzu nicht angenommen.

Im Großen und Ganzen bin ich mit dem Ergebnis zufrieden. Nach drei Jahren Arbeit mit teils hoher Sitzungsfrequenz habe ich die Hoffnung, dass wir die U-Untersuchungen verbessert haben. In jedem Fall sollten die Ärzte in Zukunft mehr Zeit für die Früherkennungsuntersuchungen haben (weil sie besser dafür bezahlt werden), und es sollte mehr Raum für Gespräche da sein. Ich hoffe, dass die Eltern dies auch einfordern und zu ihrem eigenen Besten und dem Besten ihrer Kinder nutzen können.

journal.

Während ich noch immer um die explosive Selbstzerstörung und krasse Selbstdarstellung in Knausis Band 4 herumtapse, google ich natürlich ständig, was es so Neues über ihn gibt – oder Altes, das ich noch nicht gesehen oder gelesen habe. Dabei bin ich auf dieses Interview mit Siri Hustvedt gestoßen. [#]

~

„Leben“ von Karl Ove Knausgård [#]

Karl Ove Knausgaard at the Edinburgh International Book Festival [#]

Homestory [#]

(Seine Frau Linda und er haben ein viertes Kind bekommen, das war mir bis vor kurzem entgangen.)

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Nächste Obsession: Qualität der Versorgung in der Psychiatrie.
(In der John hoffentlich nie landen wird, aber das weiß man bei einem schwer betroffenen Autisten eben nie, daher bin ich im Gemeinsamen Bundesausschuss nun auch in einer neuen Arbeitsgruppe zum Thema. Die Vorbereitung, also detailliertere Einsicht in die Dinge, macht alles nur noch schlimmer.)

„Psychiatry’s dirty secret is that if you had a severe mental illness requiring hospital care in 1900, you’d be better looked after than you are today. Despite a flurry of media hand-waving about new technologies in psychiatry, the average hospital patient probably does less well now, despite the new drugs, than the average hospital patient a century ago.“ [#]

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Kelli Stapleton hat letztes Jahr versucht, ihre autistische Tochter umzubringen. Die Berichterstattung in den Medien war damals schon schlecht und sorgte für viele verärgerte Blogposts in der autism community, aber dieser Artikel setzt dem Ganzen die Krone auf: „County Jail Has Been Better Than the ‚Jail of Autism‘.“
Was das wieder für eine Rhetorik ist. [#]

(Es ist absolut lächerlich, das überhaupt sagen zu müssen: Wenn ein Erwachsener ein Kind tötet oder zu töten versucht, dann ist der oder die Erwachsene nicht das Opfer.)

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Sonst keine News. Möchte immer noch nach Afrika ziehen.
(Not gonna happen.)

recht auf sparen auch für schwerstbehinderte.

Dies ist eine Petition von Constantin Grosch:

„Wie viel Geld darf ich sparen? Diese Frage werden sich wohl die wenigsten Menschen bisher gestellt haben. Warum auch? Für Menschen mit Behinderungen ist das anders. Wer trotz Behinderung erfolgreich einer Arbeit nachgeht und gar beruflich Karriere machen möchte, hat in Deutschland dazu eigentlich keinen Grund. Die Anstrengungen, die eine höher qualifizierte Berufsausbildung und Erwerbsarbeit mit sich bringen, zahlen sich selbst dann nicht aus, wenn der Karriereerfolg sich tatsächlich einstellt. In Deutschland werden voll berufstätige Menschen ohne eigenes Verschulden daran gehindert, zu sparen. Wir dürfen nicht mehr als 2.600 Euro auf dem Konto haben! Danach wird alles abkassiert.

Anlegen einer Altersvorsorge? Unmöglich.
Rücklagen für  Reparaturen, Ausfälle und Notfälle bilden? Nicht erlaubt.
Geld für einen Autokauf ansparen? Fehlanzeige.
Eine Erbschaft annehmen? Wozu?
Die große Liebe heiraten? Besser nicht.

Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf intensive Unterstützung durch z.B. persönliche Assistenz angewiesen sind, werden dadurch arm gehalten. Ein weitestgehend “normales” Leben und gesellschaftliche Teilhabe wird so unterbunden. Aber wie sieht das finanziell denn aus? Da die Inanspruchnahme einer persönlichen Assistenz, ohne die die meisten Menschen mit Behinderung nicht (über-)leben könnten, unter die Sozialhilfe fällt, gelten für diese auch die entsprechenden Regelungen. Behinderte zahlen die üblichen Steuern und Abgaben. Darüber hinaus zieht der Staat aber bis zu 40% des Einkommens zusätzlich ab. Sollte man trotzdem noch Geld sparen können, ist dies nicht gestattet. Mehr als 2.600 € darf ein Mensch mit Behinderungen, der auf intensive Hilfe angewiesen ist, nicht besitzen. Diese beiden Bestimmungen gelten auch für Ehepartner.“

[Ich habe die Petition unterschrieben. Wer das auch tun möchte, kann dies hier tun.]

lasst uns frei.

Gestern demonstrierten 7.000 Schülern, Eltern und Lehrern gegen die vom Land Brandenburg geplanten Mittelkürzungen für freie Schulen. Die Abgeordneten wurden zu ihrer ersten Lesung nach der Sommerpause vor dem Landtag in Potsdam mit einem langen Protest-Spalier empfangen, durch das jeder Abgeordnete fahren musste.

Johns Burgdorf-Schule ist eine freie Schule in evangelischer Trägerschaft und gleichzeitig die einzige Schule in ganz Berlin und Brandenburg, die schwerstbetroffene autistische Kinder erfolgreich und gut beschult. Das Land Brandenburg möchte nun an den freien Schulen sparen, obwohl sie im Vergleich mit öffentlichen Schulen schon jetzt nur 65% der Gelder bekommen: Grund- und Oberschulen sollen weitere 20 Prozent ihrer Einnahmen verlieren, Berufsfachschulen für Soziales 28 Prozent, der Aufbaulehrgang Sonderpädagogik sogar 37 Prozent. Von den 167 freien Schulen in Brandenburg sind 11 Förderschulen betroffen.

Bildungsministerin Münch (SPD) und Finanzminister Markov (Die Linke) betonen immer wieder, dass öffentliche Schulen nicht von Kürzungen betroffen sind und suggerieren damit, sie seien eine Alternative. In unserem Fall gibt es gar keine Alternative einer öffentlichen Schule, dazu schweigen SPD und Linke sich aber aus.

Überhaupt besuchen im Moment noch viele Kinder aus einkommensschwachen Familien freie Schulen, wenn erst einmal das Schulgeld erhöht werden muss, werden die freien Schulen nur noch für Eliten eine Alternative sein.

Proteste gegen Bildungssparpläne [#]
Protest gegen Kürzungen bei Freien Schulen [#]
Tausende demonstrieren in Potsdam gegen Kürzungen bei freien Schulen [#]

Die Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen Brandenburg hat eine Website zum Protest: Vorsicht – Frei Gestrichen.

wir brauchen qualität.

Genauso, wie ich lieber weniger kritisch gegenüber dem Internet wäre, hätte ich auch gerne eine weniger kritische Meinung zur Abschaffung der Sonderschulen, aber immer kommt einem diese blöde Wirklichkeit zwischen die schönen Meinungen. John geht nun seit fast vier Wochen auf eine Privatschule in Fürstenwalde. Die Burgdorf-Schule ist ein Förderzentrum Geistige Entwicklung (a.k.a. Sonderschule für geistig Behinderte), spezialisiert auf Autismus.

Die erste Woche war eine Eingewöhnungswoche, ab der zweiten Woche fuhr John dann schon alleine jeden Tag hin und her mit dem Schulbus. Ihn in einen Schulbus zu bekommen, der eine Begleitperson hat (alles andere ist für alle Beteiligten viel zu gefährlich), erforderte in der ersten Woche noch Gutachten des behandelnden Kinderpsychiaters und des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes KJPD, also einiges an Lauferei und bürokratischem Aufwand, aber ging letztlich auch ohne Sozialgericht vonstatten (meine Messlatte mittlerweile: alles, was ohne Gericht läuft, bekommt die Wertung „gut gelaufen“).

Da ich eine Woche lang viel an der Schule war, habe ich erlebt, wie die Kinder ankommen, wie das Personal mit ihnen umgeht, wie der Unterricht läuft. Was soll ich sagen, es ist ein Traum und Lichtjahre besser als die rückblickend noch furchtbarer scheinenden drei ersten Schuljahre, die in Berlin hinter uns liegen. Der Unterschied ist einfach und klar zu benennen: die Menschen an der Burgdorf-Schule kennen sich alle mit Autismus aus und wissen alle Bescheid, wie man damit umgeht.

John fühlte sich auf Anhieb wohl dort und ist nach nicht einmal vier Wochen schon vollstens eingewöhnt, steigt morgens begeistert in den Bus (wir müssen aus Vorfreude sogar schon immer zehn Minuten vorher nach draußen gehen, während er sich bei der alten Schule jeden Morgen geweigert hat, aus dem Auto zu steigen) und er kommt nachmittags entspannt und gut gelaunt nach Hause. Das Ganze nun auch noch: ganz ohne Schulhelfer. Ja, in Fürstenwalde kann er tatsächlich ohne Schulhelfer beschult werden – das wäre in Berlin undenkbar gewesen.

Aus Johns Sonderschule in Berlin hatte man nach und nach qualifiziertes Personal abgezogen und durch unqualifizierte Betreuer ersetzt, das Ergebnis war eine Katastrophe. Aber so wird das von der Berliner Bildungsverwaltung praktiziert: die Signale stehen auf Integration und Inklusion, und weil kein Geld da ist, werden dazu die Sonderschulen ausgehungert. Zusätzlich traurig nur, dass dann in der Integration noch nicht einmal genug ankommt, aber das ist ein anderes Thema.

Letzte Woche war ich wieder einmal zum Thema Schulhelfer und auch Inklusion beim Landesbeirat für Behinderte und erlebte einen weiteren, mehr als frustrierenden Auftritt der zuständigen Mitarbeiterinnen aus der Senatsbildungsverwaltung. Man verwies wieder darauf, dass man in den letzten Jahren doch so viel Personal an die Sonderschulen geschickt habe und ignorierte die Aussage, dass es uns nicht um die Quantität, sondern um die Qualität geht.

Selbst wenn es fünf Erwachsene gäbe, die sich nur um John kümmern sollten, würde das schiefgehen, wenn sie sich nicht auskennen. Stattdessen braucht er noch nicht einmal mehr 1:1-Betreuung, wenn das Personal gut und der Schulrahmen an die Bedürfnisse von Autisten angepasst ist. Wenn man die Schulen mit 55-jährigen ehemaligen Reinigungskräften bevölkert, die noch nie mit Autismus oder geistig Behinderten oder schwerstmehrfachbehinderten Kindern zu tun hatten und keine pädagogische Bildung haben, dann wird man eben immer mehr Schulhelfer brauchen, die das Kind für Kind kompensieren. Und selbst das funktioniert nicht, das habe ich daran erlebt, wie unglücklich John dennoch war. Ein Schulhelfer kann kein ganzheitliches Konzept ersetzen, er ist immer nur Flickwerk.

Unbegreiflich ist mir, warum die Senatsbildungsverwaltung anscheinend kein Interesse daran hat, die immer wiederkehrenden Probleme wirklich in den Griff zu bekommen. Der Berliner Senat arbeitet an einem Konzept zur Umsetzung der Inklusion nach Maßgabe der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. So oft haben wir vom Elternzentrum Berlin schon unsere Bereitschaft gezeigt, an diesem Konzept mitzuarbeiten (die UN-Konvention sieht die Beteiligung der Betroffenen im Übrigen auch ausdrücklich vor), aber unser Angebot wird immer wieder ausgeschlagen.

Es gibt mittlerweile über 20 autistische Kinder aus Berlin, die jeden Tag circa 60 Kilometer weit nach Fürstenwalde und nachmittags wieder zurückgefahren werden. Warum sieht man sich nicht einmal an, warum diese Kinder dort so gut beschult werden können und etabliert auch in Berlin ein solches Schulmodell? Warum sieht man nicht endlich ein, dass es soziale und pädagogische Berufe nicht ohne Grund gibt? Wann wird man verstehen, dass Integration und Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben sind? Ach, es ist müßig, aber unsere Arbeit des Elternzentrums geht weiter, wir haben keine andere Wahl. Ich bin erstmal froh, dass es meinem Kind endlich wieder gut geht und wir als ganze Familie uns nun vielleicht, hoffentlich auch von den extrem anstrengenden letzten drei Jahren erholen können.

ein kleiner etappensieg.

Seit letzter Woche geht John wieder richtig zur Schule, jeden Tag. Mit der neuen Schulhelferin scheint alles gut zu klappen, John mag sie, er freut sich, wenn er sie sieht, und sie hat auch einen sehr guten Umgang mit ihm. Sie ist Heilerziehungspflegerin und weiß eben, was sie tut.

Leider geht es noch immer vielen Kindern nicht so, ich kenne mehrere Kinder, bei denen die fehlenden Stunden immer noch nicht nachbewilligt wurden, die Schule schickt dann etwa einen zusätzlichen Zivi in die Klasse, aber natürlich klappt das nicht so einfach. Nun ist es auch schon so weit, dass bei ersten Kindern die Integration an den fehlenden Schulhelferstunden scheitert, und die Kinder an die Sonderschule verwiesen werden. Gestern gab es dazu erstmals eine Titelgeschichte in der Zeitung, im Berliner Kurier.

Wir arbeiten weiterhin Vollzeit an der Öffentlichkeitsarbeit, während die Senatsverwaltung sich nur in Babyschritten bewegen lässt. In den letzten Wochen war ich oft abends bei irgendwelchen Sitzungen: Landesbeirat für Behinderte, Landeselternausschuss, Vorstandssitzung des EZB, nebenbei noch eine Veranstaltung zur Selbsthilfeförderung, denn unsere Finanzen müssen wir dringend verbessern, alleine das Drucken von Infomaterial, Flyern etc. kostet schon viel. Die Veranstaltung zur Selbsthilfeförderung fand bei der AOK statt und es hat dort so gezogen, dass ich mir einen steifen Nacken geholt habe, ausgerechnet bei der Gesundheitskasse. Nächste Woche bin ich bei der Spastikerhilfe eingeladen, es geht immer weiter und weiter, wir arbeiten politisch und medial, auf allen Ebenen, in allen Gremien.

Heute Abend kommen wir im Fernsehen. Letzten Freitag haben sie bei John in der Schule gedreht und nachmittags bei uns Zuhause. Ich war nachher tagelang ganz fertig, auch weil John so gar nicht er selbst war vor der Kamera. Aber das wäre von einem Autisten vielleicht wirklich auch zu viel verlangt. Ich habe jedenfalls nun beschlossen, mir den Beitrag nicht anzusehen, das kann ich einfach nicht. Die anderen sollen mir dann einfach sagen, wie es war. Wir haben heute Abend einen Babysitter und gehen aus.

Nach dem Drehtag habe ich mich gefragt, ob sich Belastung und Aufwand lohnen, aber zum Glück hat es schon jetzt, schon vor dem Ausstrahlen des Beitrags, etwas gebracht: der Senat hat gegenüber der Redaktion erstmals die richtigen Zahlen autistischer Kinder in Berlin rausgerückt, an die wir schon seit Monaten heranzukommen versuchen und die wir nie bekamen. Statt der 210 Kinder, mit denen die Bildungsverwaltung in die Haushaltsverhandlungen gegangen ist, sind es 641. Die dreifache Menge, kein Wunder, dass dabei zu wenig Geld rauskam. Teilweise bin ich direkt fassungslos, in was für einem inkompetenten Sumpf wir da herumwaten müssen. Je nun, wir haben also nun neue ordentliche Argumentationsgrundlagen und können weiterarbeiten. Ein richtiger Etappensieg.

Der Landesbeirat für Behinderte hat gemeinsam mit allen Bezirksbeauftragten für Behinderte eine tolle Resolution verabschiedet. Der Verstößebericht des Landesbeauftragten für Behinderte ist hervorragend gelungen. Der Landeselternausschuss hat der Senatsverwaltung nahegelegt, einen Runden Tisch einzurichten. Noch wissen wir nicht, ob es dazu kommt. Vielleicht stupst der Fernsehbeitrag die Senatsverwaltung noch einmal etwas an, auf der Grundlage korrekter Zahlen endlich mit allen Beteiligten dauerhafte Lösungen zu erarbeiten. Ich kann im Moment nur sagen: wie hart erarbeitet das alles ist. Selbst über Erfolge kann man sich kaum freuen, weil es einem allzu bewusst ist, dass das alles dennoch nur kleine Schritte sind, und der Weg vor einem noch zehrend lang. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir mit viel Geduld und Mühe etwas erreichen können, und mit dieser Zuversicht lässt es sich dann wohl auch weiterarbeiten.

kinder verboten.

„Ich will eine Geschichte erzählen. Eine lange Geschichte. Eine Geschichte, in der es um die Wahrheit geht, um das Recht eines Menschen auf seine Würde und einen Freund. Diese Geschichte handelt von der Organisation Human Rights Watch, ihrer deutschen Direktorin Marianne Heuwagen und von der Villa Aurora, aber auch vom Auswärtigen Amt des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier. Es ist eine verwickelte Geschichte, mit Handlungsorten in Zentralasien, Bochum und Los Angeles.“ [#]

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