erinnerung.

„Ich dachte wie ein Kind: Die Vergangenheit brauchte ich nicht.
Mir fiel nie ein, dass die Vergangenheit mich brauchen könnte.“

Jonathan Safran Foer, Extrem laut und unglaublich nah

km 00

KM 00, Normandie.

„Erinnern bedarf der Darstellung“, heißt es am Ende von Aleida Assmanns Buch Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Die Küste der Alliiertenlandung in der Normandie ist eine riesige Gedenkstätte. Übermorgen am 6. Juni jährt sich der D-Day zum 70. Mal und gerade jetzt summt die Gegend geradezu vor Erinnerung. Ich war mit Alumni der Cornell University und der Penn State University dort. Wir besuchten viele Orte: die Batterie Longues-sur-Mer, den Mulberry-Hafen in Arromanches, die Steilküste Pointe du Hoc, natürlich Omaha Beach, Utah Beach, den amerikanischen Friedhof in Colleville-sur-Mer und den deutschen Friedhof von La Cambe.

Utah Beach mit Gruppe

Kranzniederlegung

Amerikanischer Friedhof

Ein Absolvent der Penn State University ist auf dem amerikanischen Friedhof begraben. Ich habe auf Wunsch der Universität in Honfleur einen Kranz gekauft und beim Friedhof eine spezielle Zeremonie bestellt: Ein Mitarbeiter bringt einen kleinen Eimer Sand vom Omaha Beach ans Grab, reibt den Sand über das Kreuz, bürstet es ab und nur in den Buchstaben verbleibt dann Sand, so dass der Name deutlich lesbar wird. Die Repräsentantin der Universität sprach ein paar Worte und die Gruppe sang ihre Alma Mater. (Eine sehr amerikanische Erinnerungskultur, mit über siebzig Jahren fühlen sie sich ihrer Universität noch sehr verbunden.)

Die Kranzniederlegungszeremonie war sehr bewegend. In Emotionalisierung macht man den Amerikanern so schnell nichts vor. Ich hatte in Vorbereitung der Reise Aleida Assmann gelesen und zum Auftakt der Reise in Paris noch Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. Mit diesen beiden Stimmen im Kopf bewegte ich mich durch diese Woche des Erinnerns an der Landungsküste.

Ich musste daran denken, was Aleida Assmann bezüglich der deutschen Erinnerungskultur über das Unbehagen an Ritualen schrieb: „Kritisiert werden vor allem drei Komponenten der Erinnerung: Emotionalität (Pathos der Betroffenheit), Inszenierung (leere rituelle Wiederholungen) und Institutionalisierung (Festschreibung der Erinnerung für die Zukunft). […] Ein dumpfes Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur hat es im rechten Spektrum immer schon gegeben. Jetzt aber steht es zunehmend auch auf der Agenda von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die den demokratischen Wertekonsens keineswegs in Frage stellen wollen.“ Assmann identifiziert diese Kritik als Abrechnung mit der 68er Generation, als Generationenkonflikt. Sie verteidigt die Erinnerungskultur überzeugend, auch mit dem aktuellen Bezug zum NSU-Skandal, der wieder leidvoll gezeigt hat: „Eine Zivilgesellschaft ist eine prekäre Institution und kein stabiler Besitz; sie ist nie ein für allemal gegeben, sondern muss sich als solche immer wieder bewähren, bestätigen und argumentativ durchsetzen. […] Auf dem Weg zu einer empathischen Gesellschaft gehören Erinnerungskultur und politische Bildung, Vergangenheit und Zukunft eng zusammen.“

„Sind die Deutschen also Weltmeister im Erinnern? Wenn ihnen dieser absurde Titel zukommt, dann nur, weil sie zuvor Weltmeister im Morden waren.“ Überall stößt man in der Normandie natürlich auf diese Erkenntnis. Ganz am Anfang hatte ich ein bisschen Bedenken gehabt, dass die amerikanische Gruppe es vielleicht nicht gut findet, ausgerechnet mit einer Deutschen diese Woche zu verbringen. Beim Welcome Meeting hatte ich diese Bedenken in einen Witz verpackt und gesagt: „Not that you wonder how you got stuck with a German, of all people, visiting the D-Day sites. I’m only here for the organizational part. A very knowledgeable British historian will guide us through the week.“ Sie lachten alle, zum Glück fand niemand es blöd, dass ich dort war. (Und unser britischer Guide war wirklich hervorragend.)

[Im Laufe der Woche sprachen mich mehrere Leute darauf an, warum wir nachfolgenden Generationen noch so zögerlich seien. Ich glaube, dass es auch daran liegt, dass die Geschichte nicht irgendwann auserzählt vor uns liegen wird, wie Aleida Assmann schreibt: „Jede Offenbarung verbirgt zugleich etwas anderes, was dann auf weitere Enthüllung wartet. Immer bleibt ein Rest des Schweigens, etwas, das man nicht wissen will, das man umgeht, dem man sich (noch) nicht stellen möchte oder das man übersieht und ignoriert.“ Und: „Im Gegensatz zum amerikanischen Traum, der Vergangenheit und Herkunftsgeschichten annulliert und das Versprechen einer neuen, glücklichen Zukunft macht, sind beim europäischen Traum Vergangenheit und Zukunft eng miteinander verknüpft.“]

Die Amerikaner reisen in die Normandie an einen Ort, an dem sie viele Verluste erlitten, aber auch einen großen Sieg errungen haben. Die Trauer mischt sich mit der Pathosformel der „Befreiung Europas.“ Ich habe dieses Mal in der Normandie das erste Mal gesehen, dass die Erinnerungskultur vor Ort durch „mediales Erinnern“ zurückbeeinflusst wird. Es gibt eine neue Statue von Richard Winters, der durch die HBO-Serie Band of Brothers bekannt geworden ist. Eine künstlerische Aufarbeitung der Erinnerung ist also so populär geworden, dass für einen der Protagonisten nun vor Ort eine Statue errichtet wurde. Erst die Serie löste dies anscheinend aus, wie ein Mann erzählte, der den Entstehungprozess und das Spendensammeln für die Statue in den USA mitverfolgt hat. „Erinnern bedarf der Darstellung“, wie wahr das ist, zeigt sich wohl auch an solchen Erinnerungsschleifen.

Richard Winters Statue

Bei BBC Travel gab es einen interessanten Beitrag zum Erinnern an den Ersten Weltkrieg: Where to commemorate WWI. (Wir waren in den letzten Herbstferien in Ypern und es war sehr beeindruckend.) Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Erinnern und dessen kommerziellem Ausverkauf. Dass der sogenannte Dark Tourism oft zu weit geht, zeigt dieser Artikel über Polen: Touring History’s Dark Side. Neben der berechtigten Kritik an ausbeuterischen Auswüchsen des Erinnerungstourismus finde ich es dennoch wichtig, Orte selbst zu sehen und zu erleben. Wenn man dies respektvoll tut, gibt es der abstrakten Erfahrung eine neue Dimension.

Als wir auf dem deutschen Friedhof ankamen, war gerade eine Schulklasse dort gewesen.

Gedenken einer Schulklasse

In Vielleicht Esther ist das Reisen an verschiedene Orte auch ein wiederkehrender Teil der Erinnerungssuche. Das Buch ist geprägt von Wehmut (oder ist es Sehnsucht?) und gleichzeitig von einer großen Kraft, die daraus erwächst.

„Bei welcher Zahl verschwindet der Mensch? 10.000 Erschossene wurden unter der Marbacher Linde begraben, drüben auf dem Berg, wenn ich mich nicht irre, wie soll ich mir das vorstellen, in meiner Schule waren wir nur 600, und in einem Stadion war ich noch nie. Wenn ich noch eine Null anhänge, muss ich anfangen, strategisch zu denken, ich stelle mir die großen Schlafbezirke vor, in den Hochhäusern auf der Insel gegenüber von meinem Kiewer Haus leben genau hunderttausend Menschen, ich bringe sie heimlich in die Todesstatistik ein, ohne sie in ihrem Schlaf zu stören, nicht für immer, nur um diese Zahl zu verstehen, und dann lasse ich sie wieder ins Leben zurück.

Wir sind mit 20 Millionen Kriegstoten aufgewachsen, dann stellte sich heraus, es waren viel mehr. Durch Zahlen sind wir verwöhnt und verdorben, von der Vorstellung der Gewalt vergewaltigt, wenn man diese Zahlen versteht, akzeptiert man auch die Gewalt. Mich ergreift eine Schwermut, ich weiß nicht, warum das alles so gewöhnlich klingt, fast langweilig.

Ich wollte eine Lösung finden, für mich und für diejenigen, die heute hier wohnen und arbeiten, ich wollte mich erinnern und darüber schreiben, es war aber eine Tätigkeit ohne absehbares Ende. Sisyphos wollte den Tod betrügen, und Thanatos bestrafte ihn mit nie endender Arbeit, er holte ihn aus dem Schattenreich ins Leben zurück und verurteilte ihn zu ewiger Beschäftigung, ewiger Mühe, ewiger Erinnerung. Sisyphos rollte seinen Stein nach oben, im Schweiße seines Angesichts, und wie das ausging, wissen wir.“

Wir sind alle 70

Im Friedensmuseum in Caen hat mich dann am Ende der Reise enttäuscht, dass es zu allen Opfergruppen Informationen gab, nur zu den Euthanasieopfern konnte ich nichts finden. Zu den Homosexuellen gab es nur eine ganz kleine Passage. Ich musste wieder an Vielleicht Esther denken: „Als die Ukraine vor zwanzig Jahren unabhängig wurde, bekamen mit der Zeit alle Opfergruppen ihr Monument: ein Holzkreuz für die ukrainischen Nationalisten, ein Denkmal für die Ostarbeiter, eines für zwei Mitglieder des geistlichen Widerstands, eine Tafel für die Zigeuner. Zehn Denkmäler, aber keine gemeinsame Erinnerung, sogar im Gedenken setzt die Selektion sich fort.“

Auch Aleida Assmann hat über das Problem geschrieben, das so merkwürdig Opferkonkurrenz heißt: Eine gänzlich inklusive Opferkategorie bietet keinen Raum für die besondere Identität der einzelnen Gruppen, eine gänzlich getrennte Opferkategorie dagegen perpetuiert die Selektion. Zur Überwindung der Opferkonkurrenz macht Assmann den Vorschlag eines dialogischen Erinnerns: „Ich verstehe dialogisches Erinnern ganz pragmatisch als wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte. […] Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt, nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid ins eigene Gedächtnis mit auf.“

[Das bleibt dann der Wunsch für die Zukunft: Dass auch die ermordeten Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen mehr in dieses dialogische Erinnern aufgenommen werden. Es ist kein Zufall, dass sie auch die letzten sind, die in Berlin ihre Gedenkstätte erst noch bekommen – und wir schreiben das Jahr 2014.]

flausch am donnerstag.

Hier ein paar Bilder von der Safari in Tansania und Kenia. Ein Bericht der Reise folgt hoffentlich in den nächsten Tagen, nur soviel erstmal: es war sehr ereignisreich. Eine meiner Reisenden hat sich schwer verletzt und so lernte ich die nächtliche Notaufnahme eines entlegenen Buschkrankenhauses kennen, und dann kam der Terroranschlag in Nairobi, durch den wir unsere Pläne für die Reisegruppe spontan umdisponieren mussten.

Ostafrika selbst war nichts anderes als fantastisch, ein absolutes Sehnsuchtsland.

Giraffenpaar (Ngorongoro)

Elefantenkind (Serengeti)

Gazelle (Ngorongoro)

In der Lodge in Lake Naivasha

Zebras (Ngorongoro)

(Mehr Bilder bei Flickr: als Slide Show oder als Set.)

jambo.

Ich fliege nächste Woche das erste Mal in meinem Leben nach Ostafrika und schon in der Vorbereitung meiner Reise tun sich für mich ganz neue Welten auf. So war ich in der sogenannten Erlebnisfiliale von Globetrotter in Steglitz und habe mich dort reisemedizinisch beraten und impfen lassen. Bis ich gegoogelt hatte, wo ich mich impfen lassen kann, wusste ich gar nicht, dass das Institut für Tropenmedizin überhaupt eine Zweigstelle in einem Outdoor-Geschäft hat. Macht natürlich Sinn, wie man so sagt. In der innenarchitektonisch sich nahtlos ins Verkaufskonzept einpassenden Bambuskabine ist schnell eine Spritze gesetzt und tritt man nach dem kleinen Gelbfieberpiekser wieder hinaus, locken Safarihüte, Wanderschuhe und Rücksäcke. Schön fände ich, wenn übers Soundsystem dazu noch die Zikaden zirpten, aber man kann nicht alles haben, selbst als Personalunion von Konsument und Patient nicht.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat ganz Berlin mit ihrer Arztkampagne zugekleistert: „Ich bin Fachärztin. Ich bin eine aussterbende Art.“ Wenn man die Plakate sieht, will man den abgebildeten Ärztinnen und Ärzten sofort sanft mitfühlend übers Haar streichen. Doch Rettung naht: statt in der eigenen Praxis im zweiten Stock Vorderhaus ein tristes Berufsleben als Versicherungskaufmann für individuelle Gesundheitsleistungen zu fristen, werden sie sich bald ins bunte Leben stürzen. Frauenärzte könnten sich in Babygeschäften eine Kabine bauen, zum Beispiel gestaltet in der Form eines schwangeren Bauches. Mit dem frischen Ultraschall-Ausdruck in der Hand kaufen die werdenden Eltern bestimmt gerne ein paar Bodys, Schühchen und Rasseln. Zahnärzte könnten sich in Drogerien niederlassen, Hautärzte in Solarien und Augenärzte bei Dussmann. Erst gerade las ich dort in einem Afrika-Reiseführer und merkte, dass sich bei mir langsam die altersbedingte Weitsicht einstellt, da wäre mir eine Augenarztkabine gerade recht gekommen.

Aber ich schweife ab. Nächste Woche fliege ich das erste Mal in meinem Leben nach Ostafrika. „Jambo“ heißt „Hallo“ und „Sitaki kununua chochote“ heißt „Ich möchte nichts kaufen.“

le luc.

Morgen lasse ich meine beiden Männer mal wieder alleine und fliege nach Zürich, fahre von dort zweieinhalb Stunden in den Wattebausch Meiringen, regle ein paar letzte Dinge, nur um früh am nächsten Morgen wieder in den Zug nach Zürich/Flughafen zu steigen und meine Reisegruppe abzuholen.

Wenn ich meine Unterlagen zugeschickt bekomme, ziehe ich als Erstes immer die Liste mit den Passinformationen raus und sehe mir die Geburtsdaten an. In der kommenden Gruppe sind vier Menschen älter als 80 Jahre. Als Nächstes sehe ich mir die medizinischen Informationen an. Einer bringt ein Atemgerät mit, ein paar Sonderwünsche fürs Essen, nichts Dramatisches auf diesen Informationsbögen, aber damit sie mitreisen können, schreiben die meisten erfahrungsgemäß eh nichts rein, selbst wenn sie was haben. Das merkt man alles erst on site, wer Herzprobleme hat, und seine Medikamente in den USA vergessen usw. Mein schlimmstes Erlebnis war bisher eine Frau in Berlin, die einen Schlaganfall hatte (aber sie war binnen zwei Stunden im Krankenhaus an der Lyse und hat ihre Sprache zurückgewonnen). Die Transitorische Ischämische Attacke in Amsterdam, der gebrochene Knöchel in Antwerpen, die Thrombose in Berlin, der blutende Tumor in Rumänien mit anschließender OP in Budapest, das war natürlich auch alles nicht ohne. Es passiert viel mit diesen älteren Menschen.

In meiner Schweizgruppe ist eine Reisende 54 Jahre alt, alle anderen sind um die siebzig oder eben noch älter. Es könnte schwierig werden, denn die Schweiz ist die körperlich anspruchsvollste Reise: viel wandern (wobei es dazu oft mit Gondeln, Bussen und Elektro-Vans Alternativen gibt, aber eben auch nicht immer), enge Zugverbindungen, also schnelles Umsteigen mehrmals am Tag erforderlich, aktuell Hitze im Tal und oben auf den Bergen natürlich immer dünne Luft. Da klappt einem schon der eine oder andere mit Kreislaufproblemen um. Ich bin gespannt, wie es dieses Jahr wird. Die letzten beiden Jahre waren ja toll, und letztes Jahr hat mir die Gruppe zum Abschluss einen iPod Touch geschenkt, was so schön war, aber auch eine Ausnahme.

Mein Itinerary habe ich auf den letzten Drücker fertiggestellt.

Erster Arbeitseinsatz also nach sechseinhalb Wochen Ferien. Nach dem Urlaub in der Bretagne sind wir in Berlin fast jeden Tag rausgefahren an einen perfekten Badesee, den wir für uns entdeckt haben und ausgiebig genossen: ein Behindertenparkplatz direkt vor der Badestelle, eine geräumige Behindertentoilette, in der man John gut umziehen kann, ein schöner Spielplatz, alles sauber, also ohne Scherben im Sand und ohne Ölfilm auf dem Wasser, da Motorboote dort nicht erlaubt sind, höchste Wasserqualitätsstufe (bei John auch wichtig, weil er beim Baden den halben See leer trinkt), nette Leute dort, viele Familien und viele Ältere, die mit dem Fahrrad und nur einem Handtuch im Fahrradkorb angeradelt kommen, einmal ans gegenüberliegende Ufer schwimmen und wieder zurück, und wieder abfahren mit ihrem Rad.

Unser Badesee

Gelesen habe ich diesen Sommer viel, aber vieles ist auch schnell vorbeigezogen. Sehr gut gefallen hat mir Pia Ziefles Suna. Den zweiten Teil von Joachim Meyerhoffs „Alle Toten fliegen hoch“-Zyklus, Wann wird es endlich wieder so wie es nie war, fand ich nicht ganz so toll wie den ersten Teil Amerika, aber immer noch gut. Am Nachhaltigsten beeindruckt hat mich Joachim Bessings Untitled. Was hat mich dieses Buch gequält, aber trotzdem hat es eine unglaubliche Kraft. Das „radikalste Icherforschungsbuch seit Strindberg“ fand ich es zwar nicht, denn in der Disziplin ist Karl Ove Knausgård für mich nicht zu toppen (sein dritter Teil Spielen kommt im Herbst, juhu!), aber ansonsten stimme ich Rainald Götz in Bezug auf Bessing zu.

John ist in den Ferien sehr gewachsen und ist jetzt genauso groß wie ich. Ein komisches Gefühl, wenn er so gleich groß neben mir steht. Es kommt mir ein bisschen unwirklich vor, immerhin ist es nicht einmal dreizehn Jahre her, dass es ihn gar nicht gab, unvorstellbar alles, irgendwie. Jemand sollte mal einen Text darüber schreiben, wie es ist, wenn das eigene Kind plötzlich genauso groß ist wie man selbst, das ist so strange, aber warum? [Komisch auch dieser Impuls, bei noch-unklaren Gefühlen immer gleich zu denken: „Dazu muss es doch etwas zu lesen geben“, als ob das Lesen immer alles lösen/erklären könnte.] Auf jeden Fall einer dieser großen Momente, die einen hier und da unerwartet ereilen.

Mit zwölf Jahren also 1,78 m groß, und die Sandalen in Größe 44 sind John in den Ferien auch zu klein geworden. Wir waren so beeindruckt, dass wir ihm in der Bretagne ein respektvolles „Le“ in seinen Namen eingebaut haben und ihn jetzt gerne Jean-Le-Luc nennen (gesprochen mit der anerkennenden Intonation von Samuel L. Jackson in Pulp Fiction, wie er John Travoltas Übersetzung von Burgern in Frankreich wiederholt: „Royale With Cheese“).

[Die neue Dankbarkeit, dass John in einem Alter, in dem andere Kinder wahrscheinlich schon ganz woanders sind in ihrem Denken und Sein, immer noch eine große Innigkeit zu uns hat. Wie er sich gestern nach dem ersten Schultag, der ihn sichtlich angestrengt hatte, mit mir ins Bett kuschelte und mir seine Schnüffelküsschen gab – eine Mischung aus schnüffeln und gleichzeitig küssen, die er in den letzten Monaten erfunden hat – da dachte ich, wie schön das doch eigentlich auch ist: Er bleibt nah. Trotz Pubertät, die ja dennoch auch eingesetzt hat; ein wilder Mix aus normaler und anderer Entwicklung.]

zwischen super-nerd und gefährlichem freak.

Es kam, wie es kommen musste: meine heiße Arbeitssaison begann, bevor ich mit dem Buch fertig war. Plötzlich hatte ich drei große Sachen auf einmal zu tun, natürlich der ideale Moment für John, krank zu werden und zwei Wochen lang nicht in die Schule zu gehen. Kaum war er wieder fit, startete ich ein neues Programm in Prag.

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Eine Frau brach sich als Allererstes einen Zeh.

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Abends klopfte es an der Tür und der Hotelmanager bot mir einen Gutschein für ein Drei-Gänge-Menü im Tausch gegen meinen Fernseher. Im Zimmer eines VIP war der Fernseher defekt und es gab keine Ersatzgeräte mehr. Selbstverständlich habe ich das Tauschangebot sofort angenommen, denn ich war eh kaum im Zimmer und wenn, dann las ich Karl Ove Knausgårds Lieben, das mich ebenso in den Bann zog, wie es Sterben getan hatte. Da braucht kein Mensch einen Fernseher.

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So sahen auf den Toiletten im Hotel nahe der Lobby die Wasserhähne aus. Ich dachte mir, das sollt ihr wissen.

Art Deco Imperial Hotel

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Als ich eines Morgens zum Frühstück kam, war unser Vortragender für den Tag bereits da und sagte, dass seine Frau gerade mit Wehen ins Krankenhaus sei. Sie erwarteten Zwillinge, die Wehen seien noch ziemlich weit auseinander, wahrscheinlich könne er den Vortrag noch halten, aber ob er dabei das Handy eingeschaltet lassen könne, seine Frau wolle ihn anrufen, falls er doch schon schnell kommen müsste. Er hielt tatsächlich noch seinen Vortrag. Ich fragte ihn, ob er wisse, was sie bekommen und er sagte: „Eineiige Mädchen, wir haben es noch niemandem erzählt. Du bist die Erste, die das weiß. Das wird uns jetzt immer verbinden.“ Die Kinder wurden später am selben Tag geboren.

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Nach einer Woche brachte ich die erste Reisegruppe zurück zum Flughafen und eine Stunde später landete eine zweite. Ich setzte mich zum Warten mit Knausgård in die Ankunftshalle, mir gegenüber saßen vier blonde Frauen um die Fünfzig und redeten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Plötzlich sprach mich eine von ihnen auf Deutsch an: „Ist das die deutsche Übersetzung von Min Kamp, die Sie da lesen?“ Es stellte sich heraus, dass die vier Norwegerinnen waren und begeistert alle sechs Bücher gelesen hatten. Wir unterhielten uns mehr als eine halbe Stunde über Knausgård. Eine der Frauen sprach sehr gut Deutsch und übersetzte zwischen uns. Das war so eine tolle Begegnung, und was für ein Zufall, am Flughafen in Prag.

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Die Pilsener Urquell Brauerei:

Pilsener Urquell Brauerei

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In zwei Wochen Tschechien lernte ich ansonsten vor allem, dass es quasi unmöglich ist, tschechisch zu lernen.

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Heute war ich zu Gast bei Deutschlandradio Kultur. Kann man hier nachhören.

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Bald geht es wieder los nach Prag; dies ist mein Prager Frühling.

unterwegs sep./okt.

Das Taxi vom Flughafen Sofia in die Innenstadt kostet umgerechnet 5 Euro bei einer Fahrtzeit von einer halben Stunde. In unserem Hotel wird eine Hochzeit gefeiert.

Sheraton Sofia

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In Sofia lief ich in meiner Freizeit stundenlang einfach nur so durch die Straßen, in einer Seitenstraße beobachtete ich zufällig einen Mann, der aus der Haustür trat, seinen Briefkasten öffnete, einen Brief herausholte, sich freute, dann dem Brief einen herzhaften Kuss gab und beglückt damit im Haus verschwand.

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Auf dem Weg von Sofia nach Widin steht in pink an einer grauen Wand geschrieben: „Je suis né pour te connaître.“

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Während ich auf dem Schiff in Rumänien iPod und Laptop synchronisierte, plötzlich gedacht: Angstmaschine: wenn man das Leben synchronisieren könnte.

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Wir fuhren durch das Eiserne Tor, ich saß auf dem Sonnendeck der Amadeus Brilliant, las Twitter und als ich mich abmeldete, erschien die mobile Abmeldungs-URL: twitter /destroy.

Diese kleine Schrecksekunde, bevor der Verstand sich einschaltet und die Wahrnehmung geraderückt. Ich habe Twitter nicht zerstört.

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Belgrad, 2012 immer noch die Ruinen der NATO-Bomben.

Natobomben Ruinen in Belgrad

Unterdessen am Rande der Festung ein erfreulicheres Tauziehen beobachtet.

Tauziehen an der  Festung

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Ungarn, wir fahren durch ein Dorf, in dem die Menschen an den Häusern Chili trocknen.

Chili Trocknen in Ungarn

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Für unsere gehbehinderten Reisenden finden wir überall Aufzüge, selbst in Gebäuden, in denen es angeblich keine gibt, zum Beispiel im Primatialpalais in Bratislava.

[Portrait as the queen of secret hidden service elevators.]

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In Wien wird die Votivkirche renoviert und die Gerüste sind mit sexy Werbung versehen.

Werbung an der Votivkirche Wien

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„Marie Antoinette, you know, the lady with the cake problem in France.“ #stadtführersätze

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„The food on the ship is too salty. In North America, we don’t use salt for cooking anymore.“

Talk about Subjektivität von Wahrnehmung und erstaunliche Statements.

[Mein Feind, das Salz]

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Bis vier Uhr morgens in der Bar versackt und mit ein paar Leuten von der Crew Beatas Geburtstag gefeiert, zuerst noch mit Wein, dann mit selbstgebrautem bulgarischen Apfelschnaps und Karaoke. Morgens um sechs nach zwei Stunden Schlaf raus und ganztags Programm.

[Note to self: geht noch, wenn auch deutlich schwieriger als vor zwanzig Jahren.]

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Zuhause dann: wir haben einen zweiten Fernseher gekauft, damit wir nicht immer mit John diese Schlagersendungen gucken müssen, die er sich so gerne ansieht. Wir schalten ihm also im Schlafzimmer Florian Silbereisens „Herbstfest der Volksmusik“ an, setzen uns ins Wohnzimmer und stellen uns so vor, wir könnten eine DVD gucken, aber John hat natürlich keine Lust, alleine zu gucken, kommt rüber, nimmt meine Hand, zieht mich ins Schlafzimmer, besteht darauf, dass ich mich hinlege, legt sich daneben und schlingt sein Bein um mich, damit ich nicht weggehen kann, giggelt, offensichtlich sehr zufrieden mit seinem Arrangement, und sieht vergnügt fern, Scott kommt irgendwann nach und leistet mir Gesellschaft, und so liegen wir am Samstagabend zu dritt im Bett und gucken Florian Silbereisen.

Fun Fact: sich für das Kind das Herbstfest der Volksmusik in voller Länge mit anzusehen ist einer der größtmöglichen Liebesbeweise überhaupt. Für John, only.

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A propos Liebe, gotta talk about last.fm: Lieben und shuffeln, und geliebte Songs shuffeln, yeah, yeah.

„You wake up and you see that a 55 year-old grandma in Germany was listening to The Beatles until five in the morning. That’s so nice to know. You gotta love last.fm.“

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Entwickelt sich gerade zum großen Liebling: Grizzly Bear, Shields [#]

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„Men might not make women happy here, but left to their own devices, women tend only to make one another unhappy.“ [#]
(Gesehen und gemocht: Please Give)

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Gelesen: … der Wirklichkeit abgewandt. Eine Wissenschaft- und Kulturgeschichte des Autismus von Klaus-Jürgen Neumärker. Mehr Wissenschaftsgeschichte allerdings, weniger Kulturgeschichte. Ein Buch mit vielen interessanten Informationen, aber leider, wie so oft, gibt es auf Englisch eine fundierte und dennoch unterhaltsame Variante (A History of Autism von Adam Feinstein) und das deutsche Buch ist zwar sehr fundiert, aber leider nicht unterhaltsam, sondern ziemlich schlecht geschrieben (viele unnötige Ausrufezeichen!!einself!). Der ehemalige Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie hätte gut daran getan, seinen Text von einem Profi lektorieren zu lassen.

~

Gerade Wissenschaftler scheinen aber in Deutschland gerne der Meinung zu sein, dass sie ohne professionelle Unterstützung selbst gut schreiben oder auch übersetzen können, anders kann ich mir das folgende Fiasko jedenfalls nicht erklären. Im Schloss Cecilienhof in Potsdam gibt es neue Informationstafeln mit englischer Übersetzung und auf fast jeder Tafel sind Fehler, teils richtig heftige Fehler. „Der Krieg schreitet voran“ wird übersetzt mit: „Germany rages war against Europe.“ Zwei Sätze mit unterschiedlicher Gewichtung. Weltpolitik wird lapidar mit „global politics“ übersetzt, wenn im deutschen Original viel mehr eine „world policy“ gemeint ist, und das Schlimmste: wenn auf Deutsch berichtet wird, dass Churchill am Ende die Wahl in England verlor und deshalb in Potsdam durch Attlee ersetzt wurde, steht dort auf Englisch: „Churchill loses at last.“ Wie in: verliert endlich, und mich hat von der Reisegruppe auch tatsächlich jemand gefragt: „Why did they want him to loose? Did the Germans prefer Attlee?“ Ich musste erklären: Nein, auf Deutsch ist der Satz neutral und nicht wertend formuliert. Hier ist nicht gemeint, dass Churchill endlich („at last“) verliert, sondern „in the end.“

~

/Random list of questions/

„My room smells smoky. Can you help me change rooms?“
„My mother-in-law has pneumonia and we might have to fly home. Can you call my travel insurance?“
„Where can I buy nice Bulgarian children’s books close-by?“
„When was the Alexander Nevsky Church built?“
„Which one is the right adapter for Bulgaria?“
„Where on this map are we at the moment?“
„It seems that Hungary has developed faster than Bulgaria or Romania. Why do you think that is?“
„Who is the architect of the CET in Budapest?“
„How much will a taxi from Fisherman’s Bastion to the docking site cost?“
„Where in the palace can I find the famous English tapestries?“
„We hear so much about Franz Joseph, but can you explain a little bit more about Maximilian’s role in Mexico?“
„Who built the organ in St. Stephen’s?“
„What’s the exchange rate of Czech Crowns to the dollar?“
„Can you make a dinner reservation for us at the Bellevue Restaurant in Prague?“
„Where did you buy your purse?“
„I booked my return flight for the wrong day. Can you get an extra night at the hotel for me?“
„I don’t see many birds here. Where are they?“
„I need to see a doctor. Can you go with me?“
„Don’t you think that Tosca last night and Drusilla tonight had to make morally quite similar choices?“
„I can’t get online with my iPhone. Can you figure this out?“
„How many Jewish people live in Berlin today?“
„On which day did Vice President Johnson come to Berlin?“
„Can you talk a little bit about the punitive approach against Germany after World War I as opposed to the Marshall Plan after World War II?“
„Where’s the closest restroom?“
„Does the Schillertheater have artificial reverberation?“

~

Alexander Newski Kathedrale Sofia

zwölf.

‚Cause every single story
is a story about love
(The Shins/ 40 Mark Strasse)

Light Show im Wohnzimmer

Unsere Wohnung wird zum Club: zum Geburtstag bekommt John einen LED-Lichtprojektor. Wir haben lange überlegt, was wir ihm schenken können, das ist jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten so eine Sache. Aber dann dachten wir uns: er mag Musik und er interessiert sich für visuelle Effekte, also haben wir einen Projektor gekauft, dessen Lichteffekte sich nach Musik richten.

Jetzt testen wir, mit welcher Musik es am besten funktioniert. Schonmal nicht mit der neuen Cat Power, die löst fast nichts aus, The Olivia Tremor Control dagegen zieht ganz gut. Laut Beschreibung ist es am besten, wenn man noch eine Fog Machine dazukauft, das kommt dann vielleicht zu Weihnachten. Nach und nacht mutiert unsere Wohnung zu einem Snoezelraum, warum aber auch nicht.

~

Ein großer Junge, dessen Kinderausweis heute ausläuft, er ist jetzt offiziell kein Tweener mehr, unser Teenager, gestern haben wir im Bürgeramt den ersten richtigen Pass für ihn beantragt. Was ändert sich noch mit zwölf? Damals war das Highlight, dass man mit zwölf im Auto vorne sitzen durfte. Vielleicht probieren wir es mal mit John, allerdings habe ich Bedenken, dass er in die Schaltung oder ins Steuer greift, oder die Tür öffnet, die am Beifahrersitz keine Kindersicherung hat, also vielleicht lieber doch nicht.
Trotzdem: herzlichen Glückwunsch, Großer!

John im Auto

osterferien [kurze nachlese].

„I wanted to make it clear to her that you can write about anything that happens to you, that it’s a natural response to experience.“ [#]
(David Shields, Life is short; art is shorter. Auch mit einem schönen Rant gegen Jonathan Franzen)
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„Walking is the ultimate mobile app.“ [#]
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In diesem Sinne: viele Wanderungen in den Osterferien.
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„Every living thing is, from the cosmic perspective, incredibly lucky simply to be alive.“ [#]
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Joel Robinson: The joy of reading [#]
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„What vintage nurse uniforms have to do with Darwin’s studies of animal emotions and Chinese war propaganda.“ [#]

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