der kandidat. (von 2008 zu 2009)

Im Januar ist unser neu gegründeter Verein (mein erster Verein, was das überhaupt bedeuten mag), im Januar also ist unser Verein „Elternzentrum Berlin“ lokaler Filmpartner eines sehr guten Dokumentarfilms über Autismus: „Ihr Name ist Sabine.“ Ich habe ihn bei der Berlinale dieses Jahr schon gesehen und in meinem alten Weblog seinerzeit auch besprochen.

Am 11. Januar wird der Film im Rahmen des „überMacht“-Filmfestivals gezeigt, veranstaltet von der gesellschafter-Initiative der Aktion Mensch. Das Filmfestival findet vom 9.-21. Januar in Berlin statt, ist allerdings ein bundesweites Festival und 2009 zu anderen Zeiten in vielen anderen Städten zu sehen, siehe Programm. Das Berliner Programm ist hier zu sehen, am 11. Januar ab 18:30 Uhr im Zeughauskino also der Autismusfilm „Ihr Name ist Sabine“ mit anschließender Podiumsdiskussion. Als „regionale Filmpartner“ dürfen wir vor allen Filmen des Festivals einen Informationsstand im Foyer betreiben, und bei der zentralen Auftaktveranstaltung am 16. Januar im Kino International einen Trailer zeigen. Den haben wir schon fertiggestellt, John ist darauf manchmal auch zu sehen, siehe Trailer.

Ob dieses ganze Engagement überhaupt etwas bringt, ist weiter dahingestellt. Zweimal haben wir uns im neuen Schuljahr bereits mit den Senatsvertretern getroffen, im Oktober und im Dezember, aber es ist eine mühsame Angelegenheit. Ein zweites Mal nach der Intervention im Frühjahr 2008 hat unser Protest allerdings dazu beigetragen, dass der Berliner Senat die Schulhelfer unserer Kinder nicht abschafft, vergleiche taz vom September mit taz vom Dezember. Was nach den nächsten Sommerferien ist, weiß niemand. Das Ringen, das im Januar 2008 begann, wird offensichtlich von Halbjahr zu Halbjahr neu ausgefochten, gesucht wird der längere Atem. Wenn der Senat sich da aber mal nicht täuscht, denn wenn Eltern schwerbehinderter Kinder sich auch nur irgendetwas haben aneignen müssen, dann genau das. Denn der lange Atem ist der kleine Bruder der Geduld.

Was nicht heißt, dass ich nicht trotzdem meine Zweifel habe. Johns Krise, die sich in unglaublichen Aggressionen manifestiert, verschiebt den Fokus. Durch seine Größe und Kraft kann John sich selbst und andere nun ernsthaft verletzen, und in den Momenten des Ausrastens hat er keinerlei Kontrolle über sich. Er hat Kinder in der Schule und im Schulbus angegriffen, besonders der Angriff im Schulbus war schlimm. Nun darf er nur noch mit Begleitperson im Bus mitfahren. Eine Zeitlang, als Arzt und Jugendamt den entsprechenden Antrag bearbeiteten, brachte ich ihn selbst zur Schule, immer mit der Angst, dass er mich auf der Fahrt im Auto attackieren würde. Zum Glück hat das Jugendamt den Antrag schnell bearbeitet und die Notwendigkeit einer Begleitperson anerkannt (wenn sie wirklich gebraucht werden, sind sie manchmal ja auch wirklich da, die Behörden), also kann John wieder mit dem Bus fahren. Das Busunternehmen musste seinen ganzen Fahrplan deshalb umstellen, aber wir sind wohl über den Punkt hinweg, dass einem jede Unannehmlichkeit peinlich ist, die man anderen verursacht.

Meine eigenen Arme sind von blauen Flecken und Kratzern übersät, gestern beobachtete ich im Supermarkt, wie eine Frau, die hinter mir an der Kasse stand, entsetzt auf meine Hand und meinen Unterarm starrte, als ich bezahlte und die Winterjacke dabei etwas hochrutschte. Ich fühlte mich gleich so, als müsse ich mich rechtfertigen. Was die Leute wohl denken, was das ist? Ich hätte eine Vene für Drogen gesucht, ich würde mich selbst verstümmeln? Ich wollte schon fast zu der Frau sagen: „Das war mein Sohn“, da fiel mir auf, dass diese Erklärung die Situation nicht gerade klären würde, also sagte ich einfach nichts. Man unterliegt sowieso sehr leicht einem Rechtfertigungszwang, man wird da irgendwie hineingebracht, und findet dann schlecht einen Ausweg, das wächst sich aus, bis man irgendwann nur noch und viel zu defensiv mit anderen Menschen umgeht.

Den einen Einzelfallhelfer hat John blutig gebissen, die beiden steckten an der Ecke Danziger Straße und Prenzlauer Allee fest, ich musste sie von dort mit dem Auto abholen. Die andere Einzelfallhelferin traut sich kaum noch, mit ihm alleine zu sein. Wer würde es ihr verdenken, ich traue mich ja selbst kaum noch, mit ihm alleine zu sein. Heute sind wir erstmals seit langer Zeit wieder alleine rausgegangen, John und ich, weil die letzten Tage Zuhause ganz okay waren, also wollte ich mit ihm nur kurz um die Ecke zur Stadtbibliothek, ein paar Bücher, Filme und CD’s zurückbringen. In der Schlange vor uns nur drei Leute, erleichtert dachte ich, das sei ja nun zu schaffen, aber dann ist John doch ausgeflippt, gerade als wir dran waren, riss heftigst in meinen Haaren und biss mich dabei in den Arm, bis es blutete. Wir hatten die Aufmerksamkeit aller anwesenden Bibliotheksbesucher, und das waren nicht wenige, alle starrten uns vollkommen entsetzt an. Hilfe angeboten hat natürlich keiner, aber andererseits: was sollen sie auch tun? Es ist nicht ihre Schuld, und sie kennen sowas nicht, sie wissen damit nicht umzugehen, man ist manchmal fälschlicherweise wütend auf die Leute um einen herum, das ist die nächste ungeeignete Reaktion neben dem Rechtfertigungszwang.

Nach unserer kostenlosen Darbietung einer Jahresendfreakshow in der Stadtbibliothek gingen wir wieder Nachhause, wo John schlagartig bestens gelaunt war. Am liebsten ist er Zuhause, aber wir können doch nicht ständig nichts tun. Der Übergang zurück in die Schule am nächsten Montag wird wahrscheinlich wieder ein Spaß, dann dauert es wieder zwei kämpferische Wochen, bis John sich eingewöhnt hat und die Schule akzeptiert, und dann sind in der ersten Februarwoche natürlich gleich schon wieder für eine Woche Ferien, nach denen das Spiel dann wieder von vorne beginnen kann. Die Schulferien sind für Kinder wie John eigentlich nicht gut, denn er wird ständig aus seiner Routine gerissen, und das verursacht so viele, gravierende Probleme. Am besten wäre, er hätte nur in den Sommerferien mal drei Wochen frei, und dann über die Feiertage im Dezember, aber dazu müsste viel mehr Personal eingestellt werden, und da sind wir wieder bei den Problemen der Behindertenbetreuung, an der die Politik so gerne spart.

Seit vielen Wochen versuchen wir nun schon, gemeinsam mit den Ärzten, Therapeuten und allen in die Pflege involvierten Personen, die Krise in den Griff zu bekommen, ohne Erfolg. Die Umstellung von Risperdal auf Dipiperon hat anfangs gut gewirkt, dann nicht mehr. Die Frage ist, ob man nun einen Schritt weiter geht, zum Beispiel Zyprexa probiert, die fast einzig gebliebene Alternative, aber dass man da in ein Wespennest sticht, ist einem schon vorher klar. Eine sehr gute Zusammenfassung zu den Zyprexa-Entwicklungen gibt es bei der Stationären Aufnahme. Es gab auch mal einen Bericht bei Frontal21. Mir ist das alles nicht recht, ich möchte eigentlich (gibt es nicht noch eine Steigerung des Kursivierens, ich brauche langsam umständehalber ein ultrakursiv), ich möchte also eigentlich überhaupt keine Psychopharmaka, ich möchte, dass mein Kind allein durch die Liebe seiner ihn umgebenden Menschen durch die Krise kommt, wie naiv ist das denn. Ich fühle mich, als müsste ich mich für die Medikamente rechtfertigen, da ist er wieder, der Rechtfertigungsszwang, der letztlich wohl nur durch die Diskrepanz entsteht zwischen Vorstellung und Wirklichkeit.

Im Supermarkt auch noch ein Gespräch gehört zwischen zwei Männern, die sich dort anscheinend zufällig trafen. Der eine sagte zum andern: „Meine Frau ist ja an einer Schule für geistig Behinderte. Also, wir mussten gerade mit unserer Kleinen zum Sozialpädiatrischen Zentrum, sie ist ja ein Frühchen, aber alles okay, mussten da nur die Augen überprüfen lassen, da trafen wir ein Mädchen, das meine Frau morgens noch in der Schule gesehen hatte, das Mädchen hat eine Epilepsie mit geistiger Behinderung, sie wirft sich immer selbst auf den Boden, ganz schlimm ist das, und diese Kandidaten gehen ja auch alle zum SPZ, solche Kinder sieht man dann da.“ Sein Gegenüber erwiderte: „Ja, da kann man immer nur froh sein, wenn man von sowas verschont bleibt.“ Letzterer Satz drückt wahrscheinlich ziemlich gut aus, warum wir durch Johns Krise in der Öffentlichkeit immer isolierter sind. Froh zu sein, verschont zu bleiben, lässt sich vielleicht am besten verwirklichen, wenn man damit möglichst erst gar nichts zu tun hat. Das Gespräch der beiden war aber gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Mir gefiel besonders der Begriff „diese Kandidaten.“ John, der Kandidat. Das ist er, wahrlich. Schläft gerade schon, der Kandidat, wird aber in einer Viertelstunde sicher vom Geböller wach.

Auf ein besseres two-thousand-and-nine: two-thousand-divine.

weihnachten 2008.

Und so ergab es sich an Weihnachten 2008, dass Vater, Mutter und Kind erkrankten. Nach drei Tagen und zwei Nächten der heiligen Familie unter dem Baum erhoben sie sich wieder von ihrem provisorischen Lager, schalteten die zu Weihnachten erhaltenen Staffeln von „Frasier“ aus und kehrten ins Leben zurück. [John mimte allerdings die ganze Zeit ein eher unruhiges Jesuskind, ein solches Energiebündel, auch im Kranksein, es ist unglaublich, was für eine Kraft in ihm steckt.]

hard candy christmas.

I’m barely getting through
tomorrow
but still I won’t let
sorrow bring me way down

[Alle krank, die Grippe nimmt keine Rücksicht auf Weihnachten, das passt zu den letzten Wochen, bald Monaten, von Johns aggressiver Krise, das passende Fest zu dieser Zeit also, so ein krankes Weihnachten. Aber man kann ja die Matratze ins Wohnzimmer holen und unter den Baum legen. We still won’t let sorrow bring us way down.]

Hard candy christmas: 1, 2

zeitungs- und zeitschriftenflash.

In der Novemberausgabe von „Theater Heute“ ein großes Foto von Felicia Zeller, auf dem die Brille etwas schief sitzt, mal schnell gegoogelt, kann man in klein auch online sehen. Jedenfalls hat mir das in Kombination mit dem Titel des Artikels „Kleine Schiebungen im Sinn“ einigermaßen gut gefallen. Vielleicht einen Tick zu augenfällig spielerisch, aber noch okay (was will man machen, müssen sich ja alle was einfallen lassen, die Printmedien).

In der „Zeit“ vom 11. Dezember sagt Karl Lagerfeld, dass er The year of magical thinking von Joan Didion toll fand. Als letztes hatte ich von ihm gelesen, dass er nichts von Krankheit, Leid und Geldsorgen hören möchte, um erstere beide Themen geht es aber in Didions tatsächlich sehr gutem Buch. Erstaunliche Wendung meiner Wahrnehmung von Karl Lagerfeld. Mal schnell gegoogelt, das Interview kann man auch online lesen. „Die Zeit“ ganz offensichtlich auf der Jagd nach Klickzahlen und Page Impressions, früher haben sie so ein Interview jedenfalls nicht in acht Seiten aufgeteilt (was will man machen, müssen sich ja alle was einfallen lassen, die Printmedien).

In der Dezemberausgabe des „ExBerliner“ steht über die Choriner Höfe: „According to their website, the Höfe are a hot spot for people who have made the decision to lead a self-determined life, but contradictorily goes on to confirm that buyers are people who want to ‚make brands‘ and ‚be there when it happens.‘ In April this year, the site even stated that future homeowners ‚will work and produce on balconies … while listening to the Kaiser Chiefs, the Beatsteaks or Bloc Party on their iPods.‘ It’s a sinister day indeed when you realize that you are little more than an accessory to your apartment.“ (Der ExBerliner ist so herrlich trocken und treffend, dass er sich keine Kinkerlitzchen einfallen lassen muss.)

Posts navigation

1 2 3
Scroll to top