Tim Parks hat ein Buch über Prostataprobleme geschrieben, aber das stimmt eigentlich nicht, denn es ist auch ein Buch übers Kajakfahren (Frau Sopran!), über Meditation, über Samuel Beckett und vieles mehr.

Was mich an dem manchmal etwas lang geratenen Buch am meisten interessiert hat, waren die Beschreibungen über Meditation als geistige Disziplin jenseits der Sprache. In der Auseinandersetzung mit seinen Prostataschmerzen, für die die Schulmedizin keine Erklärung finden konnte, wurde Parks in der Meditation bewusst, dass jede seiner gezielten geistigen Aktivitäten seit Jahrzehnten eine linguistische gewesen war, alle Handlungen waren mit Worten unterlegt, ja: wurden erst durch Worte erfahrbar: „Wenn ich ein Gemälde oder einen Film sah, versuchte ich sofort, seine Vorzüge und Mängel in Worte zu fassen. Mein Gehirn spuckte eine Rezension aus, einen kritischen Aufsatz. Mein Hauptvergnügen an Filmen und Gemälden bestand genau in dieser verbalen Umsetzung danach. Sogar währenddessen. […] Alles musste durch die Sprache gelebt werden, sonst wurde es nicht richtig gelebt; das ging so weit, dass ich ein Bild oder einen Film (oder auch ein Fußballspiel) gar nicht wirklich gesehen hatte, ehe ich nicht in Worten darüber nachgedacht oder besser noch gesprochen oder am allerbesten geschrieben hatte. […] Dann besaß ich das Geschehene. […] Eine Folge dieses ganzen Geschwätzes war, dass ich mir nie vorstellen konnte, dass es harte geistige Arbeit gab, die ohne Worte auskam, Arbeit sogar, bei der Worte ein Hindernis darstellen können.“ (191f.)

Später führt er das Problem, das ihm dadurch entstanden ist, näher aus: „Die Sprache baut Dome, und dann weitere Dome obendrauf, während die ersten verfallen. Weil Worte nie still sind. Der Anfang eines Satzes weist nach vorne, das Ende verlangt, dass man sich des Anfangs gewahr ist. Ein Absatz führt zum anderen und eine Seite zur nächsten. […] Beim Tippen eilen meine Gedanken meinen Fingern voraus. Werden vorangetrieben. Sind nie im Jetzt. Nie im Moment verankert. […] Man verliert den Zugriff auf die Dinge, wie sie sind. Aber dieses zweite Leben ist zwanghaft. Man kann es nicht lassen. Eine wirbelnde Wortmaschine erhebt sich von der schweren Oberfläche aus Erde, Zement oder Haut. Geist und Körper trennen sich. Man ist plötzlich auf dem Blatt heimischer als auf dem Pflaster, im Netz heimischer als auf der Straße. Der Geist wird zum Ich. Der Körper ist nur Vehikel.“ (232f.)

Kein Wunder, dass ihn diese Überlegungen von Aristoteles („Es kommt nicht darauf an zu lernen, sondern ein Gefühl zu erleben und sich in einen bestimmten Zustand zu begeben“, 268) bis zu Becketts Trilogie Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose führen („Alles Schreiben ist eine Sünde wider die Sprachlosigkeit, hat Beckett gesagt“, 305).

In der Meditation gelingt es Parks schließlich, die Trennung von Geist und Körper – und auch seine Schmerzen – zu überwinden, schön geschildert in einer Szene am Frühstückstisch nach einigen Tagen im Retreat: „Alles war ganz es selbst, gab Anlass sowohl zum Staunen als auch zur Gleichgültigkeit. Verstreute Krümel, verschüttete Milch. Ich starrte alles an. Wie bei einem Cézanne war jeder Gegenstand befreit vom Geflecht menschlicher Interpretation. Eine Tasse neben einer Melonenspalte. Ganz sie selbst. Ich benutze jetzt die Worte – Tasse, Melone – aber damals war mein Geist wortlos. Die Tasse, die Melone waren Dinge ohne Worte, standen nicht in einem Zusammenhang, waren nicht Teil eines Satzes oder einer Geschichte. Und es gab keine Distanz zwischen uns. Ich war in der Tasse, ich war klebrig von der Melone.“ (324)

Am meisten hat mich daran verblüfft, dass die Erfahrungen geradewegs in Beschreibungen führen, wie man sie auch von Autisten liest: die Aufhebung der Trennung zwischen sich und der Welt, die unmittelbare Erfahrung der Dinge, die permanente – dabei aber wortlose – Kommunikation der Sinne mit allem, was ist: Geräusche, Licht, Farben, Gerüche, Texturen, Gegenstände, Menschen; die Menschen aber immer nur ein Teil des Ganzen. Die schwierige oder unmögliche Verortung des Selbst in diesem Getümmel der Wahrnehmung, beim Autisten als Problem angesprochen, wird bei Parks zur Lösung eines Problems. Erstaunlich, ganz erstaunlich.

„Aber während die Worte und die Gedanken sich aus dem Kopf verflüchtigen, wird das Ich schwächer. Es gibt keine Geschichte, die es nährt. Wenn die Wörter verschwinden, ist es gleichgültig, ob man in Verona oder in Varanasi ist. Ob es Abend oder Morgen ist, ob man jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich ist, in der Stille, im Dunkeln, in der Ruhe, nicht so wichtig. Ebenso wie Geister, Engel oder Götter ist das ‚Ich’, so stellt sich heraus, eine Einbildung, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Es braucht die Sprache, um zu überleben. Die Wörter erzeugen Bedeutung, die Bedeutung Absicht, die Absicht Geschichte. Aber hier gibt es für eine kurze Weile keine Geschichte, keine Erzählung, keine Täuschung. Hier gibt es Stille und Hinnahme; die Wonne eines Raums, der nicht mit Bedeutung gefüllt werden muss. Wenn das Bewusstsein achtsam ist, den Leib, den Atem, das Blut ganz wahrnimmt, erlaubt es dem ‚Ich’, sich davonzuschleichen.“ (362f.)

das weisse buch.

Gelesen: Das weisse Buch von Rafael Horzon. Einfach super. Ich hatte schon ewig nicht mehr ans Berlintokyo gedacht, quasi unser Zuhause seinerzeit, dabei hängt die Kartoffelfamilie von 4000 sogar noch in unserer Küche. Aber nicht nur wegen des Berlintokyo, das Buch ist sowieso einfach großartig lustig. Genau das, was ich nach der Axt für das gefrorene Meer in mir gebraucht habe.

Was Alex Rühle sagt: „Endlich mal wieder ein Buch, nach dessen Lektüre das ganze Leben leichter wirkt. Dazu noch ein Sachbuch. Oder ist es doch ein Roman? Eine Autobiographie? Egal, jedenfalls blickt man sich nach der Lektüre verwundert im eigenen Alltag um und versteht für einen Moment lang gar nicht, warum man sich die ganze Zeit derart viele Sorgen macht.“ [#]

Ich hatte ein bisschen Angst, dass mir das Buch nicht so sehr gefallen würde, war es doch ausgerechnet mir als großer Tex-Fanin leider mit „Ramses Müller“ so ergangen, aber „Das weisse Buch“, herrlich.

Interview mit Rafael Horzon [#]

die axt für das gefrorene meer in uns. [a propos überdosis weltgeschehen]

In der Reihe „World’s Untold Stories“ zeigt CNN im Moment einen schwer anzusehenden Dreiteiler: Locked Up and Forgotten über geistig behinderte Menschen in Kenia. [#]

Gleichzeitig kommt immer mehr darüber heraus, wie in den USA noch bis vor 40 Jahren an Behinderten und Gefangenen medizinisch experimentiert wurde:
Past medical testing on humans revealed

Die LA Times berichtet über die Ausbeutung von Behinderten in China:
China’s disabled exploited as slaves

In Großbritannien und in Deutschland werden die Leistungen für Behinderte gekürzt, die Hartz IV-Reform sieht vor, dass erwachsenen Behinderten, die Zuhause leben, 20% ihrer Leistungen gekürzt werden. Die SPD behauptete zwar mal herum, diesbezüglich gäbe es mit ihr keine Einigung, letztlich hat Frau Schwesig es dann aber doch mitgetragen, das nehme ich ihr sehr, sehr übel. [#]

Wegen der Afrika-Doku bin ich gleich in die Bibliothek und habe mir aus der Geschichte der Empfindlichkeit von Hubert Fichte Psyche. Annäherung an die Geisteskranken in Afrika ausgeliehen. Darin der so richtige Satz: „Jeder Krankheitsfall ist die Begegnung zweier geschichtlicher Abläufe: der Geschichte der Persönlichkeit und der Geschichte der Gesellschaft, in der die betreffende Person lebt.“

Weil das alles eh schon so unfassbar schlimm war, habe ich dann auch noch gleich gelesen: Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen ‚Euthanasie’, ein umfangreicher Einblick in die Funktionsweise und Durchführung der Aktion T4. Darin erwähnt: Kafkas Diktum der Bücher, die die Axt für das gefrorene Meer in uns sind, aber was man dann macht, wenn die Axt in Büchern, Artikeln und Dokumentationen das Eis zerhackt, da bin ich auch ratlos.

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