die legende der dritten generation.

In „Die Legenden der Väter“ schreibt Kolja Mensing über die Suche nach seinem polnischen Großvater, den er nur aus Erzählungen seines Vaters kennt. Während eines Stipendiumsaufenthalts in Krakau besucht Kolja Mensing die Schwester des Großvaters und beginnt damit, seine Geschichte genauer zu recherchieren. Die Erzählungen über dessen Leben müssen im Zuge der Recherche immer wieder revidiert werden, der Großvater hatte sich seine vom zweiten Weltkrieg geprägte Biographie offensichtlich zu großen Teilen erdichtet, hatte geschönt, weggelassen und in einigen Fällen schlichtweg gelogen. Die Suche gerät unweigerlich zu einer Entzauberung, wenn nicht gar zu einer Demontage. Doch der Autor bricht die Suche nicht ab, er schont weder sich noch seinen Vater vor dem Ergebnis.

Im Laufe der Familienforschung wird Kolja Mensing bewusst, wie auch sein Vater ihm von der Kindheit in der Nachkriegszeit im norddeutschen Fürstenau zunächst ebenfalls sehr selektiv erzählt hatte. Die abenteuerlichen Geschichten des Vaters über Streiche und Stromern, die an Tom Sawyer erinnern, und die er dem kleinen Sohn als Gutenachtgeschichten erzählte, erwähnten die Gewalttätigkeit der alleinerziehenden Mutter nicht, wie auch nicht das ganze, große Geflecht schwieriger Familienbeziehungen in einer Zeit, in der nach dem Krieg viele Menschen auf engem Raum unter einem Dach zu leben gezwungen waren. In den Erzählungen kamen die Schwierigkeiten eines unehelichen Kindes nicht vor, das als Polenkind groß wurde in einer Gesellschaft, die Beziehungen zwischen polnischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen verachtete. Die Tom Sawyer-Geschichten werden erst im Laufe des Aufwachsens angereichert durch diese Dimensionen. Dies ist wohl insofern eine übliche Entwicklung, als die meisten Kinder im Laufe ihres Aufwachsens langsam immer mehr über die Familie erfahren. Dass die Legenden des Vaters mit den Legenden des Großvaters verknüpft sind, macht aber das Besondere auch dieses Erzählstrangs aus.

Für Enkel wird die Beziehung zur Generation der Großeltern wohl meistens teilweise mittelbar über die Eltern geprägt, aber im Falle eines abwesenden Großelternteils ist die Beziehung des Enkels zum Großelternteil jeglicher unmittelbaren und vom Elternteil unabhängigen Dimension beraubt. Der Vater hatte es in den schwierigen Umständen seiner Kindheit vielleicht gebraucht, den eigenen Vater zu idealisieren, der längst zurück nach Polen gegangen war. Ihm war das Phantom nützlich, dem Enkel nicht. Der musste erst hinter die Erzählungen des Vaters gelangen, um zum Großvater vorzustoßen, und dann wiederum hinter die Erzählungen des Großvaters gelangen, um die Familiengeschichte zu verstehen. Eine enorme Aufarbeitungsaufgabe, an der Kolja Mensing fast zehn Jahre gearbeitet hat, und die ein faszinierendes Bild dreier Generationen ergibt. Aus der Aufarbeitung der Legenden der beiden vorigen Generationen entsteht in diesem Buch, fast nebenbei und zuerst fast unbemerkt, die Legende der dritten Generation.

Kolja Mensings Buch ist eine Mischung aus Sachbuch und Fiktion. Der Autor hat all die neuen Informationen, die er in Gesprächen mit Verwandten und aus Archiven in Großbritannien, Polen und Deutschland über Jahre hinweg zusammengepuzzelt hat, nicht einfach nur nüchtern wiedergegeben, das wäre immerhin auch eine Möglichkeit gewesen. Er hat sich dazu entschlossen, die neuen Informationen in eine Erzählung zu gießen, die am Ende ebenso fiktiv und subjektiv ist, wie es die Erzählungen des Vaters und Großvaters waren. Die atmosphärische und erzählerische Tiefe, mit der er die neue Geschichte des Großvaters erschafft, ergibt eine neue Legende. Wie sich der polnische Großvater Jozef und die deutsche Großmutter Marianne in Fürstenau kennenlernen, beschreibt er zum Beispiel mit vielen Details, das Laub knistert unter den Füßen, Jozef kramt in der Jackentasche nach einer Zigarette. Kolja Mensing kann nicht wissen, wie es früher genau war, aber aus den Informationen, die er recherchiert hat, erschafft er ein neues Bild davon, wie es gewesen sein könnte, und in der erzählerischen Dichte, mit der er dies tut, erweist er sich als Sohn seines Vaters und Enkel seines Großvaters. Auch er hat in gewisser Weise ein Denkmal erbaut, ganz besonders in den Passagen des Kennenlernens von Jozef und Marianne bis hin zur Zeugung des Kindes: diese Passagen sind so literarisch erzählt, dass sie zur Legende des eigenen Ursprungs werden. Hier erschafft ein Autor die grundlegende Erzählung: die, woher er kommt, und hier erzählt wiederum ein Vater, so wie seinerzeit sein eigener Vater und noch davor sein Großvater erzählt haben. Die Legenden dreier Väter: am Ende ein Buch von vier Generationen.

Nächste Lesung: diesen Freitag, 28. Oktober ab 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin.
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the balkan travelogue [10.-24. september].

Wir haben am zehnten Jahrestag von 9/11 in München 134 US-Amerikaner und Kanadier am Flughafen eingesammelt.
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Wir sind in Passau so gerade noch rechtzeitig auf das Schiff gekommen, bevor es ablegte.
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Die Donau: der einzige Fluss Europas, der nach Osten fließt.
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Unser Schiff: 110 Meter lang. Unsere Reiseroute: Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland.
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Ich nenne es Arbeit.
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Ich habe nach der ersten Nacht an Bord morgens um halb sechs auf dem Sonnendeck das erste Mal erlebt, wie das Schiff langsam durch den Fluss in den Sonnenaufgang hineingleitet. Wie schön das ist.
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Wir haben eine Führung durch den Stift Melk gemacht.
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Ich habe eine junge Frau gesehen, die den Blick von Dürnstein auf die Donau malte.
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Ich habe einen unseren Reisenden in Österreich tagträumend in den Weinbergen wiedergefunden.
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Wir sind durch die Wachau gefahren.
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Ich bin durch Wien gelaufen, aber am meisten habe ich in Wien in Telefonzellen gestanden und mit Deutschland telefoniert.
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Wir haben in Bratislava einen Vortrag über den slowakischen Übergang in die Marktwirtschaft gehört, im Vergleich erschien mir die deutsche Treuhand plötzlich vergleichsweise gelungen.
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Nach einem vollen Tag in Budapest hat unser netter Kapitän abends noch eine Extratour „Budapest bei Nacht“ ins Programm genommen.
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Wir haben in Kalocsa in Ungarn das Paprika-Museum besucht und in Solt auf einem Gestüt gesehen, wie ein Reiter stehend ein Gespann von fünf Pferden reitet.
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Ich habe Aprikosenschnaps getrunken.
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In Mohács wurde das ganze Schiff einem absurden, halbherzigen Face-Check unterzogen, danach störten die ungarischen Zollbeamten absichtlich unseren Vortrag „The Politics of Race and Religion in Europe,“ nur weil sie es eben konnten, weil sie die Macht dazu hatten. Ohne ihr Okay würde das Schiff nicht weiterfahren können, also setzten sie sich in die Lounge, ließen sich bewirten und redeten so laut, dass es den Vortrag störte, und als Reisende sie baten, leiser zu sein, wurden sie stattdessen noch lauter. Es ging im Vortrag gerade um Machtmechanismen im Nationalsozialismus, ein Reisender dazu: „You couldn’t escape to notice the irony of the situation.“ Ungarn 2011.
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Wir sind bei bestem Wetter mit der aufgehenden Sonne nach Belgrad eingefahren, und die Stadt hatte schon gewonnen.
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Immer wieder die Sonnenaufgänge. Auf der Donau sollte man immer nach Osten fahren.
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Ich habe im Belgrader „Café Fragezeichen“ einen traditionellen Kaffee getrunken, eines der Überbleibsel der osmanischen Herrschaft.
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Der serbische Historiker, der immer wieder die „gleichwertige Schuld“ aller ex-jugoslawischen Länder betonte und kein Wort über Srebrenica verlor.
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Das Ablegen in Belgrad um elf Uhr abends unter Beats entlang lebhafter Clubs am Flussufer ähnlich magisch wie die Ankunft bei Sonnenaufgang.
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Wie sind durch das Eiserne Tor gefahren.
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Wir haben ein rumänisches Wasserkraftwerk besichtigt.
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Rumänien, tatsächlich ein kleiner Kulturschock, wohl für alle Beteiligten, denn bei unserem Andocken in Drobeta Turnu Severin kam gefühlt das halbe Dorf zum Hafen. Wir waren anscheinend genauso interessant für sie wie umgekehrt.
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Ich habe halbfertige Parkanlagen gesehen, anscheinend EU-Förderprojekte, wie wir hörten, die unfertig abgebrochen würden, sobald das Geld gezahlt wurde. Ich hörte auch, dass die Blumen und Bäume binnen vier Wochen ausgegraben werden und ihren Weg in Privatgärten finden. Ich kann nicht abschätzen, was wahr ist von dem, was ich höre, aber was ich sah: wie trostlos es noch ist.
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Ich habe die Stadtführerin in Turnu Severin gefragt, was aus den Mitarbeitern der Securitate geworden ist, sie wurde bleich und fragte erschrocken: „Do I have to talk to people about that?“ In keinem der Länder erlebte ich einen Umgang so offen, wie ich es aus Deutschland zur Stasi gewohnt bin.
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Wir haben die Festung Baba Wida besichtigt.
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Wir haben im bulgarischen Widin nach acht Nächten auf dem Schiff die Donau verlassen und sind mit dem Bus weitergefahren, zunächst nach Sofia, Mittagessen in Belogradtschik.
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Die Suppe für 137 Personen wurde mit Ankunft des ersten Busses für alle serviert, auch wenn die anderen drei Busse noch gar nicht da waren. Mit vier Reisebussen voller Nordamerikaner durch Rumänien und Bulgarien zu fahren, das ist schon noch „off the beaten track.“
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Sofia war toll, nicht zuletzt das Internet im Sheraton, endlich wieder Internet.
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In Bulgarien heißen die Raststätten „Happy.“
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Ich habe mich mit einem jüdischen Arzt über die deutsche Seele unterhalten. Er hatte mich nach meinem Vortrag in Sofia gefragt: „Do you think Germany’s soul can recover after what happened to it during the 20th century?“ Er verglich Deutschland mit einem Patienten, der dem Tod gerade noch entgangen sei. Wie kann die Seele des Patienten das verarbeiten?
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Do you think Germany’s soul can recover after what happened to it during the 20th century? (Die Frage geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf.)
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Ich habe einen Vortrag über die Geschichte Bulgariens gehört und gemerkt, wie beschämend wenig ich über die Geschichte Bulgariens wusste, eines Landes immerhin, das gar nicht weit weg von Deutschland, und zudem Teil Europas ist.
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An Christoph Ransmayrs Buch aus dem Anfang der Neunziger gedacht, zumindest für mich anscheinend immer noch treffend betitelt: „Im blinden Winkel.“ Nachrichten aus Mitteleuropa.
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Wir sind mit dem Bus von Sofia nach Thessaloniki gefahren, mit Zwischenstopp im Kloster von Rila.
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Das Rila-Kloster wieder so ein Ort, der trotz Regen wunderbar war (erst der zweite Regen der Reise, der erste: Bratislava).
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Ich habe mich darüber gewundert, dass Ikonen aus dem 15. Jahrhundert im Klostermuseum vollster herkömmlicher Halogenbeleuchtung ausgesetzt werden. Keinerlei konservatorische Maßnahmen zu erkennen.
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Ich habe in Thessaloniki drei Demonstrationen gesehen, und abends auf der Straße tanzende Menschen.
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Ich habe in Tavernen gesessen und Mezes gegessen.
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Ich habe in der Altstadt von Thessaloniki einen Mann gesehen, der einen Sarg auf dem Rücken über die Straße trug.
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Ich war beeindruckt vom neuen archäologischen Museum in Pella.
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Ich habe das Philipp-Grab gesehen und im Innern des Großen Tumulus ist mir schwindelig geworden.
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Ich habe von einem Biobauern in Vergina eine Tüte leckerster Nektarinen geschenkt bekommen.
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Beim Farewell Dinner haben wir stehende Ovationen bekommen, was wirklich selten ist (und ziemlich rührend, wenn über 100 Leute aufstehen und begeistert klatschen).
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Der jüdische Arzt schenkte mir zum Abschied das Buch „Einstein’s German World“ von Fritz Stern, mit einer schönen Widmung. (Chapter seven is my talk, apparently. Looking forward to reading it.)
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Ich habe noch nie so viel über Deutschland nachgedacht wie auf dem Balkan.
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Ich habe in zwei Wochen nur ein einziges behindertes Kind gesehen (Fußgängerzone in Belgrad).
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Zuhause hat das Kind in der Zwischenzeit die 1,60 m-Marke geknackt.
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Eine schöne, aber auch sehr arbeitsreiche und anstrengende Reise.
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Fotos [#]

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