far from the tree.

Ich lese gerade Far from the Tree von Andrew Solomon. Auf 962 Seiten porträtiert Solomon Familien mit Kindern, die auf die eine oder andere Weise anders sind als ihre Eltern. Die Prämisse des Buches ist, dass Kinder und Eltern in vielerlei Hinsicht ähnliche Erfahrungsgrundlagen haben, vertikale Identitäten, wie Solomon es nennt, und dass sich Veränderungen ergeben, wenn es entscheidende Bereiche gibt, in denen das Wesen sehr unterschiedlich ist, horizontale Identitäten. Das sind im Buch zum Beispiel Gehörlosigkeit, Kleinwüchsigkeit, Down-Syndrom, Autismus, Schizophrenie, Schwerstmehrfachbehinderung, Wunderkinder, Kind nach Vergewaltigung, Transsexualität.

Was für ein Aufwand dahinter stecken muss, all diese Themen zu recherchieren und Familien kennen zu lernen. Solomon umgeht viele Fallen, zum Beispiel sprachlicher Art. Er versteht die Diskurse rund um die Behindertenrechtsbewegung, er hat sich wirklich da rein begeben. Es gibt viel Positives über das Buch zu sagen, aber es gibt auch ein paar Probleme. Jessa Crispin hat geschrieben, dass sie über die Mütter nicht hinwegkommt. Sie seien ihr zu wenig ambivalent, und das geht mir genauso.

Andererseits ist genau das auch ein Problem, das ich beim Schreiben meines eigenen Buches habe. Es ist wahnsinnig schwierig, Ambivalenz auszudrücken, ohne respektlos gegenüber dem Kind zu sein. Mein Agent sagte mir mal, dass die Schwierigkeiten mehr Platz bekommen sollten, weil ich doch im Exposé ausdrücklich sage, ich wolle über beide Seiten schreiben. Das stimmt, aber es ist heikel, weil ich das Schwierige nicht John anlasten möchte. Ich glaube, ich habe in der Zwischenzeit einen Weg gefunden, aber das hat gedauert, und ob es wirklich gelungen ist, kann ich natürlich auch nicht beurteilen.

Es gibt anscheinend, wenn man über horizontale Identitäten nachdenkt, so etwas wie typische Fallstricke, oder typische blinde Flecken. Nicht ohne Grund gibt es bestimmte Narrative, wie die verzweifelte Betroffenheitsliteratur oder umgekehrt die Heile-Welt-Erfolgsgeschichte. Ohne Ambivalenz ist es deutlich einfacher.  

Einen weiteren Punkt, den Jessa nennt, habe ich auch so empfunden: dass Solomon in seiner eigenen Geschichte (seine horizontale Identität ist, dass er schwul ist) Details zu sehr aufbläst, zum Beispiel, dass er als kleiner Junge einen pinkfarbenen Luftballon haben wollte, aber die Mutter ihn dazu überredete, einen blauen zu nehmen. Als er es das erste Mal erzählte, fand ich das interessant. Das Problem ist, dass er das Beispiel immer wieder bringt. Irgendwann denkt man sich: „Get over the balloon, already“, aber das ist natürlich unfair. Offensichtlich ist es ihm so wichtig, dass er es wiederholt erzählt. Das Problem ist ein Hang zur Überbetonung, dem man, glaube ich, ganz leicht erliegt. Zumindest habe ich auch das bei mir selbst bemerkt. Überbetonung wird irgendwann eher kontraproduktiv. Wenn man ständig auf der Andersheit rumreitet, dann erschwert das eine Akzeptanz eher, als es sie erleichtert. Man vergrößert damit ja auch einen imaginären Graben.

Noch ein blinder Fleck, der mir bei mir aufgefallen ist, ist, dass John leicht zu blass bleibt. Weil er nicht spricht und ich nicht weiß, was er denkt und fühlt, ist es schwierig. Ich kann und will ihm nichts in den Mund oder in den Kopf legen, ich kann nur von außen betrachten, meine Beobachtung schildern, versuchen zu verstehen. Das ist manchmal etwas mühsam, glaube ich. Das Problem war am Anfang sehr groß, ich glaube, so langsam bekomme ich das besser in den Griff.

Erstaunliche Dinge ergeben sich beim Schreiben, es gibt so viele unerwartete Aspekte, die tatsächlich auch zurückreflektieren auf meine Wahrnehmung unseres Lebens. Das Buchprojekt hat sich über die Zeit, fünf Jahre arbeite ich nun schon daran, immer wieder verändert. Zwei Jahre lang habe ich fast nur recherchiert und gelesen, und dann dachte ich, ich hätte einen ziemlich guten Überblick über den Autismusdiskurs und habe alles mögliche dazu aufgeschrieben, aber dann funktionierte das irgendwie nicht. Es war erstens mal viel zu akademisch (wahrscheinlich, weil ich dem Schreiben an der Uni noch zu nah war) und außerdem war es mehr oder weniger eine Zusammenfassung des Diskurses. Das war so ein bisschen meh.

Es fehlte auch deutlich das Persönliche, das wurde mir mit der Zeit immer klarer. Ich hatte das alles ja nicht grundlos recherchiert und gelesen und geschrieben, sondern weil es mich zutiefst betrifft. Ich dachte immer mehr, dass es eigentlich feige ist, sich hinter einer totalen Sachperspektive zu verstecken, als behandele man das jetzt mal eben alles ganz distanziert, wissenschaftlich oder journalistisch. Das war es ja nicht. Also schmiss ich alles über den Haufen und nahm das Persönliche rein, und dann stieß ich auf ganz viele Probleme. Wie schnell das nach Jammerei klingt, oder nach Eigenlobhudelei, wie öde viele Themen sind (ich sage nur: Schulsuche), wie schnell man Wertungen vornimmt, wo sie gar nicht gemeint sind. „Man Wertungen vornimmt“? Auch das: wie schwer es ist, im Text ein starkes Ich zu entwickeln, ohne zu viele Ironien oder zu viel Um-den-Brei-Schleichen, weil /man/ nicht sagen möchte, was /man/ denkt. Andererseits natürlich, sobald das Ich im Text stark ist, die Gefahr, dass das in eine zu starke Betroffenheitsperspektive abrutscht.

Jetzt bin ich bei der Halbzeit der englischen Version, doktere an den sieben angeblich fertigen Kapiteln aber ständig noch rum, sobald mir wieder auffällt, wo noch ein Fallstrick liegt. Eigentlich sollte ich das mal in einer Lesegruppe vorstellen und Kritik erbitten, denn alle blinden Flecke kann ich nicht selbst finden, sonst wären sie ja keine blinden Flecke. Wenn jemand eine Idee hat, wo das mit einem englischen Text in Berlin möglich wäre, bitte gerne melden.

Im Großen und Ganzen ist das Buchprojekt mittlerweile, und gerade innerhalb der letzten vier Wochen, viel persönlicher geworden, als ich es gedacht hatte. Ich kann glücklicherweise viel von meinem alten Text einbinden, und trotzdem wird es jetzt ganz anders. Manchmal ist das toll. Manchmal aber auch eher nicht, denn es bleibt natürlich immer die Frage: will ich dies oder das wirklich erzählen. (Da geht es mir wie Caro.) Vielleicht ist es tatsächlich eine ganz gute Schicksalsfügung, dass kein Verlag daran interessiert ist. So als Selbstpublikation und Print-on-Demand ist es auch in der eigenen Wahrnehmung niedriger aufgehängt. (Immer, wenn ich zweifle, weil wir nur Absagen bekommen, sagt Scott: „Who cares, we’re doing this for us.“)

Halbherzig funktioniert es jedenfalls für mein Gefühl nicht. Ich habe kürzlich das Buch Familienstand: Alleinerziehend gelesen. Es gibt kein Ich in dem Buch, und zudem ist alles pseudonymisiert und anonymisiert. Es gibt ein paar Flüchtigkeitsfehler in diesem Prozedere, ein Sohn wird zur Tochter (S. 78), eine Kathrin V. zu Kathrin M. (S. 99), eine Mutter, die in Leipzig wohnt, wird auf Berlin bezogen (S. 105), das ist mir jeweils sofort ins Auge gefallen, weil ich innerlich so sehr damit gehadert habe, dass das so wenig echt oder aufrichtig schien. Außerdem fehlte mir sehr die persönliche Perspektive der Autorin. Natürlich verstehe ich, dass die Mütter sich nicht so exponieren möchten, ganz klar, aber was bleibt dann am Ende? Deshalb und umso mehr weiß ich es zu schätzen, dass sich im Buch von Andrew Solomon die Familien diesem Projekt mit ganzem Herzen zugewendet haben. Das kann nicht einfach gewesen sein, und das respektiere ich sehr.

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