tddl 2013 [autoren & veröffentlichungen].

Wenn ich mir die Autoren und ihre kommenden Veröffentlichungen ansehe, kann ich mich des Marketing-Eindrucks des Bewerbs nicht erwehren.

Von Hannah Dübgen erscheint im August 2013: „Strom.“
Von Roman Ehrlich erscheint im August 2013: „Das kalte Jahr.“
Von Heinz Helle erscheint im Frühjahr 2014: „Brixen.“
Von Anousch Müller erscheint im August 2013: „Brandstatt.“
Von Katja Petrowskaja erscheint im März 2014: „Vielleicht Esther.“
Von Philipp Schönthaler erscheint im Juli 2013: „Das Schiff, das singend zieht auf seiner Bahn.“

Ich finde es sehr verständlich, dass die Verlage Autoren in den Bewerb zu bringen versuchen, von denen bald neue Bücher erscheinen. Ein Preisgewinn-Sticker auf dem Cover lässt die Verkaufzahlen sicher in die Höhe schnellen. Ich wünschte mir nur, dass die Juroren sich etwas unabhängiger davon machten, denn ihr Interesse ist doch (hoffentlich) ein anderes als das der Verlage. Mir scheint, Burkhard Spinnen setzt sich noch am meisten von der Kommerzialisierung ab.

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Jedes Jahr ist es wieder ein Problem, dass im Bewerb so viele Romanauszüge gelesen werden. Jedes Jahr stoßen die Juroren an Grenzen in der Beurteilung von Texten, weil sie Fragmente nicht außerhalb ihres Zusammenhangs einschätzen können. So viele Diskussionen und Spekulationen hat es damit verbunden schon gegeben. Uns wird vielleicht in diesem Jahr nichts anderes erwarten. Nur in einem Fall der oben genannten sehe ich diese Gefahr nicht dräuen, denn Heinz Helle hat Teile seines Romans „Brixen“ bereits veröffentlicht und hat mit dem Romanprojekt auch am Alfred-Döblin-Preis teilgenommen – zwei Ausschlusskriterien der Teilnahme-Statuten, er wird also einen anderen Text lesen. Bei den anderen weiß man es noch nicht, aber ich erwarte nun wieder viele Romanauszüge.

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Von Larissa Boehning möglicherweise auch, denn sie las in letzter Zeit in einer Rechtsanwaltskanzlei, sowie auch in Wewelsfleth aus ihrem in Arbeit befindlichen, aber noch unveröffentlichten Roman „Zucker.“ Die Geschichte wird so beschrieben: „Juliane verliebt sich in Mattis. Der entzieht sich ihr und erschleicht erst das Vertrauen, die Liebe und dann das Vermögen von Annemarie, die vom Alter her seine Mutter sein könnte.“ Huch, klingt wie eine Telenovela.

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Nikola Anne Mehlhorn liest laut ihrer Website einen Text mit dem Titel „Requiem der Vierzigjährigen.“ Das macht mir ein bisschen Angst, weil es so nach Mittvierzigerblues einer wohlsituierten Akademikerfrau klingt, die spät Mutter wurde und irgendwelche Sorgen daraus konstruiert. In der Zwischenzeit fand ich aber eine Hördatei von „Salzflut,“ die mir besser gefiel als der Staccato-Text der kurzen Sätze. Es klingt vorgelesen für mich sehr anders. (Frage mich, warum sie es nicht so schreibt, wie sie es liest.)

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Schönes Weblog von Anousch Müller, habe ich gleich abonniert. [#]

tddl 2013 [joachim meyerhoff & zé do rock]

Mit Zé do Rock konnte ich mich nur mäßig anfreunden. Im Einzelnen war „jede sekunde stirbt ein nichtraucher“ oft lustig, einfallsreich, spielerisch, aber auf Dauer hat es mich dann doch eher ermüdet. (Ich bin aber gespannt auf den Unterhaltungswert. Aus irgendeinem Grund musste ich gleich an Bodo Hell und die Maultrommel aus dem Bewerb 2006 denken.)

[Schöne Definition aus „jede sekunde stirbt ein nichtraucher:“ „befehl – eine bitte wo das ‚bitte‘ fehlt.“]

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Sehr gut fand ich Joachim Meyerhoffs „Alle Toten fliegen hoch. Teil 1: Amerika.“ Ich las es gleich nach Nikola Anne Mehlhorns „Salzflut.“ Nach deren abgehackten Stil und permanent wertender und abwertender Haltung empfand ich die ausformulierten, ruhig auch mal längeren, dabei aber immer sehr klaren Sätze von Meyerhoff als eine Wohltat. Auch gefiel es mir sehr, dass der Text überhaupt nicht so gewollt bedeutungsschwanger ist, dabei aber immer sehr wohl Tiefe hat. Der Blick auf das Erzählte bleibt gänzlich ohne Bewertung und so kann Meyerhoff absurde Vorkommnisse oder Charaktere erzählen, ohne dass diese dabei bloßgestellt werden. Das ist alles sehr schön gemacht. Ich freue mich schon auf den zweiten Teil, den ich mir gleich in der Bibliothek bestellen werde, wenn ich nach Berlin zurückkomme. Ich erkläre Joachim Meyerhoff hiermit für meine Begriffe zum ersten heißen Bewerbsanwärter.

tddl 2013 [autoren und juroren].

Es ist bald wieder soweit, der Bachmannpreis naht. Hier eine Übersicht, welche Jurorin welche Autorin eingeladen hat [Ausprobieren des generischen Femininums].

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Larissa Boehning: Meike Feßmann
Hannah Dübgen: Juri Steiner
Roman Ehrlich: Paul Jandl
Verena Güntner: Paul Jandl
Heinz Helle: Daniela Strigl
Nadine Kegele: Burkhard Spinnen
Benjamin Maack: Hubert Winkels
Nikola Anne Mehlhorn: Juri Steiner
Joachim Meyerhoff: Hildegard E. Keller
Anousch Müller: Meike Feßmann
Katja Petrowskaja: Hildegard E. Keller
Zé do Rock: Burkhard Spinnen
Philipp Schönthaler: Hubert Winkels
Cordula Simon: Daniela Strigl

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#tddl13

Ich habe mir sechs Bücher aus der Berliner Bibliothek mit nach Prag genommen, wo ich meine Zeit gerade mit einer Gruppe alternder Blumenkinder verbringe, denn meine Reisegruppe besteht komplett aus Berkeley-Alumni. Als ich heute eine Dame fragte, wie es ihr gehe, sagte sie: „I feel a little discombombulated today.“ Das ist doch mal eine onomatopoetische Antwort. „I feel a little discombombulated today,“ das sage ich demnächst auch mal. Bisher habe ich nur ein Buch für den Bewerb gelesen, nämlich den kleinen Band „Salzflut“ von Nikola Anne Mehlhorn, eingeladen vom neuen Jury-Mitglied Juri Steiner. Leider hat mir „Salzflut“ gar nicht gefallen, mehr dazu vielleicht später noch.

unser buch ist da.

Cover Tomorrow Can Wait

Unser Buch ist jetzt bei amazon als Taschenbuch, als Kindle und auch bei CreateSpace zu haben.

Taschenbuch: 272 Seiten
Verlag: Munchkin Bunchkin Books; Auflage: 1 (4. Juni 2013)
Sprache: Englisch
ISBN-10: 0615829880
ISBN-13: 978-0615829883

Das war am Ende nochmal ganz schön stressig und einiges hat mit der Formatierung dennoch nicht ganz geklappt (Kopfzeile startet z.B. zu früh). Anscheinend stimmten meine Cover-Maße nicht, obwohl ich sie nach Handbuch angelegt hatte, jedenfalls wurde das Cover-Maß angepasst und dabei ist hinten der Text zu nah an den Rand gerutscht. Das werde ich dann alles in einer zweiten Auflage bei Gelegenheit noch verbessern. Ich kannte mich bei so vielen Sachen nicht aus, beim nächsten Mal wüsste ich vieles besser, das kommt der deutschen Version dann hoffentlich zugute. 

Ich habe übrigens kein DRM für die Kindle-Version genommen, so dass das Dokument auf mehreren Geräten lesbar ist. Ich hatte die Funktion aktiviert, dass man es verleihen kann, aber das ist wohl nicht angekommen. Auch steht bei der Taschenbuchversion Scott als Herausgeber, obwohl er das Buch lektoriert hat, und die amazon-Seite fürs Taschenbuch kennt die Kindle-Seite nicht. Es gibt also neben den Formatierungsproblemen noch ein paar weitere Baustellen. Da muss ich überall mal den Kundendienst kontaktieren.

Jedoch, an sich: Es ist da, hurra!

zwischen super-nerd und gefährlichem freak.

Es kam, wie es kommen musste: meine heiße Arbeitssaison begann, bevor ich mit dem Buch fertig war. Plötzlich hatte ich drei große Sachen auf einmal zu tun, natürlich der ideale Moment für John, krank zu werden und zwei Wochen lang nicht in die Schule zu gehen. Kaum war er wieder fit, startete ich ein neues Programm in Prag.

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Eine Frau brach sich als Allererstes einen Zeh.

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Abends klopfte es an der Tür und der Hotelmanager bot mir einen Gutschein für ein Drei-Gänge-Menü im Tausch gegen meinen Fernseher. Im Zimmer eines VIP war der Fernseher defekt und es gab keine Ersatzgeräte mehr. Selbstverständlich habe ich das Tauschangebot sofort angenommen, denn ich war eh kaum im Zimmer und wenn, dann las ich Karl Ove Knausgårds Lieben, das mich ebenso in den Bann zog, wie es Sterben getan hatte. Da braucht kein Mensch einen Fernseher.

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So sahen auf den Toiletten im Hotel nahe der Lobby die Wasserhähne aus. Ich dachte mir, das sollt ihr wissen.

Art Deco Imperial Hotel

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Als ich eines Morgens zum Frühstück kam, war unser Vortragender für den Tag bereits da und sagte, dass seine Frau gerade mit Wehen ins Krankenhaus sei. Sie erwarteten Zwillinge, die Wehen seien noch ziemlich weit auseinander, wahrscheinlich könne er den Vortrag noch halten, aber ob er dabei das Handy eingeschaltet lassen könne, seine Frau wolle ihn anrufen, falls er doch schon schnell kommen müsste. Er hielt tatsächlich noch seinen Vortrag. Ich fragte ihn, ob er wisse, was sie bekommen und er sagte: „Eineiige Mädchen, wir haben es noch niemandem erzählt. Du bist die Erste, die das weiß. Das wird uns jetzt immer verbinden.“ Die Kinder wurden später am selben Tag geboren.

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Nach einer Woche brachte ich die erste Reisegruppe zurück zum Flughafen und eine Stunde später landete eine zweite. Ich setzte mich zum Warten mit Knausgård in die Ankunftshalle, mir gegenüber saßen vier blonde Frauen um die Fünfzig und redeten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Plötzlich sprach mich eine von ihnen auf Deutsch an: „Ist das die deutsche Übersetzung von Min Kamp, die Sie da lesen?“ Es stellte sich heraus, dass die vier Norwegerinnen waren und begeistert alle sechs Bücher gelesen hatten. Wir unterhielten uns mehr als eine halbe Stunde über Knausgård. Eine der Frauen sprach sehr gut Deutsch und übersetzte zwischen uns. Das war so eine tolle Begegnung, und was für ein Zufall, am Flughafen in Prag.

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Die Pilsener Urquell Brauerei:

Pilsener Urquell Brauerei

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In zwei Wochen Tschechien lernte ich ansonsten vor allem, dass es quasi unmöglich ist, tschechisch zu lernen.

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Heute war ich zu Gast bei Deutschlandradio Kultur. Kann man hier nachhören.

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Bald geht es wieder los nach Prag; dies ist mein Prager Frühling.

krankenhaus.

Ein kleines Video über ein Krankenhaus hat mich sehr gerührt. Ob es daran liegt, dass Stephan gestorben ist, ich weiß es nicht. Er ist ja Zuhause gestorben, nicht im Krankenhaus. Das Posting hat mich sehr traurig gemacht, wie ja überhaupt Greta hält durch ein Wahnsinnsweblog ist. Ich hoffe sehr, dass es weiter existieren wird.

Das Video, das zugegeben ein bisschen schmalzig ist, hat mich zurücktransportiert in unsere schlimmen Krankenhausjahre. Besonders musste ich wieder an den Taxifahrer denken, als John und ich von einem Krankenhaus in ein anderes gebracht wurden, um ein MRT seines Gehirns zu machen, John mit seinem großen blauen Schutzhelm auf dem Kopf, und ich in der Unsicherheit, ob uns diese nächste Untersuchung endlich helfen wird, und dann redete der Taxifahrer die ganze Zeit von Dieter Bohlens Buch, dem ersten, das damals gerade herausgekommen war, und im Radio lief Phil Collins, Another Day in Paradise.

Die Erinnerungen sind ja alle gleich wieder da, bei so einem Video. Es fängt ganz gut diese unglaublichen Disparitäten und Asynchronizitäten ein, die in so einem Wahnsinnskonstrukt wie einem Krankenhaus unweigerlich entstehen, wie in so vielen Institutionen, in denen Menschen auf einem Haufen uniform behandelt werden, Schule ist auch so ein Konstrukt, darüber habe ich mich letztens noch mit meinem Bruder unterhalten, der ja Lehrer ist. Krankenhaus ist aber schlimmer [for obvious reasons]. Und trotzdem gehe ich heute noch gerne ins Krankenhaus, um jemanden dort zu besuchen, und fühle mich von dem Wahnsinnskonstrukt auch irgendwie angezogen. Stockholm-Syndrom vielleicht. Jedenfalls lege ich jedem diese vier Minuten ans Herz.

autismus als metapher.

Der Text als PDF: Der Autismus unserer Zeit. Zur Popularität einer Metapher

In der Besprechung von Frank Schirrmachers neuem Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ umschrieb Jakob Augstein letzte Woche mit einer zentralen Metapher Schirrmachers These, dass wir in einer Ideologie des Egoismus leben: „Eine Ideologie der Kälte und des Autismus. Eine Ideologie von Psychopathen für Psychopathen.“

Der Begriff Autismus gehört längst zum Setzbaukasten des journalistischen Wortrepertoires. Das ist nicht neu, aber aufgrund der Schärfe des obigen Zitats erneut erwähnenswert. Autismus als Metapher erfreut sich also noch immer großer Beliebtheit. Das gilt für viele Gebiete. Im Jahr 2000 gründete Bernard Guerrien zum Beispiel die Bewegung der Post-autistischen Ökonomie. Autismus wird darin im Sinne einer wirtschaftlichen Abschottung definiert, die überwunden werden muss.

Die Geografin und Architektin Maria Kaika von der University of Manchester machte 2012 in der zeitgenössischen Stadtplanung eine Autistische Architektur aus. Ikonische Wahrzeichen berühmter Architekten fügten sich nicht mehr in ein Bedeutung schaffendes Gesamtbild ein. Autistische Architektur wird definiert als eine pathologische Versunkenheit in und Beschäftigung mit sich selbst, bis zum Ausschluss der äußeren Welt.

Autismus begegnet uns heute allerorten als Metapher, ob in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Architektur, oder auch auf dem Schulhof des Colegio Andino, der Deutschen Schule in Bogotá, Kolumbien, wo mein Bruder als Lehrer arbeitet und hörte, wie sich ein Junge über einen anderen ärgerte: „¿Eres autístico?“

Doch was macht die Autismusmetapher so reizvoll?

Zwischen Vereinzelung und Vernetzung

Ich hatte jahrelang den Begriff Autismus als Google Alert abonniert. Eigentlich wollte ich mich damit über neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Laufenden halten, doch ich merkte schnell, dass stattdessen zum Großteil Autismusmetaphern in den Posteingang meiner E-Mail gespült wurden. Mit der Zeit kristallisierten sich Gebiete und Themen heraus, für die die Autismusmetapher besonders gerne benutzt wurde.

So ist heute fast alles, was mit dem Internet zu tun hat, potentiell autismusverdächtig. In einem Zeitungsartikel hieß es etwa: „Die Spielkonsole hat Hunderttausende in den Autismus getrieben.“ Andererseits verwirklichen Dienste wie Twitter, Facebook und Google+ ein permanentes Sich-miteinander-Abgleichen durch pausenlose Kommunikation. Allerdings nur virtuell.

Sind wir also isoliert oder verbunden? Die Metapher Autismus dient als Referenzgrundlage einer digitalisierten Gesellschaft, in der jeder alleine vor dem Computer sitzt, und in der dem Autismus der Spielkonsole die letztlich ebenso autismusverdächtige Eingebundenheit in virtuelle Kommunikation entgegensteht.

Nicholas Epley und Adam Waytz von der University of Chicago haben im Oktober 2011 eine Untersuchung vorgestellt, nach deren Ergebnis Menschen mit engen sozialen Kontakten dazu neigen, Personen außerhalb ihres sozialen Umfelds zu entmenschlichen. Nach ihren Untersuchungen kann das Gefühl sozialer Eingebundenheit dazu verleiten, Menschen außerhalb der Gruppe als weniger wertvoll zu betrachten.

Die Teilnehmer eines Versuches wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Die Teilnehmer der einen Gruppe füllten einen Fragebogen aus, während ein Freund zusammen mit ihnen im Raum saß. Die anderen erledigten diese Aufgabe in Anwesenheit eines Unbekannten. Beiden Gruppen wurden Fotos von elf Menschen vorgelegt, die als inhaftierte Terroristen präsentiert wurden, angeblich für die Planung der Attentate auf das World Trade Center verantwortlich. Anschließend beantworteten die Versuchsteilnehmer eine Reihe von Fragen, darunter auch, in welchem Maße sie Foltertechniken wie simuliertes Ertrinken und Elektroschocks für vertretbar hielten. Die Forscher fanden heraus, dass die Gruppe der sozial eingebundenen Personen, die den Fragebogen in Anwesenheit eines Freundes ausgefüllt hatten, die Gefangenen deutlich stärker entmenschlichten und wesentlich eher bereit waren, Verletzungen gutzuheißen.

„Enge soziale Kontakte zu anderen haben sehr positive Auswirkungen auf die eigene körperliche und geistige Gesundheit“, schrieben die Forscher. „Aber sie ersticken auch die Motivation, soziale Kontakte außerhalb der Gruppe zu knüpfen und können die empfundene Distanz zwischen uns und ihnen vergrößern.“ In der Distanz zwischen uns und ihnen symbolisieren die Autisten das Außen.

Das Kokettieren mit dem Autismus

Das alleine scheint mir aber zu kurz gedacht. Offensichtlich besteht in der Verwendung des Autismusbegriffs auch ein Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung. Wenn man zum Beispiel die Tatsache, den Urlaub bewusst ohne Internet und Handy verbracht zu haben, damit beschreibt, dass man sich autistisch verhalten hätte, kokettiert man mit dem Bild. Autismus impliziert dann die Illusion eines wenigstens temporär non-konformen Verhaltens, welches durch die ständige Kommunikation immer seltener wird. Zumindest als ephemere Erfahrung ist der Autismus damit heute vielleicht auch gerade besonders reizvoll.

Dies ist natürlich kein neu entstandener Topos. Das Heraustreten aus der Gemeinschaft wird schließlich gerade unter Künstlern seit langem als reizvoller Gedanke zelebriert und formuliert, man denke nur an Gustave Flauberts Begriff der impassibilité, der kühlen Teilnahmslosigkeit des Dichters, oder an Paul Cézannes bewusst propagiertes Leben als Solitär. Paul Eluard schrieb: „Ich träume davon, losgelöst von allem zu sein. Aber leider besteht kaum die Aussicht, dass sich das erfüllen wird.“

Dieser Satz scheint für unsere allzeit vernetzte Zeit geradezu emblematisch. Die Beschäftigung mit dem Autismus setzt insofern eine lange künstlerische Tradition des Wechselspiels zwischen Teilhabe und Isolierung fort, ein Wechselspiel, das sich in unserem Leben im frühen 21. Jahrhundert zwischen den Polen der Vereinzelung und der Vernetzung bewegt.

Verkümmernde Persönlichkeit

Im Film The Social Network begegnet der Erfinder von Facebook, Mark Zuckerberg, dem Zuschauer als ein Computer-Nerd, der wenig Augenkontakt hält, der Sprachwendungen und Doppeldeutigkeiten nicht versteht, der alles wörtlich nimmt und selbst in harmlosen Gesprächen pedantisch auf Genauigkeiten beharrt. Dass das, was er sagt, andere verletzen könnte, versteht er nicht. Kurzum, Drehbuchautor Aaron Sorkin und Regisseur David Fincher porträtieren Zuckerberg in ihrem Film als Autisten.

Die Schriftstellerin Zadie Smith schrieb in der New York Review of Books im November 2010 über den Film und die Generation Facebook. Der Typus des „sozialen Autisten“ sei uns in der heutigen Zeit sehr augenfällig: „Wir kennen diesen Typen. Überprogrammiert, grimmig, einsam.“ Interessant ist dabei, dass es ihr gar nicht um eine tatsächliche Diagnose geht, sondern um die Zuschreibung einer Generation, deren Persönlichkeit von den oberflächlichen Möglichkeiten der Facebook-Software geprägt werde. In sozialen Netzwerken sei Verbindung das ultimative Ziel, die Qualität dieser Verbindungen spiele eine untergeordnete Rolle.

Falsch-fröhlich, pseudo-freundschaftlich, selbst-vermarktend und gekonnt unaufrichtig würden die Menschen Auskunft über sich geben, ohne dass komplexe Gefühle, Wünsche und Ängste im Profil ihren Ausdruck finden könnten, denn eine tiefere, komplexe Dimension sehe die Zuckerberg-Software nicht vor. Auf Facebook schrumpfe alles: individueller Charakter, Freundschaften, Sprache, Sensibilität. Smith beschreibt dies als transzendentale Erfahrung: wir verlieren unsere Körper und auch die komplexen Gefühle. Das von seiner Vielschichtigkeit befreite Selbst sei alles andere als frei. Unsere Persönlichkeit verflache. Der Typus des „sozialen Autisten“ erfasse diese Entwicklung in einem komprimierten Begriff.

Der Soziologe Georg Simmel beschrieb 1903 in Die Großstädte und das Geistesleben die Auswirkungen der Städte auf das Nervenleben. Während immer einseitigere Leistungen vom Individuum verlangt würden und sich die Leistungen im Speziellen steigerten, verkümmere die Persönlichkeit. Wir begegnen dieser Argumentation mehr als hundert Jahre später bei Zadie Smith und dem von ihr so genannten Typus des „sozialen Autisten“ wieder. Simmel prägte argumentativ vor, was viele heute mit Autismus assoziieren, Spezialisierung und verkümmerte Persönlichkeit, 1903 selbstverständlich noch ohne den Namen und das Konzept Autismus gedacht. Simmel sprach von Atomisierung.

Reizüberflutung

Die verkümmernde Persönlichkeit hängt wiederum unmittelbar mit einem weiteren Thema zusammen, das sowohl für unsere Zeit, als auch für den Autismus bedeutsam ist: Reizüberflutung. Der Journalist Nicholas Carr eröffnete 2008 mit dem Aufsatz Macht uns Google dumm? eine Debatte über die Reizüberflutung im Internet. Darin interpretiert Carr das Internet als einen evolutionsgeschichtlichen Wendepunkt, unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürze sich bedenklich. Ähnlich ein Jahr später Frank Schirrmachers Bedenken in Payback. Geradezu wöchentlich erscheinen nun Artikel darüber, ob das Internet und die damit unweigerlich verbundene Reizüberflutung uns verdummen oder gerade im Gegenteil unsere Denkleistungen verbessern können. Interessant für die Autismusmetapher ist, dass sich auch hier wieder Parallelen zwischen Autisten und neurotypischen Menschen auftun.

Überforderung bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken ist ein zentrales Problem für Autisten, doch dieses Problem kennen heute auch Nicht-Autisten nur zu gut. Als er das erste Mal nach New York kam, habe er sich wie ein Autist gefühlt, berichtete der Musiker Sxip Chirey im Oktober 2010 in einer Radiosendung darüber, ob der Mensch die Stadt prägt oder vielleicht umgekehrt die Stadt den Menschen. Er habe die Welt in New York wie ein autistisches Kind erlebt, das die vielen Reize, die auf es einprasseln, nicht filtern und ordnen kann. Chireys Beschreibungen der Parallelen zwischen der Wahrnehmung von Autisten und seiner eigenen ersten Wahrnehmung von New York sind ein typisches Beispiel dafür, wie der Autismus heute gerne zur Erklärung einer Überforderung herangezogen wird.

Integrationsverweigerung

Wenn man Parlamentsprotokolle auf den Begriff Autismus hin durchsucht, bekommt man seitenlange Einträge. Im Parlament ist es beliebt, den Autismus in die Nähe des Fundamentalismus zu rücken, so sagte etwa MdB Rolf Feldmann von der FDP: „Im Klartext: Die Militärs spielen weiter mit der Existenz der Menschheit und behaupten wie eh und je, sie hätten alles im Griff. Und auf diesen brandgefährlichen Autismus sollen wir unsere Sicherheit und unsere Zukunft gründen?“

Der Abgeordnete Hans von der CDU mahnte: „Zur Besonnenheit gehört, zu unterscheiden zwischen den Millionen Moslems, von denen viele hier im Westen in unserem toleranten Lebensstil eingebunden sind, und den paar tausend fanatischen Autisten, die unsere Kultur – damit meine ich die westliche und die islamische – global und total bedrohen.“

In der Politik spitzt sich der Autismus zum Gegenspieler der Demokratie schlechthin zu. Dem Autismus werden Adjektive wie ‚brandgefährlich‘ und ‚fanatisch‘ an die Seite gestellt, die die Wahrnehmung einer Gefahr noch verstärken. Der Begriff Autismus drückt die kollektive Abscheu der demokratischen Staaten gegenüber ihren Gegnern, vor allem Terroristen, aus. Die politische Metapher wird zur Variation des guten Ganzen gegen den einzelnen Abtrünnigen.

Verlust des Verantwortungsgefühls

Reinhart Lempp ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und emeritierter Professor der Universität Tübingen. In seiner Praxis im Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen bemerkte auch er Parallelen zwischen den Beeinträchtigungen einer autistischen Wahrnehmung und Wesensmerkmalen unserer Zeit. In seinem Buch Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? schrieb er über unseren täglichen Autismus, über die Kontaktstörung unserer Alltagswelt. Es kämen zwar immer mehr Menschen miteinander in Berührung, aber sie kämen nicht in psychischen Kontakt miteinander. Die Menschen nähmen sich gegenseitig nicht mehr wahr. Das Leben nebeneinander her führe zu einer zunehmenden Verantwortungslosigkeit gegenüber den Mitmenschen und somit zu einer Aufkündigung der Gemeinschaft.

Im Magazin Theater Heute schrieb die Literaturwissenschaftlerin Branka Schaller-Fornoff in einer Titelgeschichte über Belgrad und den Balkan: „Täglich und doch immer völlig unerwartet bekomme ich zu hören, wie viel besser das Leben im Sozialismus war, das vereinte Jugoslawien. Diese Demokratie, dieser Kapitalismus, sie hätten nichts Gutes gebracht. Ein Medienwissenschaftler sagt mir lakonisch, die Leute seien total autistisch geworden, ihre Mitmenschen interessierten sie nicht mehr. Er geht jetzt auch weg.“

Neben der Autismusdiagnose für den Kapitalismus spielt das Zitat auch auf das Autistische unserer zunehmend transitorischen Existenz an, auf den Autismus der Mobilität: „Er geht jetzt auch weg.“ Noch nie sind wir so oft umgezogen, weltweit, haben so oft den Arbeitplatz und die Partner gewechselt, international. Alles ist im Fluss, immer, und morgen könnte man schon ganz woanders sein. Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft sind so ungleich schwerer zu leben, so die Idee dieser Autismusmetapher.

Krankheit als Metapher

In der Metapher geht es in den verschiedensten Zusammenhängen fast immer um das Vereinzelte als Gegenbild des Gemeinsamen, ein neuralgischer Punkt unserer globalisierten, kapitalistischen und von Technik geprägten Lebens- und Arbeitswelt.

Susan Sontag beobachtete in Krankheit als Metapher, wie Tuberkulose im 19. Jahrhundert und Krebs im 20. Jahrhundert zu Syndromen wurden, die zentrale Ängste und Gefahren der Gesellschaft verdeutlichten. Dass eine bestimmte Krankheit eine kulturelle Dominanz entwickelt, ließ sich laut Susan Sontag an wissenschaftlichen Untersuchungen im 20. Jahrhundert erkennen: sie wiesen hohe Übereinstimmungswerte zwischen dem Vorkommen von Krebs und den verbreiteten, allgemeinen Beschwerden der Zeit nach. Selbst Nichtkranke gaben demnach viele gleiche Beschwerden an, die auch Krebspatienten haben. Wenn eine Krankheit eine kulturelle Bedeutung entwickelt, greift sie um sich und löst sich dabei auch von der Krankheit selbst: immer mehr Menschen erkennen sich in ihr wieder, ohne tatsächlich erkrankt zu sein.

Dies gilt heute für den Autismus. Die für die Tuberkulose und den Krebs beschriebene Invasion des Körpers hat sich heute durch Virtualität und Globalisierung zu einer Loslösung vom Körperlichen entwickelt, und während in den Fällen der Tuberkulose und des Krebs das fundamental Abschreckende die Assoziation des tatsächlichen Todes war, so ist es im Fall der Autismusmetapher die Assoziation des sozialen Todes.

Der Ausdruck des Selbst im 19. Jahrhundert (Tuberkulose) wich im 20. Jahrhundert dem Ausdruck des gefühlten Selbstverlustes (Krebs), der wiederum nun, im beginnenden 21. Jahrhundert, von einem Ausdruck des gefühlten Gemeinschaftsverlustes überschrieben wird (Autismus).

Sich einen medizinischen Begriff zunutze zu machen, um neue hermeneutische Möglichkeiten zu schaffen, ist allerdings grundsätzlich problematisch, darauf wies auch Susan Sontag immer wieder deutlich hin. In einem solchen Prozess löst sich die Metapher unweigerlich vom tatsächlichen Syndrom und schneidet es auf die eigenen Bedürfnisse zu. Dies geht so weit, dass die geschaffenen Assoziationen überhaupt nichts mehr mit dem tatsächlichen Syndrom zu tun haben.

Auswirkungen der Metaphorisierung

Der tatsächliche Autist hat im Gegensatz zum metaphorischen weder eine verkümmerte Persönlichkeit noch wendet er sich als Integrationsverweigerer bewusst von der Gemeinschaft ab. Die Abwendung erfolgt eher in umgekehrter Richtung, nämlich in dem Sinn, dass eine Gemeinschaft den Autisten ausschließt, weil er ihre sozialen Spielregeln nicht versteht.

Autisten leben nicht vereinzelt, sondern in Gemeinschaften, oft in der Familie und dort sogar oft länger als Nicht-Autisten, die meistens mit achtzehn oder neunzehn ausziehen. Autisten lernen, mit Reizüberflutung umzugehen. Was den behaupteten Verlust des Verantwortungsgefühls für unsere Mitmenschen betrifft, so lässt sich gerade an engagierten Angehörigen, Therapeuten, Lehrern, Ärzten und Pflegepersonal bestens erkennen, dass es sehr wohl noch Menschen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein gibt, welches sie nicht nur als Meinung vor sich hertragen, sondern jeden Tag leben. Die Metapher greift immer zu kurz, verzerrt und schadet.

Entfernt uns das Internet voneinander und lässt es unsere Persönlichkeit verkümmern? Können wir der Flut an Reizen nicht mehr standhalten? Löst sich die Gemeinschaft auf und verschwindet jeder einfach in seinem eigenen Leben? Macht die globalisierte Welt uns gefühl- und verantwortungslos? Zur Formulierung dieser und vieler anderer Fragen benutzen wir die Autismusmetapher, und all diese Fragen sind mit einer enormen, ja existenziellen Angst besetzt.

Egal ob zur Beschreibung wirtschaftlicher, künstlerischer, kultureller oder politischer Problemzustände unserer Zeit: indem die Metapher Autismus das Außen definiert, eignet sie sich zwar augenscheinlich zum Versuch, eine auf verschiedensten Ebenen als gefährdet wahrgenommene Idee der Gemeinschaft wieder zu stabilisieren, indem sie die Gefährdungsmomente aus ihrem eigenen Inneren in ein Außen überträgt, nämlich auf den außen stehenden Autisten. Den Preis für die Übertragung dieser Gefährdung in die Autismusmetapher aber zahlen die Autisten und auch ihre Angehörigen.

Der Autist wird rhetorisch als entfernt und verschieden dargestellt, ihm wird die dialektische Funktion des Anderen aufgebürdet, er verkörpert die Gefahr, den Ort, an den diejenigen nicht kommen wollen, die Teil der Gemeinschaft sind. Ob all diese Ängste dabei überhaupt gerechtfertigt sind, oder wie viele Anteile an typischem Kulturpessimismus in neuem Gewand in diesen Ängsten stecken, das ist dabei noch eine ganz andere Frage.

Für die Autismusmetapher gilt in jedem Fall: so prägnant sich drängende zeitgenössische Fragestellungen durch die Brille des Autismus erfassen und verarbeiten lassen, weil die Defizite und Stärken, die mit Autismus verbunden sind, mit zentralen Fragestellungen unserer Gesellschaft korrespondieren, so dringend muss nun endlich auch die Frage gestellt werden, was Autismus als Metapher für die Menschen bedeutet, die tatsächlich autistisch sind.

Ein Syndrom unter Verdacht

Noch stärker problematisiert wird die Lage durch Positionierungen zum tatsächlichen Autismus. Nicht nur als Symbol, sondern auch als Syndrom ist Autismus zunehmend verdächtig. Es ist erst zwei Monate her, dass Adam Lanza in Newtown in den USA 27 Menschen tötete. Sofort wurde in den Medien weltweit spekuliert, dass Lanza vielleicht Autist gewesen sei. Zeugenaussagen hatten auf das Asperger-Syndrom hingedeutet. Diese Spekulationen wurden ursächlich mit der Tat verbunden, sie wurden als Erklärungsversuch benutzt, die schreckliche Tat zu verstehen.

Ähnliches passierte letzten Monat nach dem Mord an Katrin Michalk in München. Eine Nachbarin meinte, der Täter sei Autist gewesen und habe eine Förderschule besucht. Die Berichterstattung zielte wieder auf einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Autismus und der Tat ab. „Psychogramm: So tickt der mutmaßliche Sendling-Mörder“ hieß es etwa in der Münchener Abendzeitung.

Vor zwei Monaten, gerade als die Stigmatisierung des Autismus durch die Newtown-Berichterstattung einen Höhepunkt erreichte, wurde eine Studie der University of Western Australia in Perth veröffentlicht. Die Forscher untersuchten die gesamte, zwischen 1955 und 1969 geborene Bevölkerung Westaustraliens, mehr als anderthalb Millionen Menschen. Sie verglichen Verhaftungen mit den Daten psychiatrischer Diagnosen und kamen zu dem Ergebnis, dass es kein erhöhtes Kriminalitätsrisiko in Bezug auf psychiatrische Probleme gibt. Während Menschen mit einer Diagnose Schizophrenie zum Beispiel häufiger verhaftet wurden als Menschen mit einer Depression, lagen die Verhaftungszahlen für Suchterkrankte über denen der Schizophrenie.

Autisten sind viel häufiger Opfer als Täter, zum Beispiel Opfer von Mobbing, in der Schule und am Arbeitsplatz. Sie sind oft von Ausgrenzung betroffen. Durch die verzerrte Berichterstattung werden sie allerdings im Gegenteil geradezu als Psychopathen dargestellt. In Bezug auf das Syndrom erfolgt eine ähnliche Instrumentalisierung wie in Bezug auf das Symbol. Dies legte auch das Zitat von Jakob Augstein nahe, der von einer Ideologie von Psychopathen für Psychopathen sprach.

Wie und wo kann ich uns als Familie mit einem autistischen Kind in einer Gesellschaft verorten, die dem Autismus in der Metapher jeden Tag negative Züge zuspricht, und die anhand des Syndroms ihre zeitgenössischen Krisen verhandelt?

Frank Schirrmacher vermeidet in seinem neuen Buch eine Vereinnahmung des Autismus. Jakob Augsteins Text allerdings zeigt, dass die Rezensenten diesen Reifegrad leider noch nicht erreicht haben.

Die Prägung des Symbols lässt bereits deutliche Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des Syndroms erkennen, wie Newtown und München leidvoll verdeutlicht haben. Es ist lange überfällig und spätestens jetzt allerhöchste Zeit, den Autismus von der negativen Vereinnahmung zu befreien.

 

Zitate

[Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens]

[Jakob Augstein: Im Zweifel links: Ohne Zweifel links]

[Post-autistische Ökonomie]

[Autistische Architektur und fortgeschrittene urbane Marginalität]

[Adam Waytz & Nicholas Epley: “Social Connection Enables Dehumanization.” In: Journal of Experimental Social Psychology, volume 48, Issue 1, January 2012, Pages 70–76. The Connection Disconnection]

[Paul Eluard, „Liebesbriefe an Gala“, dtv 1990, S. 304]

[Zadie Smith: Generation Why?]

[Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben]

[Nicholas Carr: Is Google Making us Stupid?]

[Frank Schirrmacher: Payback]

[Do we make the city or does the city make us? How we become behaviourally enmeshed in cities and how they operate almost like independent organisms.]

[MdB Feldmann: Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 13/116 vom 27.06.1996, Seite 10546]

[Abg. Hans: Landtag des Saarlandes, 12. Wahlperiode, 30. Sitzung am 26. September 2001, Gedenkworte und Erklärungen zu den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001.  Protokoll S. 1421]

[Reinhart Lempp: Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? Kösel 1996]

[Branka Schaller-Fornoff: Mehr Kampf, mehr Frust, mehr Intensität. In: Theater Heute, Januar 2012]

[Susan Sontag: Illness as metaphor]

[Cinthia Briseño: Adam Lanza. Litt der Amokläufer von Newtown am Asperger-Syndrom?]

[Nina Job: Mord an Katrin Michalk. Psychogramm: So tickt der mutmaßliche Sendling-Mörder]

[Morgan VA, Morgan F et al.: “A whole-of-population study of the prevalence and patterns of criminal offending in people with schizophrenia and other mental illness.” In: Psychol Med. 2012 Dec 13:1-12. [Epub ahead of print] Mental Illness and Crime, Yet Again]

blog hop.

Oh, ein Stöckchen. Dass es das noch gibt.

Was ist der Arbeitstitel Ihres Buchs?

Der Arbeitstitel war „Das Zeitalter des Autismus.“ So heißen noch ganz viele meiner Dateien, die sich mit den theoretischen Aspekten befassen. Das Ganze hat sich mittlerweile aber anders entwickelt. Der Titel wird nun sein: „Morgen kann warten. Unterwegs mit unserem autistischen Kind.“

Woher kam die Idee für das Buch?

Autismus ist in den letzten zehn Jahren oft Thema, zumindest in den USA, und auch die Metapher wird viel benutzt, vielleicht weil das, was wir üblicherweise mit dem Syndrom verbinden, irgendwie in unsere Zeit passt. Es gab dazu viele interessante Artikel, zum Beispiel von Steve Silberman in Wired, dass es im Silicon Valley immer mehr Autisten gäbe, um nur ein Beispiel zu nennen. Es ging, zugespitzt, um die Frage, ob unsere globalisierten, kapitalistischen und technisch geprägten Lebens- und Arbeitsbedingungen uns irgendwie zu Autisten machen. (Leben wir in einer autistischen Gesellschaft? Antwort: Eher nein.) Letztlich wird Autismus als Metapher benutzt. Ein Agent hat sich dafür interessiert, wir haben am Exposé gearbeitet, aber die Einschätzung der befragten Lektoren war, dass das vielleicht ein längerer Zeitungsartikel sein könnte, kein ganzes Buch.

Da ich Autismus von ganz unterschiedlichen Warten recherchiert hatte, hätte ich gerne so ein Buch mit verschiedenen Kapiteln gemacht, in denen eines das oben beschriebene ist, ein anderes zum Beispiel die autistische Emanzipationsbewegung neurologischer Vielfalt – neurodiversity. Da war dann aber die Meinung, dass das so speziell sei, dass es nur Leute interessiere, die mit Autismus eh zu tun haben, also: zu kleines Publikum. (Mittlerweile habe ich gelesen, dass Steve Silberman gerade genau so ein Buch schreibt, es soll irgendwann 2013 rauskommen.)

Unter welches Genre fällt Ihr Buch?

Sachbuch, aber mittlerweile mehr so ein erzählendes Sachbuch.

Wie lautet die Einsatzzusammenfassung Ihres Buches?

„Morgen kann warten“ ist eine Geschichte über Autismus und über das Leben mit einem schwer autistischen Kind.

Vielleicht noch ein zweiter Satz darüber, was es nicht ist: „Morgen kann warten“ ist keine Geschichte über Heilung und keine klassische Schicksalserzählung.

Werden Sie Ihr Buch selbst verlegen oder wird es vertreten durch einen Agenten?

Ich habe einen Agenten gefunden, der das Projekt vertritt. Allerdings haben wir keinen Verlag gefunden.

Als wir nicht weiterkamen, habe ich letztes Frühjahr das Buch auf Englisch im Selbstverlag geplant, über Kickstarter. Nun werde ich es wohl, wenn das Buch auf Englisch fertig ist, zurückübersetzen ins Deutsche und dann auch auf Deutsch selbst veröffentlichen. Ich habe gemerkt, dass ich etwas machen möchte, das anscheinend nicht viele Leute interessiert. Da kann man nichts machen. Mich interessiert es, und deshalb mache ich das nun alleine, beziehungsweise mit Scott, der meinen englischen Text lektoriert, und mit Hilfe der tollen Kickstarter-Unterstützung.

Der Agent und ich konnten eben leider keinen Verlag davon überzeugen. Oft hieß es, ich sei keine ausgewiesene Expertin, „nur Mutter.“ Es lief fast immer darauf hinaus, dass ein Verlag von einer Mutter ein emotionales Rührstück erwartet. Letzter Stand war das Exposé mit den Reisen als roter Faden, der Agent hatte es im Herbst mit auf die Buchmesse genommen.

Eine Lektorin schrieb daraufhin, das Exposé sei sehr selbstbewusst formuliert, das sei dem Thema nicht angemessen. Als ich das las, saß ich erstmal eine bis zwei Minuten sprachlos vor dem Bildschirm. Leserinnen, die sich für Schicksalsbücher interessierten, erwarteten eine andere Position. Mit anderen Worten: dass sich die Mutter ihrer Situation angemessen als Opfer präsentiert, oder wie habe ich das zu verstehen?

Ganz viele wollten den Text viel emotionaler haben, da waren wir wieder beim Rührstück. Aber nur um Klischees zu bedienen, muss ich mich nicht fünf Jahre lang hinsetzen und ein Buch recherchieren und schreiben. Ein Lektor meinte, das sei ja alles ganz interessant, aber wohl doch eher Blogniveau. Da kam dann ein bisschen der alte Dünkel auf. Ein Lektor schrieb, er fände das Thema Autismus normalerweise spannend, aber hier käme diese Faszination nicht rüber.

Natürlich werden in den Medien oft und vorzugsweise die faszinierenden Aspekte von Autismus präsentiert: Daniel Tammet oder Stephen Wiltshire oder Gilles Tréhin oder George Widener. Aber es sind eben nur 10% der Autisten, die überhaupt eine besondere Begabung haben. Es geht mir ja gerade darum, mal nicht von dieser Faszination aus zu schreiben. Aber das wird dann nicht als interessant empfunden.

Eine Lektorin meinte, da sei so vieles ganz ähnlich wie mit einem normalen Kind, das sei ja gar nicht so besonders. Auch da las ich die E-Mail und dachte: „Ja, genau, es ist ja auch vieles wie mit einem nicht behinderten Kind. Das Leben mit einem schwerbehinderten Kind hat viele Anteile, die jeder kennt, der Kinder hat.“ Es kommt also schon viel Intendiertes bei den Lektoren an, aber es wird dann jeweils als nicht interessant genug befunden.

Ein Lektor meinte, die Kombination aus Reisen und Autismus sei zu speziell. Das ist gerade der Punkt: dass die Kombination nicht unbedingt naheliegt. Ein kleiner Teil des angestrebten Perspektivwechsels.

Ich bescheinige mir selbst abschließend eine recht große Leidensfähigkeit bei der Suche nach einem Verlag, aber nach der Buchmesse im letzten Herbst habe ich dann aufgegeben. Wir hatten extra noch direkt vor der Buchmesse einen Zeitungsartikel mit Céline Lauer gemacht, aber selbst das hat nichts gebracht. Der Artikel sei ja sehr schön, hieß es, aber damit sei dann ja auch schon alles gesagt, wozu nach dem Artikel noch ein Buch?

Einerseits fand ich es sehr gut, dass ich so viel inhaltliches Feedback bekommen habe und keine 08/15 Absagen, andererseits hat es mir am Ende wenig gebracht, weil vieles ja schon richtig erkannt wurde, aber eben Absicht war, oder ein inhärentes Problem (wie, dass John zu blass blieb – das habe ich mittlerweile schon besser in den Griff bekommen). Ich hätte jemanden gebraucht, der das Vertrauen hat, dass das schon eine gute Sache ist, und der oder die das dann einfach mal macht. Leider hat es nicht sollen sein.

Wie lange haben Sie gebraucht, um den ersten Entwurf Ihres Manuskripts zu schreiben?

Angefangen habe ich mit der Idee 2007, dann habe ich aber zwei Jahre lang fast nur gelesen. Das Projekt hat sich in diesen Jahren immer wieder etwas verändert. Im Moment schreibe ich am zweitletzten Kapitel. Ich weiß nicht, ob wir den Text noch im Februar druckreif bekommen, realistisch gesehen eher nicht. Bei Kickstarter hatte ich Februar 2013 als Fertigstellung angegeben, das war sehr optimistisch kalkuliert. John war zweimal krank, Weihnachtsferien, jetzt die Winterferien nächste Woche: ich hätte da mehr Zeit einkalkulieren müssen. Nächstes Mal wüsste ich es besser.

Selbst wenn bald alle Kapitel fertig sind, haben Scott und ich noch viel Arbeit. Zum Beispiel ist es noch nicht immer überall klar, wie alt John gerade ist, der ganze Zeitverlauf muss verständlicher werden. Auch Johns Entwicklung – wann spricht er, wann spricht er wieder nicht – das sind so Sachen, die deutlicher werden müssen. Ich habe eine Liste von Kohärenzaspekten gemacht, die ich abarbeiten muss, wenn der Text an sich steht. Der Text muss dann ja auch noch von außen Korrektur gelesen werden, dazu habe ich schon eine muttersprachliche Freiberuflerin gefunden. Für das Cover bin ich noch auf der Suche nach einer Grafikerin, aber vielleicht machen wir das auch selbst mit InDesign. Je länger wir zum Schreiben brauchen, umso weniger Geld bleibt dafür, andere zu bezahlen. Ich muss noch die Endnoten und die Bibliographie ausformulieren, im Moment steht da zum Beispiel sowas wie „Autism Matrix 53“ in den Anmerkungen, haha. Auch wenn es kein wissenschaftliches Buch ist, soll es nicht zu guttenbergisch werden. Ich hätte gerne einen Index, aber dafür bleibt dann wohl wirklich keine Zeit mehr. Von April bis Oktober bin ich beruflich ausgebucht, es muss also vor April fertig werden. März sollte zu schaffen sein. Ich hoffe, dass die Kickstarter Backer nicht allzu böse sein werden, wenn es sich um einen Monat verspätet.

Welche anderen Bücher würden Sie mit Ihrem Genre vergleichen?

Ich kann nur sagen, dass mir Sachbücher gefallen, in denen Menschen mit einer persönlichen Stimme über etwas Schwieriges erzählen, das sie erlebt haben, ohne dass es dabei larmoyant wird. Mir fallen da ein: Siri Hustvedt mit Die zitternde Frau, Tim Parks mit Die Kunst stillzusitzen, und natürlich Joan Didion mit dem Jahr magischen Denkens und den Blauen Stunden. Nicht, dass ich sowas hinkriegen würde, aber das sind für mich wichtige Bücher gewesen, die sagen: Man kann und darf seine eigene Situation ernst nehmen, und man kann darüber reflektieren, ohne dass es rührselig wird. Das heißt nicht, dass es nicht auch emotional wäre. Ich glaube, das ist ein großes Missverständnis. Es soll bloß keine billige Gefühlsduselei sein, und nicht so eindimensional.

Was sonst über Ihr Buch könnte das Interesse des Lesers wecken?

Keine Ahnung, ich bin im Moment von der Verlagssuche-Erfahrung zu demotiviert, um überhaupt darüber nachzudenken. Ein Mann hat mich mal gefragt: „Warum soll das eigentlich irgendjemanden interessieren, wo Sie mit Ihrem Mann und Kind in Urlaub hinfahren, oder wie Ihr Leben ist?“

Es ist klar, dass sich dafür nicht jeder interessiert. Mich zum Beispiel aber interessiert, wo andere Leute in Urlaub hinfahren, wenn sie darüber etwas zu sagen haben, und mich interessiert auch, wie ihr Leben ist. Deshalb lese ich gerne Weblogs, oder Bücher wie die genannten. Das ist Kommunikation, da sind Menschen, die von sich erzählen und damit erst die Möglichkeit geben, dass man sie versteht. In diesem Fall: wie soll die Gesellschaft verstehen, wie vielfältig Autismus ist, wenn es darüber nur immer die gleichen drei Narrationen gibt (Heilung, Verzweiflung, Savants)?

Das geht alles aufs Webloggen zurück: dass da mal Leute waren, die an einem ehrlichen Austausch interessiert waren. Vielleicht hatte der Dünkellektor am Ende sogar Recht und das ist Blogniveau. Das wäre dann nur nicht so abschätzig konnotiert, wie er es schrieb, sondern im Gegenteil.

Möchten Sie andere Autoren für das Interview nominieren?

Alle, die ich kenne, haben den Fragebogen schon, glaube ich. Aber ich wünsche mir, wie Isa, ein Buch von Hotel Mama.

himbeerreich im hotel mama.

Finde ich immer gut, wenn Frau Casino im Theater war:
„biodetails als kleine postkarten bei der einrichtung dieser bombenegos, die unser geld bewegen“ [#] Ah.

(Frohes Neues Jahr rundum, übrigens. Ich schreibe momentan nur am Buch und komme zu nichts anderem, aber das ist ja was Gutes. )

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