der anti-proust.

Wie kein anderer beschreibt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård das Leben als unablässige Bewegung zwischen Annäherung und Zurückweisung

Manchmal bleibt die Frage nicht aus: Müssen wir wirklich alles erfahren, bis zum letzten Teebeutel, der in einen Becher gehängt wird? In insgesamt sechs Bänden mit über 3.600 Seiten Text hat der norwegische Autor Karl Ove Knausgård detailliert sein Leben aufgeschrieben. Nach „Sterben“ und „Lieben“ ist bei Luchterhand nun der dritte Band seines autobiographischen Romanprojekts auf Deutsch erschienen: „Spielen.“ Im ersten Band ging es um den Tod des Vaters, im zweiten um die Liebe zu seiner Frau und die Geburt der drei Kinder, im dritten Teil nun geht es um seine eigene Kindheit.

Wie in den ersten beiden Büchern werden Leser und Leserinnen auch hier wieder mit ausufernden Beschreibungen konfrontiert. Den Gegenständen, der Landschaft, allem unterliegt eine existenzielle Dringlichkeit: „Sinnvoll, sinnlos, sinnvoll, sinnlos, das ist die Welle, die durch unser Leben rollt und seine grundlegende Spannung bildet.“ Manchmal ersteigt unerwartet eine große Szene aus einer vorher eher dahinplätschernden Erzählung, manchmal baut Knausgård Spannung auf, die am Ende mehr oder weniger verpufft, weil dann doch nichts Aufregendes passiert. So gelingt es ihm, die Kindheit einzufangen, in der alles unberechenbar ist. Jederzeit kann sich eine unerwartete Intensität entfalten, oder eben nicht. Das Kind macht keine Prognosen, es erlebt.

Einen großen Anteil an dieser Unberechenbarkeit hat neben der Kindheit an sich allerdings auch der Vater des Jungen. Im ersten Band war die Ungeduld des Vaters schon zu erahnen, im dritten Band verdichtet sich die Erkenntnis über das Ausmaß seines Jähzorns. Der Junge soll dem Vater zum Beispiel beim Holzhacken Gesellschaft leisten. Karl Ove ist gerade eingeschult worden und sie unterhalten sich über die Lehrer. Als der Junge die Holzklötze stapeln soll und dies in den Augen des Vaters falsch macht, beginnt die Stimmung zu kippen. Nach einer Weile friert der Junge und möchte ins Haus gehen, aber der gereizte Vater lässt ihn nicht. Stattdessen ahmt er den Sprachfehler des Jungen nach und Karl Ove sagt, das dürfe er nicht. Dies fasst der Vater als Widerwort auf, packt den Jungen am Ohr und dreht es um. Der Junge ist erschüttert und zieht sich in sein Zimmer zurück. Er möchte nicht mehr mit dem Vater und dem Bruder Fußball sehen, wie sonst am Samstag, doch der Vater kommt in sein Zimmer, schleift ihn ins Wohnzimmer und zwingt ihn, sich mit vor den Fernseher zu setzen. Die Bonbons, die der Vater den Kindern beim Fußballgucken zuwirft, möchte der Junge nicht, daraufhin zwingt ihn der Vater, sie zu essen. Immer wieder begegnen wir einem Mann, der die Kontrolle über sich verloren hat.

Die Erzählung entfaltet einen Sog, der zwingend ist, fast hypnotisierend. Die Offenbarung macht sprachlos, erstaunt, hält in Atem. Die Erlebnisse des Jungen Karl Ove sind voller Verletzungen, vor allem durch den autoritären Vater, selten durch die Mutter, bei ihr sind es eher sporadische Enttäuschungen, wie zum Beispiel wenn sie ihm eine Damenbademütze kauft, die ihn vor seinen Mitschülern lächerlich macht. Zurückweisungen erfährt er aber auch manchmal durch den Bruder, durch Freunde, zum Beispiel wenn zwei an einem Abend nicht an seiner Haustür klingeln, um ihn mitzunehmen, und er sie dann vergeblich sucht, sich anderen Kindern im Fußballspiel zuwendet, in einer Mischung aus Trotz und Gleichgültigkeit, hinter der aber noch immer die Traurigkeit über die beiden Freunde lauert, die ohne ihn loszogen. Ihnen gilt sein letzter suchender Blick auf dem Weg nach Hause.

Der Junge erlebt aber auch viel Begeisterung. Wie er mit seinem besten Freund Geir durch die Gegend streift, wie sie eine großartige Müllhalde entdecken, wie sehr ihn seine ersten Freundinnen faszinieren, das alles steht neben den Verletzungen, die im Übrigen ja nicht nur Karl Ove selbst erfährt, sondern die auch er anderen zufügt, auch das gehört dazu. So entfaltet sich das ganze große Universum der Kindheit. Man möchte jedem, der sechs- bis dreizehnjährige Kinder hat, „Spielen“ empfehlen, so wie man den zweiten Band „Lieben“ jedem empfehlen wollte, der oder die gerade Kinder bekommen hat. Knausgårds große Stärke ist es, zum Kern der manchmal diffusen Gefühle vorzudringen, die mit unseren Erfahrungen verbunden sind.

Knausgård, der Proust verschlungen hat, bezeichnete sich selbst einmal als Anti-Proust. Proust sei elegant, sein eigener Text dagegen roh. Proust sei wunderbar strukturiert, sein eigener Text direkt. Er hatte lange versucht, über seinen Vater zu schreiben, aber es war ihm nie gelungen, bis er die Frage nach der Qualität des Textes ausklammerte: Nicht clever komponieren wollen, einfach aufschreiben. Er habe Angst gehabt, dass es das langweiligste Buch werden könnte, das je geschrieben wurde. Doch es funktioniert. Tatsächlich entsteht durch das direkte Erzählen eine sehr intensive Leseerfahrung. Die Übersetzung von Paul Berf ist dabei ein großer Glücksfall, denn sie nimmt genau dieses organische Erzählen auf. Jedes Komma und jeder Punkt sind genau richtig gesetzt, um den Erzählfluss zu tragen. Hat es einen einmal gepackt, muss man überall mit durch, alles mitfühlen.

Es ist keine Offenbarung, der man zusieht wie einem Autounfall, bei dem man nicht wegsehen kann. Diese Dynamik hier führt uns ohne Schaulust ins zutiefst Menschliche. So kann es erstaunlicherweise geschehen, dass das, was der Junge Karl Ove in Norwegen erlebt, mit der eigenen Erfahrung verschmilzt, obwohl die Erzählung mit fremd klingenden Namen, Dörfern, Produkten und Naturbeschreibungen gefüllt ist. Es ist alles so spezifisch anders, und dennoch findet sich darin vor allem das Gemeinsame. Es kann nicht verwundern, dass die Bücher in Skandinavien für so viel Furore gesorgt haben, aber es verwundert ebensowenig, dass sie mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt wurden. Der Graben, den das Fremde erzeugt, ist am Ende erstaunlich klein.

Knausgård geht der Unerschöpflichkeit des Lebens auf die Spur, die neben der Banalität des Alltäglichen besteht, oder ihr unterliegt, in ihr wohnt. Das Immergleiche, die Routinen des Alltags mögen langweilen oder schwer zu ertragen sein, aber der Ausbruch aus ihnen ist keine Lösung. Er würde bedeuten, auch alles Wichtige und Schöne zurückzulassen. All die großen Fragen, die großen Ereignisse – die Beziehung zu den Eltern, die Liebe zu seiner Frau, selbst Vater zu sein – all das findet statt im täglichen Kleinklein. Knausgård dreht jeden Stein um und schreibt die Oberfläche damit fast manisch weg, um die Frage zu beantworten: Wo sind wir in diesem Leben?

Seine Erzählung ist schonungslos, aber sie ist nicht gnadenlos. Der Sog des Lesens ist trotz aller beschriebenen Zurückweisungen kein negativer, denn immer ahnt man die Liebe darunter. Nur weil sie da ist, in allem und zu allen, kann es die Verletzungen in ihrer Intensität schließlich überhaupt geben. Man möchte das beschriebene Universum nicht verlassen, ganz so wie man das eigene Leben (im Idealfall) nicht verlassen möchte, trotz aller Einwände, die dagegen auszusprechen wären. Wir wussten es schon, aber wissen es mit jedem Knausgård-Band immer noch genauer: Ohne Sorgen ist die Liebe eben nicht zu haben. In all ihrer Radikalität und Banalität sind dies Bücher, die unsentimental Hoffnung spenden: Die Ernüchterung mag im Laufe des Lebens wachsen, aber die Liebe darunter vielleicht doch nicht zerbrechen.

In diesen Büchern verschwindet man, in aus der Zeit geworfenen Stunden. Wenn es doch nur gleich weiterginge, aber wie jedes Mal heißt es jetzt auch wieder: leidvoll warten, bis Paul Berf den nächsten Band übersetzt hat.

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