Die Rolle von pflegenden Angehörigen [#]
Monat: April 2014
menschen hautnah.
Schöne Dokumentation über einen jungen Mann mit fragilem X-Syndrom. [#]
Auch wenn Jan Etges viel selbständiger ist als John, erinnert mich das Tanzen sehr an unseren Kandidaten. Die Szene im Cabrio ist auch typisch Johnchenmann, genauso war er in unserem Cabrio seinerzeit auch. Was die Eltern sagen, verstehe ich gut: dieses Erfolgserlebnis, wenn man einen Schritt weiterkommt. Die Schritte sind bei uns noch kleiner, aber das Gefühl ist sehr ähnlich. John kann jetzt zum Beispiel Teller und Besteck von der Küche zum Esstisch und zurück tragen, das Licht im Badezimmer einschalten und (!) den Verschluss einer Wasserflasche zudrehen.
In der Küche höre ich Deutschlandfunk und das gefällt John anscheinend nicht (Sprechen statt Musik). Vorgestern kam er nämlich in die Küche, drehte ärgerlich am Regler und fand mehr zufällig einen Sender mit Musik. Darüber freute er sich, lief aber sofort wieder hinaus und ließ mich mit Hits aus den 80ern zurück. (Osterferien-Schlawiner.) Früher hat er in der Küche manchmal gejammert und ist ausgeflippt. Da er aber nie das Radio anfasste, wusste ich nicht, dass dies wahrscheinlich öfter ein Ärgernis für ihn war. Wir sehen immer mehr Initiative und Ausprobieren, was einerseits Erfolgserlebnisse für John bringt und uns gleichzeitig mehr Hinweise gibt zum Verstehen von Ursachen seiner Frustrationen.
[Trotzdem höre ich in der Küche weiter Deutschlandfunk, damit muss John leben lernen. Für die kurzen Momente, die er rein- und rausgehüpft kommt, kann ich nicht die ganze Zeit beim Kochen Hits der 80er hören. Aber immerhin können wir es ihm nun zu erklären versuchen.]
aktion mensch.
Christiane hat schon sehr gut darüber geschrieben: In Bonn hat ein Richter eine 82-jährige Mutter verurteilt, deren geistig behinderte 57-jährige Tochter zu laut für die Nachbarn ist. Nun kann man sich alles mögliche denken, was eine bisher als behindertenrechtsorientiert beleumundete Organisation wie die „Aktion Mensch“ dazu zu sagen hätte, aber der Pressesprecher Sascha Decker geht nicht auf die Situation ein, sondern wartet mit einem allgemeinen Statement zur Inklusion auf, das zudem erstaunt: „Dazu muss gehören, dass ich jemandem, der pöbelt, oder der sich nicht an die Regeln hält, sagen kann: ‚Stopp. Du überschreitest hier eine Grenze.‘ Ich denke, wir tun dem Thema Inklusion keinen Gefallen, wenn wir hier vor den Menschen mit Behinderung Schluss machen und sagen: ‚Das gilt für die nicht.'“ [#]
Hat die „Aktion Mensch“ also vor allem Verständnis für die Nachbarn und das Urteil? Sie rechtfertigte sich gegen Kritik mit dem Argument, dass es sich nicht um eine Aussage zu dem Fall gehandelt habe, sondern um eine generelle Stellungnahme zur Inklusion, die von der ARD im Kontext des Beitrags irreführend oder falsch platziert wurde. Dieses Argument scheint vorgeschoben, denn offensichtlich war die „Aktion Mensch“ mit dem Beitrag in der ARD so zufrieden, dass sie ihn auf der eigenen Facebook-Seite verlinkt hatte. Zudem hat sich der Pressesprecher auch im WDR in dieser Richtung geäußert: „Es kann nicht sein, dass eine Gruppe von Menschen immer auf die ‚armen Behinderten‘ Rücksicht nehmen muss. […] Wenn ein Kind zur Welt komme, eine Familie mit drei Teenagern in einer Wohnung lebe oder wenn ein 60ster Geburtstag mal ein bisschen lauter werde, dann finde man doch meist auch eine Lösung. Bei Behinderten – da ist sich Sascha Decker sicher – werden in solchen Zusammenhängen noch immer andere Maßstäbe angelegt.“ (Wer solche Freunde hat, braucht wirklich keine Feinde mehr.)
Lassen wir uns mal auf die Rechtfertigung ein, dass der Pressesprecher von „Aktion Mensch“ nach einer Gerichtsentscheidung, die im Gegensatz steht zu vielen vorherigen Entscheidungen bei Gericht, und die ein völlig neues Niveau an Diskriminierung eröffnet, dass also eine Behindertenrechtsorganisation zu einer Entscheidung mit solcher Tragweite gar keine Meinung hat und stattdessen zeitgleich unschuldig O-Töne zur Inklusion abgibt, die zufällig so interpretiert werden können, als ob sie etwas mit dem Kontext zu tun haben könnten [es fällt mir überaus schwer, an dieses Ausmaß an Naivität zu glauben]: Der Punkt ist, dass die Aussagen auch ohne den Kontext der Gerichtsentscheidung erschreckend sind.
Ein Kind wächst auf, ein 60. Geburtstag findet einmal im Leben statt, mit Teenagern kann man reden: Bei den Beispielen handelt es sich durchweg um temporäre Situationen und zudem solche, die im Mainstream unseres Lebens verankert sind und alleine deshalb bei der Umwelt schon eher auf Verständnis stoßen. Wie kann es sein, dass der Pressesprecher der „Aktion Mensch“ so wenig versteht, dass und wie die Lage bei Menschen mit einer schweren Behinderung eine ganz andere und gänzlich unvergleichbare ist? Genau deswegen werden doch zurecht „noch immer andere Maßstäbe angelegt.“ Es gibt diese schöne Karikatur, in der eine Reihe von Tieren vor einem Baum steht, unter ihnen ein Affe und ein Elefant, und ihnen wird die Aufgabe gestellt, auf den Baum zu klettern. Darunter der Rechtfertigungssatz: „Aber wieso? Wir haben allen die gleiche Aufgabe gestellt!“ So hört sich das für mich an, das Argument mit den gleichen Maßstäben.
Bei einem Menschen wie meinen Sohn John ist nahezu nichts gleich, eben weil er fundamental anders ist, in seinem ganzen Wesen und Sein, und alleine dadurch schon permanent befremdet. Wenn er sich laut und aggressiv verhält und so richtig heftig stört, und zwar so, dass es einen selbst in der Existenz erschüttert, dann ist das natürlich problematisch und kann auch nerven. Aber es lässt sich nicht abstellen, gerade weil John nicht versteht, dass er stört. Wir wissen nicht, wie viel er versteht und wie er die Welt überhaupt wahrnimmt. Wir können versuchen, verhaltenstherapeutisch etwas zu bewirken, und in kleinen Schritten funktioniert das auch, aber „lösen“ ließe sich das Problem nur durch Sedierung. Das Argument fiel im Zusammenhang mit dem Gerichtsurteil tatsächlich auch: „Der Richter zeigte sich davon überzeugt, dass es noch Möglichkeiten wie therapeutische und medizinische Maßnahmen gebe, Einfluss auf die Tochter zu nehmen.“ [#]
Wenn das der Weg ist, den wir als Gesellschaft – von Nachbarn initiiert, von einem Gericht als nunmehr legitime Rechtsauffassung auf den Weg gebracht und von einer Behindertenrechtsorganisation mehr oder weniger unbeholfen unterstützt – nun einschlagen wollen, dann ist das wirklich eine Angstmaschine. Wer fragt eigentlich die Mutter in dem Bonner Fall? Sie wohnt mit der Tochter direkt zusammen, für sie wird es so laut sein wie für sonst niemanden. Sie hält es anscheinend aus, seit 57 Jahren. Man könnte sie fragen, wie sie das macht. Ich würde sie das gerne fragen, denn ich mache das erst seit 13 Jahren, und es zehrt an einem, man muss immer neue Wege finden, das zu meistern. Wir könnten lernen von dieser Frau, anstatt sie zu verklagen. Sie aber bekommt eine Ordnungsstrafe auferlegt und im Zweifelsfall irgendwann eine Ordnungshaft. Es dürfte ziemlich klar sein, dass sie an dem Verhalten der Tochter nichts wird ändern können, sofern sie sie nicht sedieren möchte. Was soll eine Geldstrafe da eigentlich genau bringen?
Dazu hören wir nichts von der „Aktion Mensch“. Der Pressesprecher rechtfertigte sich gestern in einem Kommentar bei Facebook: „Ich habe also nicht das Urteil kommentiert, sondern generell Auskunft gegeben: Inklusion wird nur gelingen, wenn sich alle trauen, auf den anderen zuzugehen und ihm zu sagen: Das stört mich, das belastet mich, das mag ich nicht. Kann ich vielleicht helfen? (sd)“ Der Kommentar liest sich für mich unglaublich zynisch, denn genau dieses „aufeinander zugehen“ ist im Bonner Fall ja wohl gerade nicht passiert, es sei denn, man definiert „vor Gericht verklagen“ als „aufeinander zugehen.“ Etwas Ähnliches habe ich selbst erlebt, als unser Nachbar ein zunächst anonymes Lärmprotokoll führte und bei der Hausverwaltung einreichte, ohne vorher je an unserer Tür geklingelt zu haben, um das Gespräch zu suchen. Vom Pressesprecher kamen gestern weiterhin nur vage Allgemeinaussagen, die das Ganze noch schlimmer machen, weil sie in Bezug auf den Fall zynisch wirken.
Heute heißt es von einem anderen Autor der „Aktion Mensch“: „Die Hintergründe der Auseinandersetzung in dem konkreten Fall kennen wir nicht. Was dort genau passiert ist, wissen wir alle nicht. Deshalb hat sich unser Pressesprecher allgemein zum Thema Inklusion geäußert. Grundsätzlich steht die Aktion Mensch natürlich auf der Seite von Menschen mit Behinderungen. (co)“ Grundsätzlich also. Im Einzelfall aber vielleicht doch nicht, oder wie? Wie ist diese neue Aussage zu verstehen? Immer noch und immer wieder diese Betonung, dass man sich zu dem Fall nicht äußern will. Wenn man offenbar so viel Angst davor hat, sich zu dem Fall zu äußern, warum hat man sich dann überhaupt geäußert? Hätte man sich dann nicht besser gar nicht geäußert? Es muss ja einen Grund gegeben haben, warum man sich zu dieser merkwürdig verqueren Vorgehensweise entschieden hat, sich nicht zu dem Fall, wohl aber zur Inklusion zu äußern. Warum zieht man die Inklusion da mit rein?
Den Begriff hat der Pressesprecher ganz offenbar sowieso nicht verstanden. Er definiert ihn in seinen Aussagen mit einer Haltung, mit der wir früher von Integration gesprochen und wie wir Integration gedacht haben. Vom Begriff der Integration haben wir uns aber bewusst abgewendet, weil er implizierte, dass die Menschen mit Behinderung so angepasst werden sollen, dass sie in die Gesellschaft hineinpassen, also von außen in die Gruppe hinein integriert werden. Inklusion sollte ein Begriff sein, der von diesem Denken gerade wegführt und stattdessen die „Bringschuld“ der Anpassung nicht mehr beim Mensch mit Behinderung ansetzt, sondern bei der Gesellschaft, die sich so umgestalten soll, dass jeder in sie hineinpasst. In seinen Aussagen zur Inklusion hat der Pressesprecher leider gezeigt, dass er gar nicht Inklusion denkt, sondern Integration.
Derweil nimmt dann angesichts des Bonner Urteils unser Nachbar vielleicht auch sein Lärmprotokoll wieder auf und auch wir zahlen irgendwann Ordnungsgelder. Dabei zahlen wir die eigentlich sowieso schon wöchentlich an der Tankstelle: Wenn John morgens um sechs zu viel Krach macht, setzen wir uns regelmäßig samstags und sonntags mit ihm ins Auto und kurven durch das erwachende und schlafengehende Berlin. In Friedrichhain kauft sich ein Mann am Boxhagener Platz einen Döner und ein Paar trägt auf der Grünberger Straße eine Pizzapackung nach Hause, das sind die Zubettgeher nach einer durchfeierten Nacht. In Kreuzberg fährt die Polizei besonders gerne Streife. In Mitte wird der Gendarmenmarkt gefegt. Am Sonntagmorgen gegen sechs begegnen sich in der ganzen Stadt diejenigen, die den Tag beenden, und diejenigen, die ihn beginnen, und wir sind die vorbeifahrenden Zeugen dieser Begegnungen und Bewegungen, weil wir unsere Nachbarn schonen möchten – und wir erwarten dennoch ständig das nächste Lärmprotokoll im Briefkasten. Tut mir leid, aber mich ermutigt das Bonner Urteil natürlich nicht. Allerdings ermutigt mich die Reaktion der „Aktion Mensch“ noch viel weniger. So ist das wohl, wenn die Verbündeten schwinden.
[Ich würde gerne eine Stellungnahme der ARD zum Vorwurf der „Aktion Mensch“ hören. Wurden die Aussagen in einen falschen Kontext gestellt? Hat man Herrn Decker gesagt, dass es um Berichterstattung zu dem Bonner Fall geht?]