tddl 2010 [volker h. altwasser: wie ich vom ausschneiden loskam].

„Mensch, kriech raus! Deine Mauken will ich nicht auf meinem Bauch.“

Fast möchte man schon auf S. 48 ein abschließendes Radisch-Urteil fällen: ein Text, in dem Mauken vorkommen, kann kein schlechter Text sein. Da der Roman aber auch jenseits der Erwähnung von Mauken sehr schön ist, liest man gerne weiter. „Hinter ihnen war das Dorf Eldena, dessen Klosterruine Caspar David Friedrich gemalt und so die Deutsche Romantik begründet hatte. Natürlich nicht in Greifswald. Ich ahnte, dass man Greifswald verlassen muss, um etwas zu verwirklichen. Muss ich Greifswald verlassen, dachte ich und sah kurz auf die Aktfotos, dann wieder auf die Zweige des Setzlings, die versuchten, die Aussicht auf den Innenhof zu verbessern.“

Das ist alles richtig gut erzählt, lakonisch und doch nah, in den Schilderungen der versoffenen Väter und Stiefväter sehr, sehr beklemmend, immer wieder unter Einbeziehung des überzeugend eingearbeiteten Ausschneidethemas. „Vielleicht musste man manchmal den Hintergrund behalten und die Figur wegwerfen“, heißt es nach einer furchtbaren Konfrontation mit dem Stiefvater. „Die Menschheit hat zwei große Feinde: den Krieg und die Sucht. Das Leben besteht aus beidem, so viel ist sicher. Ein Drittel Krieg, ein Drittel Sucht und ein Drittel von Etwas, von dem ich nichts weiß.“

Man erfährt auch detailliert, wie das Heizen der Reichsbahndirektion funktioniert und komischerweise ist selbst das interessant, ein weiterer Beweis dafür, dass einen alles interessiert, solange es nur gut erzählt ist.

Auf der Fregatte ‚Bremen‘ macht der Protagonist dem Neuankömmling Richard klar, was es heißt, Wehrpflichtiger zu sein: „Wir setzten uns in die Offene Registratur und warteten auf die Unteroffiziere und auf den Wachtmeister. Als Wehrpflichtiger erledigte ich keinen Handschlag selbständig und übernahm keinerlei Verantwortung. ‚Wehrpflichtiger zu sein‘, hatte ich zu Richard gesagt, ‚ist, Urlaub vom Leben zu haben.‘ Er verstand.“

Wegen des Spiels gestern gegen Brasilien muss ich bei Altwassers DDR heute die ganze Zeit an Nordkorea denken. Ein Freund von mir, in der DDR aufgewachsen, ist vor ein paar Jahren mit einer Reisegruppe nach Nordkorea in Urlaub gefahren, um sich anzusehen, wie so etwas heute noch geht. Nach Nordkorea kann man nur mit einer angemeldeten Gruppe reisen und vorher muss man bestimmte Sachen bezahlen, wie zum Beispiel 40 Euro oder so für einen Kranz, der an einem Denkmal für Kim Il-sung niedergelegt wird. In Pjöngjang besichtigte die Gruppe einen Park. In dem Park gingen Familien spazieren, Kinder spielten, wie man sich das von einem Park am Sonntagnachmittag vorstellt. Irgendwann wurde die Reisegruppe zum Bus zurückgebracht, der Reiseleiter sah hektisch auf die Uhr, da bemerkte mein Freund, wie sich die Menschen im Park alle an einer Stelle zusammenzogen und gemeinsam den Park verließen. Er filmte das Ganze heimlich, während er in den Bus stieg. Gespenstische Aufnahmen, es sieht so aus, als wären die Menschen für einen bestimmten Zeitraum beordert worden, der Reisegruppe ‚glückliche Familien im Park‘ vorzuspielen.

Die FAZ macht auf dem Cover von „Wie ich vom Ausschneiden loskam“ ostdeutschen Neorealismus à la „Halbe Treppe“ aus, das geht in Ordnung, ein bisschen erinnert es mich tatsächlich sogar an „Müller haut uns raus“, aber solche Vergleiche sind ja sinnlos. Man muss dazu bei 25 Grad in der Sonne auch gar nicht mehr viel schreiben, da kann man besser einfach genüsslich den Rest zu Ende lesen.

Prädikat: Mein erster Lichtblick der diesjährigen Bachmannvorbereitung. Wenn der Text für den Bewerb nur annähernd so unterhaltsam und gut geschrieben ist wie dieser Roman, wird Volker Harry Altwasser einen der Preise mit nach Hause nehmen, so weit würde ich mich aus dem Fenster lehnen, wenn ich nicht eh schon auf der Terrasse säße. Allerdings habe ich ja auch erst Rossbacher und Schmidt als Vergleichsgrundlage.

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