aktion mensch.

Christiane hat schon sehr gut darüber geschrieben: In Bonn hat ein Richter eine 82-jährige Mutter verurteilt, deren geistig behinderte 57-jährige Tochter zu laut für die Nachbarn ist. Nun kann man sich alles mögliche denken, was eine bisher als behindertenrechtsorientiert beleumundete Organisation wie die „Aktion Mensch“ dazu zu sagen hätte, aber der Pressesprecher Sascha Decker geht nicht auf die Situation ein, sondern wartet mit einem allgemeinen Statement zur Inklusion auf, das zudem erstaunt: „Dazu muss gehören, dass ich jemandem, der pöbelt, oder der sich nicht an die Regeln hält, sagen kann: ‚Stopp. Du überschreitest hier eine Grenze.‘ Ich denke, wir tun dem Thema Inklusion keinen Gefallen, wenn wir hier vor den Menschen mit Behinderung Schluss machen und sagen: ‚Das gilt für die nicht.'“ [#]

Hat die „Aktion Mensch“ also vor allem Verständnis für die Nachbarn und das Urteil? Sie rechtfertigte sich gegen Kritik mit dem Argument, dass es sich nicht um eine Aussage zu dem Fall gehandelt habe, sondern um eine generelle Stellungnahme zur Inklusion, die von der ARD im Kontext des Beitrags irreführend oder falsch platziert wurde. Dieses Argument scheint vorgeschoben, denn offensichtlich war die „Aktion Mensch“ mit dem Beitrag in der ARD so zufrieden, dass sie ihn auf der eigenen Facebook-Seite verlinkt hatte. Zudem hat sich der Pressesprecher auch im WDR in dieser Richtung geäußert: „Es kann nicht sein, dass eine Gruppe von Menschen immer auf die ‚armen Behinderten‘ Rücksicht nehmen muss. […] Wenn ein Kind zur Welt komme, eine Familie mit drei Teenagern in einer Wohnung lebe oder wenn ein 60ster Geburtstag mal ein bisschen lauter werde, dann finde man doch meist auch eine Lösung. Bei Behinderten – da ist sich Sascha Decker sicher – werden in solchen Zusammenhängen noch immer andere Maßstäbe angelegt.“ (Wer solche Freunde hat, braucht wirklich keine Feinde mehr.)

Lassen wir uns mal auf die Rechtfertigung ein, dass der Pressesprecher von „Aktion Mensch“ nach einer Gerichtsentscheidung, die im Gegensatz steht zu vielen vorherigen Entscheidungen bei Gericht, und die ein völlig neues Niveau an Diskriminierung eröffnet, dass also eine Behindertenrechtsorganisation zu einer Entscheidung mit solcher Tragweite gar keine Meinung hat und stattdessen zeitgleich unschuldig O-Töne zur Inklusion abgibt, die zufällig so interpretiert werden können, als ob sie etwas mit dem Kontext zu tun haben könnten [es fällt mir überaus schwer, an dieses Ausmaß an Naivität zu glauben]: Der Punkt ist, dass die Aussagen auch ohne den Kontext der Gerichtsentscheidung erschreckend sind.

Ein Kind wächst auf, ein 60. Geburtstag findet einmal im Leben statt, mit Teenagern kann man reden: Bei den Beispielen handelt es sich durchweg um temporäre Situationen und zudem solche, die im Mainstream unseres Lebens verankert sind und alleine deshalb bei der Umwelt schon eher auf Verständnis stoßen. Wie kann es sein, dass der Pressesprecher der „Aktion Mensch“ so wenig versteht, dass und wie die Lage bei Menschen mit einer schweren Behinderung eine ganz andere und gänzlich unvergleichbare ist? Genau deswegen werden doch zurecht „noch immer andere Maßstäbe angelegt.“ Es gibt diese schöne Karikatur, in der eine Reihe von Tieren vor einem Baum steht, unter ihnen ein Affe und ein Elefant, und ihnen wird die Aufgabe gestellt, auf den Baum zu klettern. Darunter der Rechtfertigungssatz: „Aber wieso? Wir haben allen die gleiche Aufgabe gestellt!“ So hört sich das für mich an, das Argument mit den gleichen Maßstäben.

Bei einem Menschen wie meinen Sohn John ist nahezu nichts gleich, eben weil er fundamental anders ist, in seinem ganzen Wesen und Sein, und alleine dadurch schon permanent befremdet. Wenn er sich laut und aggressiv verhält und so richtig heftig stört, und zwar so, dass es einen selbst in der Existenz erschüttert, dann ist das natürlich problematisch und kann auch nerven. Aber es lässt sich nicht abstellen, gerade weil John nicht versteht, dass er stört. Wir wissen nicht, wie viel er versteht und wie er die Welt überhaupt wahrnimmt. Wir können versuchen, verhaltenstherapeutisch etwas zu bewirken, und in kleinen Schritten funktioniert das auch, aber „lösen“ ließe sich das Problem nur durch Sedierung. Das Argument fiel im Zusammenhang mit dem Gerichtsurteil tatsächlich auch: „Der Richter zeigte sich davon überzeugt, dass es noch Möglichkeiten wie therapeutische und medizinische Maßnahmen gebe, Einfluss auf die Tochter zu nehmen.“ [#]

Wenn das der Weg ist, den wir als Gesellschaft – von Nachbarn initiiert, von einem Gericht als nunmehr legitime Rechtsauffassung auf den Weg gebracht und von einer Behindertenrechtsorganisation mehr oder weniger unbeholfen unterstützt – nun einschlagen wollen, dann ist das wirklich eine Angstmaschine. Wer fragt eigentlich die Mutter in dem Bonner Fall? Sie wohnt mit der Tochter direkt zusammen, für sie wird es so laut sein wie für sonst niemanden. Sie hält es anscheinend aus, seit 57 Jahren. Man könnte sie fragen, wie sie das macht. Ich würde sie das gerne fragen, denn ich mache das erst seit 13 Jahren, und es zehrt an einem, man muss immer neue Wege finden, das zu meistern. Wir könnten lernen von dieser Frau, anstatt sie zu verklagen. Sie aber bekommt eine Ordnungsstrafe auferlegt und im Zweifelsfall irgendwann eine Ordnungshaft. Es dürfte ziemlich klar sein, dass sie an dem Verhalten der Tochter nichts wird ändern können, sofern sie sie nicht sedieren möchte. Was soll eine Geldstrafe da eigentlich genau bringen?

Dazu hören wir nichts von der „Aktion Mensch“. Der Pressesprecher rechtfertigte sich gestern in einem Kommentar bei Facebook: „Ich habe also nicht das Urteil kommentiert, sondern generell Auskunft gegeben: Inklusion wird nur gelingen, wenn sich alle trauen, auf den anderen zuzugehen und ihm zu sagen: Das stört mich, das belastet mich, das mag ich nicht. Kann ich vielleicht helfen? (sd)“ Der Kommentar liest sich für mich unglaublich zynisch, denn genau dieses „aufeinander zugehen“ ist im Bonner Fall ja wohl gerade nicht passiert, es sei denn, man definiert „vor Gericht verklagen“ als „aufeinander zugehen.“ Etwas Ähnliches habe ich selbst erlebt, als unser Nachbar ein zunächst anonymes Lärmprotokoll führte und bei der Hausverwaltung einreichte, ohne vorher je an unserer Tür geklingelt zu haben, um das Gespräch zu suchen. Vom Pressesprecher kamen gestern weiterhin nur vage Allgemeinaussagen, die das Ganze noch schlimmer machen, weil sie in Bezug auf den Fall zynisch wirken.

Heute heißt es von einem anderen Autor der „Aktion Mensch“: „Die Hintergründe der Auseinandersetzung in dem konkreten Fall kennen wir nicht. Was dort genau passiert ist, wissen wir alle nicht. Deshalb hat sich unser Pressesprecher allgemein zum Thema Inklusion geäußert. Grundsätzlich steht die Aktion Mensch natürlich auf der Seite von Menschen mit Behinderungen. (co)“ Grundsätzlich also. Im Einzelfall aber vielleicht doch nicht, oder wie? Wie ist diese neue Aussage zu verstehen? Immer noch und immer wieder diese Betonung, dass man sich zu dem Fall nicht äußern will. Wenn man offenbar so viel Angst davor hat, sich zu dem Fall zu äußern, warum hat man sich dann überhaupt geäußert? Hätte man sich dann nicht besser gar nicht geäußert? Es muss ja einen Grund gegeben haben, warum man sich zu dieser merkwürdig verqueren Vorgehensweise entschieden hat, sich nicht zu dem Fall, wohl aber zur Inklusion zu äußern. Warum zieht man die Inklusion da mit rein?

Den Begriff hat der Pressesprecher ganz offenbar sowieso nicht verstanden. Er definiert ihn in seinen Aussagen mit einer Haltung, mit der wir früher von Integration gesprochen und wie wir Integration gedacht haben. Vom Begriff der Integration haben wir uns aber bewusst abgewendet, weil er implizierte, dass die Menschen mit Behinderung so angepasst werden sollen, dass sie in die Gesellschaft hineinpassen, also von außen in die Gruppe hinein integriert werden. Inklusion sollte ein Begriff sein, der von diesem Denken gerade wegführt und stattdessen die „Bringschuld“ der Anpassung nicht mehr beim Mensch mit Behinderung ansetzt, sondern bei der Gesellschaft, die sich so umgestalten soll, dass jeder in sie hineinpasst. In seinen Aussagen zur Inklusion hat der Pressesprecher leider gezeigt, dass er gar nicht Inklusion denkt, sondern Integration.

Derweil nimmt dann angesichts des Bonner Urteils unser Nachbar vielleicht auch sein Lärmprotokoll wieder auf und auch wir zahlen irgendwann Ordnungsgelder. Dabei zahlen wir die eigentlich sowieso schon wöchentlich an der Tankstelle: Wenn John morgens um sechs zu viel Krach macht, setzen wir uns regelmäßig samstags und sonntags mit ihm ins Auto und kurven durch das erwachende und schlafengehende Berlin. In Friedrichhain kauft sich ein Mann am Boxhagener Platz einen Döner und ein Paar trägt auf der Grünberger Straße eine Pizzapackung nach Hause, das sind die Zubettgeher nach einer durchfeierten Nacht. In Kreuzberg fährt die Polizei besonders gerne Streife. In Mitte wird der Gendarmenmarkt gefegt. Am Sonntagmorgen gegen sechs begegnen sich in der ganzen Stadt diejenigen, die den Tag beenden, und diejenigen, die ihn beginnen, und wir sind die vorbeifahrenden Zeugen dieser Begegnungen und Bewegungen, weil wir unsere Nachbarn schonen möchten – und wir erwarten dennoch ständig das nächste Lärmprotokoll im Briefkasten. Tut mir leid, aber mich ermutigt das Bonner Urteil natürlich nicht. Allerdings ermutigt mich die Reaktion der „Aktion Mensch“ noch viel weniger. So ist das wohl, wenn die Verbündeten schwinden.

[Ich würde gerne eine Stellungnahme der ARD zum Vorwurf der „Aktion Mensch“ hören. Wurden die Aussagen in einen falschen Kontext gestellt? Hat man Herrn Decker gesagt, dass es um Berichterstattung zu dem Bonner Fall geht?]

7 thoughts on “aktion mensch.

  1. Antworten
    franzilse - 2. April 2014

    Liebe Moni, bitte genau diesen, deinen Text an Aktion Mensch senden!!!

  2. Antworten
    Moni - 2. April 2014

    Ja, habe ich schon getan. Ich habe sie gefragt, ob die Unklarheiten aufgeklärt werden. Schön wäre, wenn sie ihren Fehler einsehen würden anstatt nur auf Rechtfertigungen zu beharren, wie in den Facebook-Kommentaren bisher. Mal sehen, ob eine Antwort kommt.

  3. Antworten
    Leonie - 2. April 2014

    Über die konkreten Umstände der Mutter und Tochter erfährt man gar nichts. Das wäre m.E. das Erste gewesen, was angestanden hätte. „Klopfen und Schreien“ könnte ja auch bei behinderten Menschen ein Zeichen für falsche Pflege, Gewalt oder sonstiges Leiden sein, das man vor allem zunächst ermitteln und lindern müsste.

    Daneben bleibt die Frage, wie Nachbarn mit andauerndem lautstarken Lärm umgehen sollten/müssten aber durchaus brisant. Erstmal Kontakt aufnehmen und versuchen zu helfen, klar. Hilft das aber nicht, was dann? Was sollen z.B. die immer mehr werdenden Menschen machen, die im Homebüro arbeiten und sich konzentrieren müssen?

    Das Bedürfnis, in den eigenen vier Wänden auch „nur“ zwecks Erholung „seine Ruhe haben zu wollen“ ist nichts per se Kritikwürdiges. Und nichts, was man wegdiskutieren oder mit einem „das musst du halt hinnehmen“ abspeisen kann.

    Vorübergehender Lärm, phasenweiser Lärm zu bestimmten Uhrzeiten – damit kann man evtl. noch umgehen indem man z.B. in der Zeit ausgeht. Wenn aber diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, bleibt nurmehr wegziehen. Wäre DAS dann deiner Ansicht nach eine behindertenfreundliche Lösung?

  4. Antworten
    KiezkickerDe - 2. April 2014

    Naja, da stand ja auch bei Christiane eine denkbare Lösung in den Kommentaren: Schalldämmung. Und sei es durch entsprechende Matten an den Wänden (Unterputz natürlich). Niemand erwartet, dass die komplette Nachbarschaft auszieht, aber das anfertigen von Lärmprotokollen mit dem Ziel, vor Gericht zu gehen und möglichst das Ausziehen der anderen zu erwirken ist ja nun auch keine Lösung (genauso wie anders herum).

  5. Antworten
    Moni - 3. April 2014

    @leonie: Ich bin extrem vorsichtig mit der Frage nach einer möglichen Vernachlässigung. Das kann nur individuell betrachtet werden. Grundsätzlich sind Verhaltensweisen wie Aggression, Lautsein, auch „Kopf gegen die Wand schlagen“ typische Begleiterscheinungen bei Kindern wie zum Beispiel auch John. Natürlich kann es bei schwerstbehinderten Kindern auch Fälle von Vernachlässigung geben, allerdings gibt es keinerlei Evidenz dafür, dass dies häufiger vorkäme als bei nicht-behinderten Kindern. Dann müsste man alle Eltern unter Generalverdacht stellen. Im vorliegenden Fall ist mir nicht bekannt, dass irgendjemand einen solchen Vorwurf überhaupt erhoben hat; das scheint hier also keine Rolle zu spielen.

    Der Lärm kann natürlich ein Problem sein. Lösungen sind da schwer zu finden und ich habe leider auch keine. Beim Vorschlag von @kiezkickerDE mit der Schalldämmung frage ich mich, wie praktikabel das ist. Wer sollte denn eine Mietwohnung, aus der man aus unterschiedlichen Gründen (Arbeitsplatzwechsel, Schulwechsel etc.) vielleicht sowieso bald wieder auszieht, mit einer so teuren Ausstattung versehen? Und den am stärksten Betroffenen, die nämlich im selben Haushalt leben, hilft diese Maßnahme auch nicht. Sollen die wieder mit dem Problem alleine gelassen werden?

    @leonie: Wenn jemand wegen des Lärms wegzieht, sehe ich nicht, dass es überhaupt irgendetwas mit behindertenfreundlich/-feindlich zu tun hat. Wenn man nicht auf dem Land lebt, mit 2 km Entfernung zum nächsten Nachbarn, dann wird man sich immer mit dem arrangieren müssen, was um einen herum los ist. Wenn man das nicht kann, zieht man halt manchmal um. Ich bin in Berlin einmal aus einer Wohnung gezogen, nachdem nebenan in einem Integrationsprojekt ein ehemals obdachloser Punker eine Einzimmerwohnung mit drei großen Schäferhunden bezogen hat. Ich hatte überhaupt nichts gegen den jungen Mann, aber seine Hunde waren sehr laut und pinkelten jeden Tag den Flur auf 3 Etagen voll. Mit John war es sehr schwierig, die drei Stockwerke rauf- oder runterzukommen. Ich wollte mich nicht über den Punk beschweren. Der hatte gerade eine Chance bekommen, ein neues Leben aufzubauen und ich hoffe, er hat es geschafft. Also habe ich stattdessen eine neue Wohnung gesucht. Mit John ging das in der Kombination einfach nicht. Das heißt doch nicht, dass ich obdachlosenfeindlich bin. Häufigeres Beispiel: Manche Menschen ziehen um, wenn neben ihnen eine Kita eröffnet wird, weil sie der Kinderlärm stört. Sowas wird es immer geben.

    Ich denke, dass ein großer Teil des Problems darin liegt, wie tolerant wir sind/ sein wollen. Wenn wir Inklusion ernst meinen und selbst die schwierigsten der Schwierigen nicht mehr irgendwo am Stadtrand in einer Anstalt leben sollen, wo sie keiner hört oder wahrnimmt, dann werden wir uns auch an größeren Lärm und ihre andersartigen Geräusche gewöhnen müssen. Wir hatten es als Gesellschaft lange Zeit so arrangiert, dass man vor dem Problem einfach die Augen verschließen konnte und ruhig vor sich hin leben. Wer selbst niemanden in der Familie hatte, der oder die so fundamental anders war, hat von der Problematik vielleicht sogar gar nichts mitbekommen. Das war natürlich ganz schön bequem, aber die Zeiten sind vorbei. („Zum Glück“, sage ich. „Leider“, sagen vermutlich andere.) Der Prozess der Deinstitutionalisierung ist eine Errungenschaft, deren Tragweite – in positiven wie in negativen Begleitaspekten – sich langsam aber stetig erschließt. Wem das nicht gefällt, dem bietet sich die Alternative des eigenen Rückzugs.

    Der Nachbar, der das Lärmprotokoll gegen uns führte, sagte mir mal: „Sie können froh sein, dass ich mich nicht über die Geräusche Ihres Sohnes beschwere, wenn Sie ihn auf die Terrasse lassen. Das hören wir schließlich auch alles.“ Ich war sprachlos. Wo leben wir denn, wenn impliziert wird, dass ich meinen Sohn nicht auf die Terrasse lassen sollte, weil ihn dann andere Leute hören? Der Sohn des Nachbarn spielt direkt vor unserer Terrasse mit seinen Kumpels Fußball und das höre ich auch, also bitte. Warum sollen dessen Geräusche akzeptabler sein als die meines Sohnes?

    Da liegt der Hase meines Erachtens im Pfeffer: Was das Störempfinden angeht, geht es nämlich tatsächlich leider oft darum, ob es gewohnte oder ungewohnte Geräusche sind. Zeit, dass wir uns an die Geräusche gewöhnen, die uns heute noch befremden, kann ich da nur sagen. Wenn ich im Moment von Weitem ein großes Aufheulen höre, dann weiß ich, dass im nächsten Moment John mit unserem Einzelfallhelfer um die Ecke biegt und nach einem Spaziergang nach Hause zurückkommt. Ich wünsche mir, ehrlich gesagt, dass ich eines Tages so ein Aufheulen höre und es nicht automatisch John zuordnen kann, weil in unserer Gegend noch ein paar andere Kandidaten wie er leben.

    tl;dr: Gehört alles zum Leben dazu – sogar das, was uns nicht gefällt und das, was uns schmerzt.

  6. Antworten
    Julian - 4. April 2014

    Hallo Moni,
    bis eben habe ich leider gar nichts von dem Bonner Urteil mitbekommen, ich finde es sehr traurig, dass die Mutter und ihre Tochter so abgestraft werden, anstatt Unterstützung zu bekommen, noch dazu sind Mutter wie Tochter schon etwas älter und könnten eventuell (natürlich kann ich das nicht beurteilen) Hilfe gebrauchen oder zumindest angeboten bekommen.
    Ich war letzte Woche auf einer Tagung für Inklusion und war schockiert, wie wenige Politiker sich bewusst sind, was Inklusion bedeutet (zum Teil wurde meine Sicht von Inklusion, also die vollständige Inklusion und die Aufgabe des aktuellen dreigliedrigen Schulsystems, als radikal bzw fundamentalistisch bezeichnet), dass das dem Vertreter der Aktion Mensch jedoch nicht bewusst ist scheint bedenklich.
    Ich hoffe sehr, dass die Inklusionsbestrebungen sich kontinuierlich weiterentwickeln, in meinen Augen stehen wir noch ganz am Anfang dieses Trends. Ich habe mal gelesen, dass lediglich ein Drittel der Behinderungen vererbt werden, dass sollte doch eigentlich auch jedem „normalen“ Menschen zeigen, wie wichtig es ist ein Teil der Gesellschaft zu sein. Aus diesem Blickwinkel finde ich, dass jeder Mensch das Recht hat zur Gesellschaft dazuzugehören.
    Gruß, Julian

  7. Antworten
    Moni - 4. April 2014

    Ich habe heute mit dem Pressesprecher von der „Aktion Mensch“ telefoniert. Ich finde es sehr gut, dass er sich zu einem Gespräch bereit erklärte. Wir konnten sicher nicht alle Meinungsverschiedenheiten aus dem Weg räumen, aber ich verstehe nun zumindest besser, wie es zu der unglücklichen Situation gekommen ist.

    Es ist immer problematisch, wenn Medien Aussagen verkürzen oder nur Einzelbeispiele nennen, zumal wenn diese nicht zum Rest des Beitrags passen. In diesem Fall ging es um eine geistig behinderte Frau, aber das Zitat des Pressesprechers bezog sich auf einen Mann mit einer Körperbehinderung, der durchaus geistig in der Lage war, sein Verhalten zu steuern. Ich denke, das Problem ist tatsächlich die Verquickung von Allgemeinaussagen mit einem bestimmten Gerichtsfall, zu dem man nicht Stellung nehmen wollte. Und die Aussagen sind ohne Kontext natürlich sehr unglücklich.

    Nach wie vor verstehe ich nicht, warum die „Aktion Mensch“ nicht wenigstens allgemeine Aussagen zu dem Fall machen möchte, wie etwa: „Ein Gerichtsverfahren kann die vorliegenden Probleme nicht lösen.“ Aber das ist natürlich eine Entscheidung der „Aktion Mensch“, die ich akzeptieren muss.

    Im Verständnis der Inklusion liegen wir wohl näher beieinander als ich dachte. Da geht es letztlich vielleicht vor allem auch um strategische Fragen der Formulierung. Will man es ganz deutlich sagen? „Inklusion ist nicht zum Nulltarif zu haben und erfordert auch Zugeständnisse der Gesellschaft, zum Beispiel das Aushalten von Geräuschen.“ Ich denke, dass diese Ehrlichkeit nötig ist, denn das wird uns in der Realität sowieso begegnen. (In den Zitaten von Herrn Decker in der ARD und im WDR wurde die Notwendigkeit von Zugeständnissen ja nur für die Menschen mit Behinderung formuliert.) Ich denke, dass zwischen allen Betroffenen – ob Organisationen oder Privatpersonen – dazu ein wichtiger Dialog stattfinden muss und wird, der auch nach außen wichtige Impulse bringen kann.

    Mir ist mit dieser Sache nochmal klar geworden, wie schwierig es ist, gut und differenziert über Inklusion zu sprechen. Ich denke, die Erfahrungen mit den verkürzten Aussagen und Beispielen könnten die Mitarbeiter bei der „Aktion Mensch“ diesbezüglich auch neu sensibilisieren. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass dort schon viele Gespräche stattgefunden haben und auch weiter stattfinden. Ich bedanke mich bei Herrn Decker dafür, dass er sich konstruktiv auf meine Kritik eingelassen hat – ein Beispiel für andere Unternehmen, wie sie mit Resonanz aus dem Internet umgehen können.

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