erinnerung.

„Ich dachte wie ein Kind: Die Vergangenheit brauchte ich nicht.
Mir fiel nie ein, dass die Vergangenheit mich brauchen könnte.“

Jonathan Safran Foer, Extrem laut und unglaublich nah

km 00

KM 00, Normandie.

„Erinnern bedarf der Darstellung“, heißt es am Ende von Aleida Assmanns Buch Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Die Küste der Alliiertenlandung in der Normandie ist eine riesige Gedenkstätte. Übermorgen am 6. Juni jährt sich der D-Day zum 70. Mal und gerade jetzt summt die Gegend geradezu vor Erinnerung. Ich war mit Alumni der Cornell University und der Penn State University dort. Wir besuchten viele Orte: die Batterie Longues-sur-Mer, den Mulberry-Hafen in Arromanches, die Steilküste Pointe du Hoc, natürlich Omaha Beach, Utah Beach, den amerikanischen Friedhof in Colleville-sur-Mer und den deutschen Friedhof von La Cambe.

Utah Beach mit Gruppe

Kranzniederlegung

Amerikanischer Friedhof

Ein Absolvent der Penn State University ist auf dem amerikanischen Friedhof begraben. Ich habe auf Wunsch der Universität in Honfleur einen Kranz gekauft und beim Friedhof eine spezielle Zeremonie bestellt: Ein Mitarbeiter bringt einen kleinen Eimer Sand vom Omaha Beach ans Grab, reibt den Sand über das Kreuz, bürstet es ab und nur in den Buchstaben verbleibt dann Sand, so dass der Name deutlich lesbar wird. Die Repräsentantin der Universität sprach ein paar Worte und die Gruppe sang ihre Alma Mater. (Eine sehr amerikanische Erinnerungskultur, mit über siebzig Jahren fühlen sie sich ihrer Universität noch sehr verbunden.)

Die Kranzniederlegungszeremonie war sehr bewegend. In Emotionalisierung macht man den Amerikanern so schnell nichts vor. Ich hatte in Vorbereitung der Reise Aleida Assmann gelesen und zum Auftakt der Reise in Paris noch Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. Mit diesen beiden Stimmen im Kopf bewegte ich mich durch diese Woche des Erinnerns an der Landungsküste.

Ich musste daran denken, was Aleida Assmann bezüglich der deutschen Erinnerungskultur über das Unbehagen an Ritualen schrieb: „Kritisiert werden vor allem drei Komponenten der Erinnerung: Emotionalität (Pathos der Betroffenheit), Inszenierung (leere rituelle Wiederholungen) und Institutionalisierung (Festschreibung der Erinnerung für die Zukunft). […] Ein dumpfes Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur hat es im rechten Spektrum immer schon gegeben. Jetzt aber steht es zunehmend auch auf der Agenda von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die den demokratischen Wertekonsens keineswegs in Frage stellen wollen.“ Assmann identifiziert diese Kritik als Abrechnung mit der 68er Generation, als Generationenkonflikt. Sie verteidigt die Erinnerungskultur überzeugend, auch mit dem aktuellen Bezug zum NSU-Skandal, der wieder leidvoll gezeigt hat: „Eine Zivilgesellschaft ist eine prekäre Institution und kein stabiler Besitz; sie ist nie ein für allemal gegeben, sondern muss sich als solche immer wieder bewähren, bestätigen und argumentativ durchsetzen. […] Auf dem Weg zu einer empathischen Gesellschaft gehören Erinnerungskultur und politische Bildung, Vergangenheit und Zukunft eng zusammen.“

„Sind die Deutschen also Weltmeister im Erinnern? Wenn ihnen dieser absurde Titel zukommt, dann nur, weil sie zuvor Weltmeister im Morden waren.“ Überall stößt man in der Normandie natürlich auf diese Erkenntnis. Ganz am Anfang hatte ich ein bisschen Bedenken gehabt, dass die amerikanische Gruppe es vielleicht nicht gut findet, ausgerechnet mit einer Deutschen diese Woche zu verbringen. Beim Welcome Meeting hatte ich diese Bedenken in einen Witz verpackt und gesagt: „Not that you wonder how you got stuck with a German, of all people, visiting the D-Day sites. I’m only here for the organizational part. A very knowledgeable British historian will guide us through the week.“ Sie lachten alle, zum Glück fand niemand es blöd, dass ich dort war. (Und unser britischer Guide war wirklich hervorragend.)

[Im Laufe der Woche sprachen mich mehrere Leute darauf an, warum wir nachfolgenden Generationen noch so zögerlich seien. Ich glaube, dass es auch daran liegt, dass die Geschichte nicht irgendwann auserzählt vor uns liegen wird, wie Aleida Assmann schreibt: „Jede Offenbarung verbirgt zugleich etwas anderes, was dann auf weitere Enthüllung wartet. Immer bleibt ein Rest des Schweigens, etwas, das man nicht wissen will, das man umgeht, dem man sich (noch) nicht stellen möchte oder das man übersieht und ignoriert.“ Und: „Im Gegensatz zum amerikanischen Traum, der Vergangenheit und Herkunftsgeschichten annulliert und das Versprechen einer neuen, glücklichen Zukunft macht, sind beim europäischen Traum Vergangenheit und Zukunft eng miteinander verknüpft.“]

Die Amerikaner reisen in die Normandie an einen Ort, an dem sie viele Verluste erlitten, aber auch einen großen Sieg errungen haben. Die Trauer mischt sich mit der Pathosformel der „Befreiung Europas.“ Ich habe dieses Mal in der Normandie das erste Mal gesehen, dass die Erinnerungskultur vor Ort durch „mediales Erinnern“ zurückbeeinflusst wird. Es gibt eine neue Statue von Richard Winters, der durch die HBO-Serie Band of Brothers bekannt geworden ist. Eine künstlerische Aufarbeitung der Erinnerung ist also so populär geworden, dass für einen der Protagonisten nun vor Ort eine Statue errichtet wurde. Erst die Serie löste dies anscheinend aus, wie ein Mann erzählte, der den Entstehungprozess und das Spendensammeln für die Statue in den USA mitverfolgt hat. „Erinnern bedarf der Darstellung“, wie wahr das ist, zeigt sich wohl auch an solchen Erinnerungsschleifen.

Richard Winters Statue

Bei BBC Travel gab es einen interessanten Beitrag zum Erinnern an den Ersten Weltkrieg: Where to commemorate WWI. (Wir waren in den letzten Herbstferien in Ypern und es war sehr beeindruckend.) Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Erinnern und dessen kommerziellem Ausverkauf. Dass der sogenannte Dark Tourism oft zu weit geht, zeigt dieser Artikel über Polen: Touring History’s Dark Side. Neben der berechtigten Kritik an ausbeuterischen Auswüchsen des Erinnerungstourismus finde ich es dennoch wichtig, Orte selbst zu sehen und zu erleben. Wenn man dies respektvoll tut, gibt es der abstrakten Erfahrung eine neue Dimension.

Als wir auf dem deutschen Friedhof ankamen, war gerade eine Schulklasse dort gewesen.

Gedenken einer Schulklasse

In Vielleicht Esther ist das Reisen an verschiedene Orte auch ein wiederkehrender Teil der Erinnerungssuche. Das Buch ist geprägt von Wehmut (oder ist es Sehnsucht?) und gleichzeitig von einer großen Kraft, die daraus erwächst.

„Bei welcher Zahl verschwindet der Mensch? 10.000 Erschossene wurden unter der Marbacher Linde begraben, drüben auf dem Berg, wenn ich mich nicht irre, wie soll ich mir das vorstellen, in meiner Schule waren wir nur 600, und in einem Stadion war ich noch nie. Wenn ich noch eine Null anhänge, muss ich anfangen, strategisch zu denken, ich stelle mir die großen Schlafbezirke vor, in den Hochhäusern auf der Insel gegenüber von meinem Kiewer Haus leben genau hunderttausend Menschen, ich bringe sie heimlich in die Todesstatistik ein, ohne sie in ihrem Schlaf zu stören, nicht für immer, nur um diese Zahl zu verstehen, und dann lasse ich sie wieder ins Leben zurück.

Wir sind mit 20 Millionen Kriegstoten aufgewachsen, dann stellte sich heraus, es waren viel mehr. Durch Zahlen sind wir verwöhnt und verdorben, von der Vorstellung der Gewalt vergewaltigt, wenn man diese Zahlen versteht, akzeptiert man auch die Gewalt. Mich ergreift eine Schwermut, ich weiß nicht, warum das alles so gewöhnlich klingt, fast langweilig.

Ich wollte eine Lösung finden, für mich und für diejenigen, die heute hier wohnen und arbeiten, ich wollte mich erinnern und darüber schreiben, es war aber eine Tätigkeit ohne absehbares Ende. Sisyphos wollte den Tod betrügen, und Thanatos bestrafte ihn mit nie endender Arbeit, er holte ihn aus dem Schattenreich ins Leben zurück und verurteilte ihn zu ewiger Beschäftigung, ewiger Mühe, ewiger Erinnerung. Sisyphos rollte seinen Stein nach oben, im Schweiße seines Angesichts, und wie das ausging, wissen wir.“

Wir sind alle 70

Im Friedensmuseum in Caen hat mich dann am Ende der Reise enttäuscht, dass es zu allen Opfergruppen Informationen gab, nur zu den Euthanasieopfern konnte ich nichts finden. Zu den Homosexuellen gab es nur eine ganz kleine Passage. Ich musste wieder an Vielleicht Esther denken: „Als die Ukraine vor zwanzig Jahren unabhängig wurde, bekamen mit der Zeit alle Opfergruppen ihr Monument: ein Holzkreuz für die ukrainischen Nationalisten, ein Denkmal für die Ostarbeiter, eines für zwei Mitglieder des geistlichen Widerstands, eine Tafel für die Zigeuner. Zehn Denkmäler, aber keine gemeinsame Erinnerung, sogar im Gedenken setzt die Selektion sich fort.“

Auch Aleida Assmann hat über das Problem geschrieben, das so merkwürdig Opferkonkurrenz heißt: Eine gänzlich inklusive Opferkategorie bietet keinen Raum für die besondere Identität der einzelnen Gruppen, eine gänzlich getrennte Opferkategorie dagegen perpetuiert die Selektion. Zur Überwindung der Opferkonkurrenz macht Assmann den Vorschlag eines dialogischen Erinnerns: „Ich verstehe dialogisches Erinnern ganz pragmatisch als wechselseitige Anerkennung von Opfer- und Täterkonstellationen in Bezug auf eine gemeinsame Gewaltgeschichte. […] Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt, nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid ins eigene Gedächtnis mit auf.“

[Das bleibt dann der Wunsch für die Zukunft: Dass auch die ermordeten Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen mehr in dieses dialogische Erinnern aufgenommen werden. Es ist kein Zufall, dass sie auch die letzten sind, die in Berlin ihre Gedenkstätte erst noch bekommen – und wir schreiben das Jahr 2014.]

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