überfordert statt überglücklich? schreiben Sie uns.

Was mich an dem Artikel auf ZEIT ONLINE stört:

1. Die Überschrift: „Überfordert statt überglücklich? Schreiben Sie uns“

In einem Qualitätsmedium hätte ich es gerne eine Nummer kleiner. Unser Leben mit einem schwerstbehinderten Kind ist keine emotionale Achterbahnfahrt. Würde man bei einer Familie mit einem nicht-behinderten Kind auch die Wahl geben zwischen überfordert und überglücklich?

2. Der Teaser: „Viele Eltern behinderter Kinder haben uns berichtet: Von Freude, erfolgreicher Inklusion, Liebe und Chancen. Doch ist das die Realität für alle Familien? Melden Sie sich!“

Die implizite Unterstellung hinter der Frage lautet: Das kann doch nicht die Realität für alle Familien sein. Meine Gegenfrage zunächst: Warum ist es so schwer, die Formulierungen von Freude, erfolgreicher Inklusion und Liebe zu würdigen und anzuerkennen? Warum triggern sie sofort dieses „Kann doch nicht sein“? Das ist leider ganz typisch, das begegnet mir nun seit vierzehn Jahren. Es gibt in der Gesellschaft eine anscheinend recht tief verwurzelte innere Abwehr gegen diese positiven Sichtweisen. Ich habe selbst noch nicht herausgefunden, worin das genau begründet liegt, aber eine positive Einstellung wird teilweise geradezu als Angriff empfunden. Das ist wirklich erstaunlich. (Mich beeindruckt das jedenfalls immer wieder. Ist es wirklich so schwer, sich vorzustellen, dass man mit einem schwerstbehinderten Kind glücklich sein kann?) Anstatt jetzt wieder nachzuhaken, dass das doch nicht sein kann, fände ich es viel interessanter, endlich mal an diesem Punkt anzuhalten und das sacken zu lassen: Offensichtlich wird das Leben von einigen/vielen betroffenen Familien nicht als Tragödie empfunden. Punkt. Als Betroffene bzw. Angehörige ist es ein bisschen meine Aufgabe, dies gut zu erklären zu versuchen. Die Aufgabe der Außenstehenden ist es aber, sich Mühe zu geben, es zu verstehen.

Und was heißt überhaupt „Realität für alle Familien“? Wieso sollte es denn eine Realität für alle Familien mit einem behinderten Kind geben? Wir sind genauso individuell unterschiedlich wie Familien mit nicht-behinderten Kindern.

3. „Gleichzeitig wissen wir aus den Recherchen: So einfach ist es nicht immer. Nicht für jeden. Es gibt, auch in Deutschland, Kinder mit Down-Syndrom, die in Heimen aufwachsen.“

Das klingt so alarmierend. Tatsächlich gibt es in Deutschland leider viele Kinder, darunter aber auch sehr viele nicht-behinderte, die in Heimen oder Internaten aufwachsen, weil die Eltern mit ihnen nicht klarkommen oder keine Zeit für sie haben. Das muss nicht immer und nicht primär etwas mit einer Behinderung zu tun haben. Und ganz abgesehen davon heißt „Heim“ nicht automatisch etwas Schlechtes. Es kann zum Beispiel auch sein, dass eine für die spezielle Disposition des Kindes herausragende Schule zu weit weg ist, um jeden Tag zu fahren. Es gibt viele Szenarien, auch durchaus sinnvolle. Weniger Dramatik würde gut tun.

4. „Nicht in jeder Familie wird mit Behinderung offen umgegangen. Manche Eltern haben aus sozialen Gründen keinen Zugang zu Inklusion, sind nicht in der Lage, Förderungsangebote sinnvoll zu nutzen.“

Ich bin seit vielen Jahren in Kontakt mit Eltern- und Selbsthilfegruppen und kenne fast ausschließlich Eltern, die offen mit der Behinderung ihres Kindes umgehen. Es gibt vereinzelt noch Familien, die sich mit der Offenheit schwer tun, aber ich bezweifle, dass sie nun ausgerechnet auf diesen ZEIT-Aufruf hin ihre Einstellung ändern und sich dann dort gleich in der ganz großen Öffentlichkeit zu Wort melden. Auch ZEIT ONLINE selbst wird wissen, dass das höchst unwahrscheinlich ist. Und die Eltern, die aus sozialen Gründen keinen Zugang zur Inklusion haben bzw. nicht in der Lage sind, Förderangebote sinnvoll zu nutzen, haben möglicherweise auch nicht unbedingt die ZEIT abonniert. Diese Passage ist l’art pour l’art. Fondor für den Text. Ich empfinde sie als respektlos, denn wenn man am Schicksal genau dieser Familien wirklich interessiert wäre, würde man die Familien über Betroffenen- und Selbsthilfeverbände zunächst nicht-öffentlich zu kontaktieren versuchen.

5. „An der seelischen Last, die durch die Sorge um ein nicht gesundes Kind entsteht, zerbricht so manche Partnerschaft.“

Soll hier impliziert werden, dass es bei Familien mit einem behinderten Kind mehr Trennungen gibt als bei Familien mit nicht-behinderten Kindern? Es gibt meines Wissens eine ganz alte Studie, die zu dem Ergebnis kam, und die seither bereits mehrfach widerlegt wurde. Zuletzt las ich sogar, dass Beziehungen zwischen Eltern eines behinderten Kindes oft widerstandsfähiger seien, weil die gemeinsame intensive Erfahrung zu einer tiefen Verbundenheit führen kann. Ja, sicher kann eine Partnerschaft zerbrechen, aber auch das muss nicht primär etwas mit der Behinderung des Kindes zu tun haben.

6. „Mehrere Mitarbeiter von Hilfseinrichtungen haben in Gesprächen mit ZEIT ONLINE betont: Die meisten Mütter, die zu ihnen kämen, seien alleinerziehend. Spätestens drei Jahre nach der Geburt des behinderten Kindes.“

Man hat also mit Mitarbeitern von Hilfseinrichtungen gesprochen. Warum nicht mit betroffenen Familien selbst? Dass zu Mitarbeitern von Hilfseinrichtungen mehr alleinerziehende Frauen kommen, ist zudem doch noch kein Hinweis darauf, dass es bei behinderten Kindern wirklich mehr alleinerziehende Mütter gibt. Ein klassischer Fehlschluss Cum hoc ergo propter hoc. Weil sie alleinerziehend sind, brauchen die Mütter vielleicht mehr Hilfe von außen: das kann ich mir schon vorstellen, es lässt aber keinen Umkehrschluss zu. Und dass die Mitarbeiter es „betonen“ und nicht einfach nur sagen, macht den eh schon würzigen Text vielleicht noch eindringlicher, aber nicht besser.

7. „In den Reaktionen auf unser Dossier klingen Probleme aber nur leise an. In den Erzählungen fehlen häufig die Väter, vom Job der Mutter ist wenig zu lesen.“

Wenn in den Reaktionen auf das Dossier die Väter fehlen oder vom Job der Mutter wenig zu lesen ist, dann zeigt das nur, wie subjektiv und selektiv Leserreaktionen sind. Möchte man diese Perspektiven porträtieren, könnte man – auch hier wieder der Hinweis – zum Beispiel Betroffenen- und Selbsthilfeverbände kontaktieren. Meiner Erfahrung nach sind die Väter in Familien mit einem behinderten Kind überwiegend gleichwertig engagiert, und ich kenne auch viele berufstätige Mütter mit einem behinderten Kind. Alles nicht schwer zu finden.

8. „Meist sind es die Frauen, die uns schreiben, die ihr Leben komplett auf das behinderte Kind ein- und umgestellt haben. Aber hätte sich manche davon ihr Leben mit Kind vielleicht doch anders vorgestellt?“

Hier kommt wieder dieser leicht herablassende und trotzige Unterton heraus, dass man sich das doch anders vorgestellt haben muss. Dabei: meines Wissens hat sogar niemand behauptet, dass er oder sie sich das Leben mit Kind nicht anders vorgestellt hätte. Ich habe das zumindest noch nie so gelesen: „Ich habe zwar ein behindertes Kind, aber das Leben mit Kind ist genauso, wie ich es mir vorher vorgestellt habe.“ Die meisten Mütter werden doch eher sagen, dass sie sich das Leben mit Kind natürlich anders vorgestellt hatten. Aber, so what? Geht das nicht irgendwie sowieso allen Eltern so? Hätte sich manche Mutter eines nicht-behinderten Kindes ihr Leben mit Kind nicht vielleicht auch anders vorgestellt? Ist es nicht geradezu ein fundamentaler Bestandteil der Erfahrung des Elternseins, dass wir uns das vorher gar nicht richtig vorstellen können und dann in die neue Situation hineinwachsen? Wie jede andere Mutter sind wir Mütter von behinderten Kindern auch keine Plattenspielernadel, die in dieser Rille hängen bleibt.

Das ist das grundlegende Problem mit dem Text: Hier werden fortwährend die falschen Fragen gestellt.

Diese Fragen könnte man allen Familien stellen. Sie dringen nicht zum Kern dessen vor, was vielleicht einen Unterschied ausmachen könnte.

9. „Gibt es Väter da draußen, die ihre Familie nach der Geburt eines nicht gesunden Kindes verlassen haben?“

Gibt es die? Wenn ja, dann melden sie sich auf diesen Aufruf hin bestimmt gerne.

Ach, das ist wirklich traurig, leider.

4 thoughts on “überfordert statt überglücklich? schreiben Sie uns.

  1. Antworten
    Wolf-Dietrich Trenner - 8. Februar 2015

    Danke. Du hast das so freundlich und richtig geschrieben. Der Journalismus nervt zunehmend.

  2. Antworten
    Ingrid Gerber - 8. Februar 2015

    …dem kann ich mich nur anschliessen! Sehr wohltuend „aufgedröselt“, wo die Nuancen in den Formulierungen die falschen Schlüsse bereits implementiert haben.

    Auch in dieser Branche macht der Preisdruck und die Einsparungen eine Veränderung in der Qualität. Oder nehmen wir es nur jetzt erst wahr, weil wir sensibilsiert sind?

    Seit 11 Jahren leite ich im VAMV OV Bonn eine Gruppe für Alleinerziehende mit chronisch kranken oder behinderten Kindern. Über all die Jahre war einmal ein Vater bei uns, dem es jedoch vornehmlich um Freizeitangebote ging, die wir idealer Weise für ihn hätten organisieren sollen. Da dies jedoch nicht der Schwerpunkt unserer Gruppe ist, blieb er dann nicht. Das ist jedoch von der Zahl der Interessenten im Vergleich nicht viel anders als im VAMV selbst – 95% sind alleinerziehende Mütter. Insofern trifft es den Schnitt.
    Bis auf ganz wenige Mütter arbeiten alle, oder arbeiten daran, wieder arbeiten gehen zu können. Sie sind besonders engagierte Mitarbeiter.
    Unterschiedlich ist, ob die Väter zahlen, oder nicht. Wenn sie nicht zahlen, ist die Baustelle für die Mütter noch etwas umfangreicher, weil das handicap des Kindes auch z.T. besonders zeitintensiv sein kann und damit Berufstätigkeit etwas komplizierter ist.

    Danke für’s Geraderücken dieser Frageaktion in der ZEIT! Ich hatte sie geteilt auf Facebook und jetzt teile ich dann auch noch diesen Eintrag hier, sozusagen Aufruf zur Erweiterung des Horizonts 🙂

  3. Antworten
    tikerscherk - 9. Februar 2015

    Danke für diesen Text.
    Sie zeigen sehr schön auf, wie beim Thema Behinderung (und Krankheit) immer wieder die defizitäre Sichtweise die Oberhand gewinnt. Man kann doch gar nicht glücklich sein, wenn man ein Kind in „regelwidrigem“ Zustand hat.
    Das fängt schon mit dem Druck an, der auf Schwangere ausgeübt wird, die sich der pränatalen Diagnostik verweigern und damit (vermeintlich) riskieren ein behindertes Kind zu bekommen und es setzt sich fort in Gerichtsurteilen, die Eltern eines behinderten Kindes Schadensersatz zusprechen, den der Frauenarzt zu bezahlen hat, der nicht auf das Risiko hinwies ein behindertes Kind zu bekommen.
    In einer Gesellschaft in der ein Kind qua Rechtsprechung als Schaden betrachtet wird verwundert es nicht, wenn eine seriöse Zeitung diese Haltung aufgreift.

  4. Antworten
    franzilse - 24. Februar 2015

    Danke, Monika, für das Differenzieren, Hinterfragen und AUFSCHREIBEN!!
    Ich schätze es sehr!

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