97 wochen.

Irgendwie muss dieses Weblog auch im Jahr 2018 ankommen, also nun. Wir haben ein Bild gekauft, das ist die große Nachricht zu Beginn des Jahres. Ein Bild der Künstlerin Katia Kelm, von der ich auf Anhieb 3-10 weitere Bilder kaufen könnte, weil mir so viele ihrer Bilder so sehr gefallen. Unser Bild heißt „Der Aufstieg.“ Schon als Katia es das erste Mal auf Instagram gepostet hatte, noch unfertig, habe ich mich sofort in dieses Bild verliebt. Nun also haben wir es gekauft und es hängt in unserem Wohnzimmer, wo es sich so schnell und geschmeidig eingelebt hat, dass es schon nach einer Stunde so war, als wäre das Bild schon immer da gewesen.

In gewisser Weise vervollständigt es uns, nachdem wir letztes Jahr den Grabstein für Johns Grab gekauft haben. Seitdem freuen wir uns praktisch jeden Tag darüber, dass wir den Stein gekauft haben. Auf dem Friedhof haben wir also den Stein und Zuhause jetzt das Bild. Nun haben wir an beiden Orten, die für uns Zuhause sind, einen John-Anker. Ich kann gar nicht so genau sagen, warum mich das Bild so anspricht, vielleicht, weil es dem Tod etwas Leichtes zufügt, definitiv etwas Überraschendes, oder weil es der offensichtlichen Schwere auch eine gewisse Normalität zugesteht, jedenfalls finde ich darin ganz vieles wieder, was mich bewegt und auch, was mir unerwartet begegnet ist in der Trauer. Das ist alles noch nicht zuende gedacht, ich denke ständig andere Sachen, wenn ich das Bild ansehe.

Vielleicht gerade weil Johns plötzlicher und unerwarteter Tod so brutal und in jedem Sinne schwer war, haben wir das Bedürfnis, ihm mit Ruhe und einer Form von Leichtigkeit zu begegnen. An Johns Grab zu sitzen hat etwas Sanftes, das Gegenteil dessen, was passiert ist. Nur dort auf dem Friedhof, am Grab, ist alles ganz klar. Wir haben nichts in der Hand als das. Wir können die Radikalität des Todes nur durch das Gegenteil aufzufangen versuchen. Ruhe und Geduld.

Wissenschaftler sagen, Trauernde brauchen Resilienz. Ich mag das Wort nicht. Hinter dem Fremdwort versteckt man das eigentliche Wort, Widerstandsfähigkeit, und im Widerstand schwingt ein kämpferischer, antagonistischer Unterton mit, der mir unpassend scheint. Ich sage lieber: Ruhe und Geduld. Nicht etwa zu verwechseln mit Gelassenheit oder Zufriedenheit. Ich weiß nicht, wohin mit mir ohne John. Selbstverständlich bin ich weder gelassen noch zufrieden. Aber ich bin ruhig und geduldig. Ich weiß, im Moment muss ich nur ertragen. Ich habe keine andere Aufgabe, denn diese ist schon riesig genug. Die ultimative Ambivalenz auszuhalten zwischen Liebe und Tod.

Vor kurzem bin ich über ein Zitat von Thomas Mann gestolpert: „Beherrscht dich ein Gedanke, so findest du ihn überall ausgedrückt, du riechst ihn sogar im Wind.“ In der Trauer entsteht da eine Leerstelle, weil eine sichtbare Referenz fehlt. Ist man schwanger, sieht man plötzlich überall Schwangere, Kinderwagen und Kleinkinder. Wir beziehen die Welt auf uns, deuten sie auf uns zu, das weiß man alles. Aber den Tod sieht man nicht. Als verwaiste Mutter kann ich keine anderen verwaisten Mütter sehen, es sei denn natürlich ich begebe mich explizit in eine Trauergruppe, die aber schon wieder eine abgeschiedene Welt darstellt. Im Alltag fehlen die sichtbaren Anhaltspunkte und so schwebt man weitgehend referenzlos durch die Gegend, kann seine Gefühle nicht ständig hier und da im Umfeld andocken.

Trauer wird in der Gesellschaft eine Außenseiterstellung zugesprochen. Jemand ist in Trauer: Wenn das gesagt wird, schwingt mit, der- oder diejenige sei im Grunde momentan nicht ganz zurechnungsfähig. Das mag für die ersten Monate tatsächlich durchaus gelten, aber irgendwann ist man wieder zurechnungsfähig, geht arbeiten und beim Griechen um die Ecke essen, lebt ein von außen vielleicht nahezu normal scheinendes Leben. Dann wird angenommen, die Trauer sei vorbei. Mitnichten, sie ist immer noch da, groß und unüberwindbar. Sie hat sich ins Leben integriert, aber das heißt eben nicht, dass sie vorüber ist oder jemals vorüber sein wird. Dieser Sarg wird, wie im Bild, immer wieder aufspringen.

Der einzige andere Gefühlszustand, dem man noch am ehesten zuschreibt, er mache temporär unzurechnungsfähig, ist das Verliebtsein. Trauer ist dem Verliebtsein überhaupt sehr ähnlich, denn Trauer ist pure Liebe zu dem Menschen, der gestorben ist. Und wie die Liebe im Glücksfall bleibt, so auch die Trauer. Wie die Liebe sich nach der ersten Aufregung in das Leben integriert, so die Trauer. Ich weiß nicht, warum mich diese Erkenntnis überrascht hat. Aus der heutigen Warte kommt mir das wie eine Selbstverständlichkeit vor. Ich hatte das vorher einfach nicht begriffen, weil man immer von den Trauerphasen hört und liest und allgemein angenommen wird, es gebe so etwas wie ein Trauerjahr usw. Ich habe einfach in meinem Umfeld und in meinen Lektüren nicht mitbekommen, dass die Trauer so ist: dass sie ein Teil des Lebens werden kann, dass sie bleibt und dass das nicht schlimm ist, weil sie nämlich der letzte Teil der Liebe ist, wenn man diese ganz zu Ende zu gehen gezwungen ist. Dieser letzte Teil bleibt, wie all die anderen davor, er gehört dazu. Trauer ist kein Außenseiter, sondern wie die Liebe (und als Teil der Liebe) mitten unter uns. So wie der Tod mitten unter uns ist, was wir ja aber heutzutage auch eher verdrängen.

Als wir letzten Oktober meine Eltern und meinen Bruder besucht haben, waren wir in der landesgeschichtlichen Ausstellung im Schloss Oldenburg. In einem Raum kann man die Kleider ansehen, die Graf Anton Günther im Sarg getragen hat. Gestorben im Juni 1667, fand die Beerdigung erst vier Monate später statt. Dazu wurde sein Leichnam in einen Sarg gebettet, der nach oben hin am Kopfende ein Sichtfenster hatte, zunächst damit sich das Volk von ihm verabschieden konnte, aber danach wurde er im Keller der Lambertikirche auf einem Hochaltar ausgestellt und die Besucher konnten durch das Fenster den Prozess der Verwesung verfolgen. Laut Informationstafel besuchte 1753 der Cousin von Gotthold Ephraim Lessing, Christlob Mylius, Oldenburg und schrieb: „Ich stieg auch hinunter in das gräfliche Begräbniß unter dem Altare, wo ich diesen Grafen, wiewohl sehr verweset, noch im Sarge liegen sah.“

Mehr als 80 Jahre nach dem Tod konnte man also immer noch den Prozess der Verwesung mitverfolgen. Auf der Informationstafel steht, dass der Sarg schließlich 1937 geöffnet wurde. Nur die Kleidung war noch erhalten. Heute sehen wir uns nicht nur gar keine Verwesung mehr an, heute wollen wir von Tod und Trauer allgemein möglichst wenig reden und wissen. Nicht, dass ich durch das Sichtfenster eines 80 Jahre alten Sarges sehen möchte, aber ein bisschen zu weit getrieben haben wir es mit der Verdrängung meiner Meinung nach schon.

Da stimme ich Caitlin Doughty zu, deren Buch Fragen Sie Ihren Bestatter ich kürzlich gelesen habe. In dem Buch geht es um viele Dinge, die spezifisch amerikanisch sind (zum Beispiel um das sinnlose Einbalsamieren), und insofern lässt sich der Bestseller nur bedingt nach Deutschland übertragen. Aber der Grundbotschaft, dem Tod offener und neugieriger zu begegnen, stimme ich vollends zu. In den letzten Tagen haben wir uns auch einige ihrer Videos auf Youtube angesehen: Ask a mortician.

Ich schreibe das hier alles auch auf, weil ich gerne ein Buch über den Tod schreiben würde, das mehr auf die Gegebenheiten in Deutschland zugeschnitten ist und die Perspektive der Trauer stärker berücksichtigt, die bei Doughty wegen ihrer professionellen Perspektive nahezu ganz fehlt. Die Frage ist allerdings, ob das überhaupt jemanden interessieren würde.

16 thoughts on “97 wochen.

  1. Antworten
    Sammelmappe - 12. Januar 2018

    Doch. Ja. Das interessiert.
    Ist wichtig.

    Und tröstlich.

  2. Antworten
    katia - 12. Januar 2018

    unbedingt schreiben!

  3. Antworten
    regina - 14. Januar 2018

    liebe, liebe monika scheele knight, ihre gedanken sind so klar in worte gefasst – das ist so schön. danke.

  4. Antworten
    Apriori - 14. Januar 2018

    Ein toller Text, vielen Dank! Ich würde dein Buch sehr gerne lesen.

  5. Antworten
    Frauke Watson - 14. Januar 2018

    Ja! Bitte schreiben!

  6. Antworten
    Margot - 21. Januar 2018

    Einfach nur hallo, es gibts sie überall, die verwaisten Mütter.

  7. Antworten
    n - 24. Januar 2018

    Danke für den Text! Ich kann alles unterschreiben.

    Es ist spezifisch für Eltern früh verstorbener Kinder geschrieben, aber ich finde das Buch „Gute Hoffnung – Jähes Ende“ von Hannah Lothrop schön. Mir hat es ziemlich geholfen am Anfang meiner Trauer (Entschuldigung, falls ich den Tipp hier schonmal gegeben haben sollte).

    Dein Buch würde ich durchaus gerne lesen. Bzw. hätte ein Buch, das für Eltern erst kürzlich verstorbener Menschen bestimmt ist, immer das Problem, im richtigen Moment gefunden zu werden.

  8. Antworten
    Monika - 26. Januar 2018

    Vielen Dank für alle Rückmeldungen und auch für den Buchtipp. Das Buch kenne ich noch nicht und habe es mir gleich bestellt!

  9. Antworten
    Sara - 23. Februar 2018

    Ich habe diese Seiten erst eben gefunden. Über „read on, my dear, read on“. Mein Mann ist vor über 4 Monaten ganz plötzlich nachts gestorben. In den Kapiteln über Johns Tod finde ich sehr viel wieder, was uns (ich habe zwei Kinder) damals auch passiert ist. Was meinem großen Kind geholfen hat war ein Buch „Wie ist das mit der Trauer?“, eben weil dort sehr viele „Fakten“, Riten, Ansichten, Handlungen, Vorgänge zum Thema Tod aufgearbeitet und erklärt wurden. Das, was nach dem Tod ablief, nochmals zu besprechen und zu reflektieren, hat dem großen Kind (7 Jahre) gut getan. Reden war (und ist) sowieso wichtig. Weil Wahrheit und Wissen helfen beim Verarbeiten. Notfallseelsorger hatten wir auch. Zwei Stück. Die waren da und in manchen Momentan war das genau richtig. Viel gesagt haben sie in meiner Erinnerung nicht. Allerdings war auch eine Pfarrerin und dann ein Pfarrer sehr hilfreich. Die haben gute Worte gehabt. Rat und Struktur in das Geschehen gebracht, dass ich bis heute noch nicht ganz begriffen habe. Ich selbst kann gerade keine Bücher zum Thema Tod lesen. Zwei habe ich geschenkt bekommen. Und nach 1-2 Seiten bereite gelegt, weil ich diese Versuche, die Trauer einzuordnen, da irgendwie einen Rahmen, eine Struktur drumrum zu basteln, derzeit nicht ertragen kann. Entsprechend versuche ich, mehr im Moment zu sein und dahin zu gehen, wo diese Trauer mich und meine Kinder hin trägt. Es kommt und geht, mit dieser Trauer, mal ist sie groß und präsent, mal leise und manchmal auch voller Hoffnung.

    1. Antworten
      Monika - 24. Februar 2018

      Liebe Sara, das tut mir sehr leid zu hören! Ich denke, es ist ein sehr langer Weg, jedenfalls bei uns ist es so. Bald zwei Jahre und gefühlt haben wir uns sehr wenig bewegt. Aber ich nehme es ganz genauso wahr: wir lassen uns von der Trauer tragen. Und das ist ja auch schonmal was, dass diese das kann. Alles Liebe!

      1. Antworten
        Sara - 24. Februar 2018

        Liebe Monika,

        vielen Dank für die Antwort! Ich weiß nicht, wie lange der Weg wird. Wir werden ihn gehen, wohl den Rest unseres Lebens lang. Und ich weiß nicht, wie das für meine Kinder sein wird und mache mir Sorgen. Und so ist es einfach. Ein Kind verlieren, und dann so plötzlich, das möchte ich mir gar nicht vorstellen. Ich finde es bewundernswert, dass Du darüber schreiben kannst. Das ist ja auch schon eine ganze Menge an Bewegung. Finde ich zumindest. Was mich überrascht hat, war, welche körperlichen Manifestationen die Trauer hat. Das wird bei mir zumindest langsam besser. Und ich bin froh darüber. Auf weiteres Getragensein von der Trauer. Liebe Grüße!

  10. Antworten
    Antje - 13. März 2021

    Hier noch eine weitere Ermutigung und auch Bitte zum Schreiben eines solchen Buches. Es ist nötig.

    1. Antworten
      Monika - 15. März 2021

      Danke! Das Buch ist schon geschrieben, ich suche gerade nach einem Verlag…

      1. Antworten
        Katharina - 10. Oktober 2023

        Ich finde diesen Text sehr schön, vielen Dank dafür. Mich würde das Buch auch sehr interessieren.
        Ich war in diesem Jahr zum ersten Mal bei einem „Trauerfeuer“ in der Schweiz, ein Ort an dem vier Tage lang in einer Gemeinschaft am Feuer getrauert wird, was auch immer es zu betrauern gibt, das können große und kleine Verluste sein, Abschiede, Veränderungen, jede*r kommt mit dem eigenen Schmerz (und der Liebe)…
        Es war für mich eine tief bewegende Erfahrung, mich in meiner Trauer zu zeigen und die Trauer anderer zu bezeugen. Seither ist mir ganz klar, we weren’t meant to grief alone. Es gibt noch nicht viele Orte (für mich) um in Gemeinschaft (oder in Gesellschaft) zu trauern, aber ich bin sehr froh, um die Orte, die es gibt.

        1. Antworten
          Monika - 24. Oktober 2023

          Danke! Das mit dem Trauerfeuer hatte ich noch nie gehört. Für mich ist der Friedhof so ein Ort. Er funktioniert für mich sehr gut zum Trauern.
          (Das Buch ist übrigens im August erschienen. Darin habe ich das auch beschrieben.)

  11. Antworten
    Brigitte Heidenreich - 19. Oktober 2022

    Ein so tröstender Text. Danke!
    Brigitte

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll to top