le moindre geste.

Der Mensch in aller Wahrheit der Natur, Rousseau, der die Idee des Edlen Wilden ja von John Dryden geklaut hat, damals schon, The Conquest of Granada, jedenfalls: der Mensch, der autonom, naturverbunden und jenseits der zivilisatorischen und kulturellen Manipulationen lebt, das ist der Mensch in aller Wahrheit der Natur, der Edle Wilde, und ich muss dabei immer an Autisten denken, teils weil die sogenannten Wolfskinder vielleicht tatsächlich Autisten waren, es gibt zumindest allerlei Hinweise darauf, teils weil sich dieses Motiv auch in Russland findet, in der langen Tradition der Wertschätzung „heiliger Narren“, demgegenüber aber Hobbes, der den Menschen im Naturzustand als gewalttätig, unproduktiv, einsam und vertiert beschrieb, erst durch eine regelnde Instanz, Leviathan, könne der Mensch diesem schrecklichen Dasein entkommen: der Autist hat seinen Platz an beiden Enden, er kann als Mensch in aller Wahrheit der Natur oder als rohe Gewalt wahrgenommen werden, wie kaum ein anderer versinnbildlicht er das fundamentale Spannungsverhältnis in der Natur des Menschen: die Erfahrung menschlicher Ohnmacht, weil weder Revolte noch Kultivierung helfen, wenn Du Dich im Extrem befindest.

[Nochmal nachgelesen bei Wikipedia über Truffauts Film Der Wolfsjunge: die Geschichte des Victor von Aveyron, ein so ausführlicher Eintrag, interessant die gegenüber dieser Flut an Wissen so klein scheinende Lücke in der Wikiwelt, nämlich dass Fernand Deligny nicht erwähnt wird, der aber für den Film so wichtig war, und auch nicht erwähnt wird, dass der Charakter des Victor nach dem Verhalten des bekannten Autisten Janmari gestaltet wurde.]

dass es dich gibt.

„Kinder gibt es viele in unserem Freundeskreis, behinderte Kinder nicht. Körperlich oder geistig Behinderte sehen wir ab und zu auf der Straße und sehen sie doch nicht. Ich will nicht starren und schaue lieber weg. […] Ich sitze auf dem Sofa, in die Wolldecke gewickelt, und versuche, nicht an den schwarzen Fleck in Lottas Kopf zu denken. Wird unser Baby überleben? Wenn ja, wie? Gibt es ein Leben, das schlimmer ist als der Tod? Die Fragen sind so groß, dass ich sie nicht über die Lippen kriege, sie bleiben als dumpfes Gefühl im Magen hängen. Abends wird es sehr still bei uns.“ [#]

l’ailleurs nous attend [2011].

John an Silvester 2011

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Wir haben unseren Weihnachtsbann durchbrochen: nachdem 2008 an Heiligabend mein Fahrrad geklaut wurde, wir 2009 die Schweinegrippe im Haus hatten und Weihnachten auf der unter den Baum gelegten Matratze verbrachten und sich John 2010 am zweiten Weihnachtstag den Fuß brach und wir den ganzen Tag in der Notaufnahme waren (unvergesslich die sehr kranke Oma dort, deren einzige Sorge es dennoch war, sie könnte am Abend das Traumschiff im Fernsehen verpassen), waren wir gespannt, was Weihnachten 2011 uns so bringt, aber: nichts, nur Ruhe.

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2010 war ein Übergangsjahr, vor allem durch Umzug und Schulwechsel, alles mit viel Aufwand und Bürokratie verbunden (neben dem üblichen Umzugsstress brauchten wir Genehmigungen von zwei Schulräten, für den Fahrdienst nach Fürstenwalde Gutachten von zwei Kinderpsychiatern, eine Neuordnung der Einzelfallhilfe bedingt durch den Umzug in einen neuen Bezirk etc.). 2011 sollte dann, so die Hoffnung, das Jahr werden, in dem sich alles stabilisiert und normalisiert. Das hat sich ansatzweise erfüllt: Johns neue Schule, die nun ja gar nicht mehr so neu ist, ist super, ich habe im letzten Jahr wieder mehr arbeiten können, Scotts Deutsch ist viel besser geworden. Dennoch war es immer noch ein bisschen ein Jahr der weiteren Suche: wohin soll es beruflich langfristig gehen, erste Gedanken, was für John nach der Schule kommen soll, anhaltende Verhaltensprobleme bei beachtlichem Wachstum lassen uns bangen, wie lange John noch zu Hause bei uns wird wohnen können, dabei hat Scotts dreimonatiges Sprachschulpraktikum, das er aus diesem Grund in einem Wohnheim für erwachsene Autisten verbracht hat, mehr Fragen aufgeworfen, als es beantwortete (nachdem er bei einem Bewohner in der Psychiatrie war, kam Scott nach Hause und sagte: „Da werde ich eher eingewiesen, als dass mein Sohn da einen Schritt reinsetzt“), aber überhaupt: was, wenn wir nicht mehr da sind, wie können wir John am besten auf ein Leben ohne uns vorbereiten, denn selbstbestimmt leben können wird John nicht, er wird immer auf viel Hilfe, Geduld und Unterstützung angewiesen sein, viele Fragen weiter immer im Hinterkopf.

[Das weiße Rauschen im Leben mit einem schwerstbehinderten Kind.]

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Der schöne Silvesterspaziergang durch das Wildgehege Glauer Tal.

Als Scott an Silvester um elf den Sekt öffnen wollte, protestierte ich noch, dass wir bis Mitternacht warten sollten, dann schlief ich natürlich noch vor zwölf auf dem Sofa ein und wachte erst um kurz nach eins wieder auf, im Radio lief NPR, ich fragte Scott: „Warum hast Du mich denn nicht geweckt?“ und er antwortete: „Du hast so schön geschlafen.“ Zart.

Auch ein verschlafener Jahresanfang ist ein guter Jahresanfang, zumal wenn man einen fürsorglichen Mann im Haus hat, der einen so gut kennt, dass er schon um elf den Sekt öffnet. (Natürlich nicht ohne einen dezenten Hinweis auf all die vorherig verschlafenen Jahreswenden, inklusive Millenium.)

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Selbstbildnis als Mutter eines Teenagers.

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Entdeckung: Les Talents Acoustic. John steht total auf zwei Lieder, die wir mit ihm ewig oft auf Youtube angesehen haben: Cyrille Aimée und Sirius Plan.

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Zürich, Interlaken, Meiringen, Bern, Spiez, Thun, Grindelwald, Luzern, München, Passau, Melk, Wien, Bratislava, Budapest, Kalocsa, Solt, Belgrad, Turnu Severin, Widin, Belogradtschik, Sofia, Thessaloniki, Pella, Vergina und natürlich Berlin.

[Arbeit].

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Thomas Pletzinger, Inka Parei, Kolja Mensing.

[2011 nur drei Lesungen besucht].

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Joshua Bell am 17.10.2011 in der Berliner Philharmonie.

[Konzert].

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10. Portugal, The Man: In the Mountain, In the Clouds
9. Wilco: The Whole Love
8. Fleet Foxes: Helplessness Blues
7. PJ Harvey: Let England shake
6. Death Cab for Cutie: Codes and Keys
5. Feist: Metals
4. Stephen Malkmus & The Jicks: Mirror Traffic [allgemein unterschätzt]

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3. Iron & Wine: Kiss Each Other Clean
2. The Decemberists: The King is Dead
1. Bon Iver: Bon Iver

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Wiedersehen: Bruder mit Familie das erste Mal seit anderthalb Jahren aus Kolumbien da, das dritte Kind, in Bogotá geboren, das erste Mal gesehen und herumgetragen. Babys herumtragen gehört ja sowieso mit zu den schönsten Dingen, überhaupt.

[2011 wohnten Familienmitglieder in: Deutschland, USA, Kolumbien, Schweiz, Israel und Mexiko.]

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Selbstbildnis als Patentante.

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Geert Mak – In Europa

[Tolles Buch, 2011 entdeckt.]

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Carnage – Gott des Gemetzels

[Film]

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Serie mit Potential: Boss mit Kelsey Grammer. Die letzte Folge der ersten Staffel fand ich zwar erstaunlich uninspiriert, aber dafür war die zweitletzte ziemlich wow. Ist das West Wing in The Wire frittiert? Noch kann man es nicht wirklich sagen, ich bin gespannt auf die zweite Staffel.

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Ich habe 2011 zwei sehr gute Bücher über Autismus gelesen: Mark Osteen – One of Us und Karl Taro Greenfeld – Boy Alone. Osteen ist Vater eines schwer autistischen Kindes und Greenfeld hat einen schwer autistischen Bruder. Beide haben es hinbekommen, von ihren Erfahrungen auf eine unkitschige Art zu erzählen, die zwar nichts beschönigt, aber eben auch nicht einfach nur rumjammert oder in Hysterie ausartet.

[Zwei Bücher, die mir ein bisschen Hoffnung für mein eigenes, stagnierendes Autismusbuchprojekt gemacht haben.]

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Greenfelds Buch war mein erstes eBook. Im Sommer 2011 hat es mich erwischt: das Tablet, die Apps, die Wucht einer neuen Welt, wie schön, so ein Anfang. Die üblichen Gewöhnungen und Technikfrustrationen warten schon um die Ecke, ich weiß, aber im Moment bin ich immer noch begeistert.

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2011 war mein erstes Jahr ohne Großeltern.

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Schönstes Kompliment: ein ganzseitiger Brief einer Mitreisenden der Balkantour. An den möchte ich mich erinnern, wenn alles düster aussieht.

[„We would like to thank you so very much for an excellent holiday. Your detail to every little matter has shone like a star. In the past we have always made our own plans, hotel, flights, meals, sightseeing, but being with you has been pleasant, relaxing, and a careful time. Thank you so very much for all of your time – away from your home and family, and for your expertise. I think if we could, we would travel to the far corners of the world with you and feel quite safe, comfortable and secure. You are the very best and hire only the very best guides, drivers, hotels, and everything. It has been a pleasure meeting you and having fun because of you, and with you.“]

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Herkulesakt des Jahres: endlich Erfolg bei Johns Toilettentraining. Mit vielen Waschmaschinenladungen erkauft, ein andauerndes Projekt, aber der erste Durchbruch ist geschafft, und es gab eine Zeit, da hätten wir es nicht für möglich gehalten, die Windeln jemals loszuwerden.

[Außenstehenden wohl kaum vermittelbar, was für ein unglaublicher Erfolg das ist. Stolz darauf, was John alles doch schafft, besonders wenn ich mich etwa an die pessimistischen Prognosen aus den Jahren 2001 und 2002 erinnere. Richtig so, zeig’s ihnen, Buddy.]

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Am meisten bedauert: 2010 war John medikamentenfrei geworden, was uns wahnsinnig gefreut hatte. 2011 saß es nicht mehr drin, zurück zum Pipamperon, immerhin nur auf halber Dosierung.

[Unser Leben im Krebsgang.]

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Pflegestufenbegutachtung: John behält die Pflegestufe III.

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Erste Mail 2012: „Just to let everyone know we are returning to the old procedure of Green tags for ticketed pax and Red for land only.“

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John und ich 2011

the future is a muscle you don’t have.

Als ich dieses gute Video über das richtige Verhalten bei einem epileptischen Anfall sah, musste ich daran denken, wie wir einmal auf einer Demo auf dem Alexanderplatz neben einem erwachsenen Mann standen, der einen epileptischen Anfall bekam, und wie ich mich genauso verhalten habe, wie es in dem Video gezeigt wird, immerhin habe ich es mit John viel zu oft mitgemacht, und wie ich dann aber mit den Menschen um mich herum kämpfen musste, die dem Mann ein Taschentuch in den Mund stopfen wollten, „damit er sich nicht auf die Zunge beißt“,  und ihn absurd festhalten wollten, und wie sie mir zuerst nicht glauben wollten, dass diese Verhaltensweisen falsch sind, und wie ich mich dann doch durchgesetzt habe, und wie unnötig dieser Ärger ist, denn wenn endlich mal die ganzen Vorurteile aus der Welt geräumt würden und Menschen darüber informiert wären, was richtige Verhaltenweisen sind und was falsche, dann könnte man sich in so einer Situation auf die Hilfe konzentrieren anstatt mit ahnungslosen Mitmenschen diskutieren zu müssen, die es vielleicht gut meinen, aber den Betroffenen in richtig große Gefahr zu bringen drohen. (Taschentuch in den Mund stopfen? Ersticken? Hallo?)

Könnte so ein Video bitte mal einen Monat lang jeden Abend direkt vor Heute und der Tagesschau laufen, anstatt dieser Jack Wolfskin-Werbung, zum Beispiel? Diese Melodie dazu, the future is a muscle you don’t have, bekomme ich eh nicht mehr aus dem Kopf.

amanda baggs.

„I remember a boy in a mental institution with me who was there because he’d taken a gun and shot his television and a bunch of other objects. Someone sent him in a bunch of balloons that said ‚Get Well Soon‘ on them. Every last one of us in the dayroom at the time found that bizarre and laughable.“ [#]

die legende der dritten generation.

In „Die Legenden der Väter“ schreibt Kolja Mensing über die Suche nach seinem polnischen Großvater, den er nur aus Erzählungen seines Vaters kennt. Während eines Stipendiumsaufenthalts in Krakau besucht Kolja Mensing die Schwester des Großvaters und beginnt damit, seine Geschichte genauer zu recherchieren. Die Erzählungen über dessen Leben müssen im Zuge der Recherche immer wieder revidiert werden, der Großvater hatte sich seine vom zweiten Weltkrieg geprägte Biographie offensichtlich zu großen Teilen erdichtet, hatte geschönt, weggelassen und in einigen Fällen schlichtweg gelogen. Die Suche gerät unweigerlich zu einer Entzauberung, wenn nicht gar zu einer Demontage. Doch der Autor bricht die Suche nicht ab, er schont weder sich noch seinen Vater vor dem Ergebnis.

Im Laufe der Familienforschung wird Kolja Mensing bewusst, wie auch sein Vater ihm von der Kindheit in der Nachkriegszeit im norddeutschen Fürstenau zunächst ebenfalls sehr selektiv erzählt hatte. Die abenteuerlichen Geschichten des Vaters über Streiche und Stromern, die an Tom Sawyer erinnern, und die er dem kleinen Sohn als Gutenachtgeschichten erzählte, erwähnten die Gewalttätigkeit der alleinerziehenden Mutter nicht, wie auch nicht das ganze, große Geflecht schwieriger Familienbeziehungen in einer Zeit, in der nach dem Krieg viele Menschen auf engem Raum unter einem Dach zu leben gezwungen waren. In den Erzählungen kamen die Schwierigkeiten eines unehelichen Kindes nicht vor, das als Polenkind groß wurde in einer Gesellschaft, die Beziehungen zwischen polnischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen verachtete. Die Tom Sawyer-Geschichten werden erst im Laufe des Aufwachsens angereichert durch diese Dimensionen. Dies ist wohl insofern eine übliche Entwicklung, als die meisten Kinder im Laufe ihres Aufwachsens langsam immer mehr über die Familie erfahren. Dass die Legenden des Vaters mit den Legenden des Großvaters verknüpft sind, macht aber das Besondere auch dieses Erzählstrangs aus.

Für Enkel wird die Beziehung zur Generation der Großeltern wohl meistens teilweise mittelbar über die Eltern geprägt, aber im Falle eines abwesenden Großelternteils ist die Beziehung des Enkels zum Großelternteil jeglicher unmittelbaren und vom Elternteil unabhängigen Dimension beraubt. Der Vater hatte es in den schwierigen Umständen seiner Kindheit vielleicht gebraucht, den eigenen Vater zu idealisieren, der längst zurück nach Polen gegangen war. Ihm war das Phantom nützlich, dem Enkel nicht. Der musste erst hinter die Erzählungen des Vaters gelangen, um zum Großvater vorzustoßen, und dann wiederum hinter die Erzählungen des Großvaters gelangen, um die Familiengeschichte zu verstehen. Eine enorme Aufarbeitungsaufgabe, an der Kolja Mensing fast zehn Jahre gearbeitet hat, und die ein faszinierendes Bild dreier Generationen ergibt. Aus der Aufarbeitung der Legenden der beiden vorigen Generationen entsteht in diesem Buch, fast nebenbei und zuerst fast unbemerkt, die Legende der dritten Generation.

Kolja Mensings Buch ist eine Mischung aus Sachbuch und Fiktion. Der Autor hat all die neuen Informationen, die er in Gesprächen mit Verwandten und aus Archiven in Großbritannien, Polen und Deutschland über Jahre hinweg zusammengepuzzelt hat, nicht einfach nur nüchtern wiedergegeben, das wäre immerhin auch eine Möglichkeit gewesen. Er hat sich dazu entschlossen, die neuen Informationen in eine Erzählung zu gießen, die am Ende ebenso fiktiv und subjektiv ist, wie es die Erzählungen des Vaters und Großvaters waren. Die atmosphärische und erzählerische Tiefe, mit der er die neue Geschichte des Großvaters erschafft, ergibt eine neue Legende. Wie sich der polnische Großvater Jozef und die deutsche Großmutter Marianne in Fürstenau kennenlernen, beschreibt er zum Beispiel mit vielen Details, das Laub knistert unter den Füßen, Jozef kramt in der Jackentasche nach einer Zigarette. Kolja Mensing kann nicht wissen, wie es früher genau war, aber aus den Informationen, die er recherchiert hat, erschafft er ein neues Bild davon, wie es gewesen sein könnte, und in der erzählerischen Dichte, mit der er dies tut, erweist er sich als Sohn seines Vaters und Enkel seines Großvaters. Auch er hat in gewisser Weise ein Denkmal erbaut, ganz besonders in den Passagen des Kennenlernens von Jozef und Marianne bis hin zur Zeugung des Kindes: diese Passagen sind so literarisch erzählt, dass sie zur Legende des eigenen Ursprungs werden. Hier erschafft ein Autor die grundlegende Erzählung: die, woher er kommt, und hier erzählt wiederum ein Vater, so wie seinerzeit sein eigener Vater und noch davor sein Großvater erzählt haben. Die Legenden dreier Väter: am Ende ein Buch von vier Generationen.

Nächste Lesung: diesen Freitag, 28. Oktober ab 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin.
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