the balkan travelogue [10.-24. september].

Wir haben am zehnten Jahrestag von 9/11 in München 134 US-Amerikaner und Kanadier am Flughafen eingesammelt.
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Wir sind in Passau so gerade noch rechtzeitig auf das Schiff gekommen, bevor es ablegte.
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Die Donau: der einzige Fluss Europas, der nach Osten fließt.
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Unser Schiff: 110 Meter lang. Unsere Reiseroute: Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland.
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Ich nenne es Arbeit.
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Ich habe nach der ersten Nacht an Bord morgens um halb sechs auf dem Sonnendeck das erste Mal erlebt, wie das Schiff langsam durch den Fluss in den Sonnenaufgang hineingleitet. Wie schön das ist.
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Wir haben eine Führung durch den Stift Melk gemacht.
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Ich habe eine junge Frau gesehen, die den Blick von Dürnstein auf die Donau malte.
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Ich habe einen unseren Reisenden in Österreich tagträumend in den Weinbergen wiedergefunden.
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Wir sind durch die Wachau gefahren.
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Ich bin durch Wien gelaufen, aber am meisten habe ich in Wien in Telefonzellen gestanden und mit Deutschland telefoniert.
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Wir haben in Bratislava einen Vortrag über den slowakischen Übergang in die Marktwirtschaft gehört, im Vergleich erschien mir die deutsche Treuhand plötzlich vergleichsweise gelungen.
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Nach einem vollen Tag in Budapest hat unser netter Kapitän abends noch eine Extratour „Budapest bei Nacht“ ins Programm genommen.
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Wir haben in Kalocsa in Ungarn das Paprika-Museum besucht und in Solt auf einem Gestüt gesehen, wie ein Reiter stehend ein Gespann von fünf Pferden reitet.
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Ich habe Aprikosenschnaps getrunken.
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In Mohács wurde das ganze Schiff einem absurden, halbherzigen Face-Check unterzogen, danach störten die ungarischen Zollbeamten absichtlich unseren Vortrag „The Politics of Race and Religion in Europe,“ nur weil sie es eben konnten, weil sie die Macht dazu hatten. Ohne ihr Okay würde das Schiff nicht weiterfahren können, also setzten sie sich in die Lounge, ließen sich bewirten und redeten so laut, dass es den Vortrag störte, und als Reisende sie baten, leiser zu sein, wurden sie stattdessen noch lauter. Es ging im Vortrag gerade um Machtmechanismen im Nationalsozialismus, ein Reisender dazu: „You couldn’t escape to notice the irony of the situation.“ Ungarn 2011.
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Wir sind bei bestem Wetter mit der aufgehenden Sonne nach Belgrad eingefahren, und die Stadt hatte schon gewonnen.
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Immer wieder die Sonnenaufgänge. Auf der Donau sollte man immer nach Osten fahren.
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Ich habe im Belgrader „Café Fragezeichen“ einen traditionellen Kaffee getrunken, eines der Überbleibsel der osmanischen Herrschaft.
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Der serbische Historiker, der immer wieder die „gleichwertige Schuld“ aller ex-jugoslawischen Länder betonte und kein Wort über Srebrenica verlor.
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Das Ablegen in Belgrad um elf Uhr abends unter Beats entlang lebhafter Clubs am Flussufer ähnlich magisch wie die Ankunft bei Sonnenaufgang.
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Wie sind durch das Eiserne Tor gefahren.
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Wir haben ein rumänisches Wasserkraftwerk besichtigt.
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Rumänien, tatsächlich ein kleiner Kulturschock, wohl für alle Beteiligten, denn bei unserem Andocken in Drobeta Turnu Severin kam gefühlt das halbe Dorf zum Hafen. Wir waren anscheinend genauso interessant für sie wie umgekehrt.
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Ich habe halbfertige Parkanlagen gesehen, anscheinend EU-Förderprojekte, wie wir hörten, die unfertig abgebrochen würden, sobald das Geld gezahlt wurde. Ich hörte auch, dass die Blumen und Bäume binnen vier Wochen ausgegraben werden und ihren Weg in Privatgärten finden. Ich kann nicht abschätzen, was wahr ist von dem, was ich höre, aber was ich sah: wie trostlos es noch ist.
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Ich habe die Stadtführerin in Turnu Severin gefragt, was aus den Mitarbeitern der Securitate geworden ist, sie wurde bleich und fragte erschrocken: „Do I have to talk to people about that?“ In keinem der Länder erlebte ich einen Umgang so offen, wie ich es aus Deutschland zur Stasi gewohnt bin.
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Wir haben die Festung Baba Wida besichtigt.
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Wir haben im bulgarischen Widin nach acht Nächten auf dem Schiff die Donau verlassen und sind mit dem Bus weitergefahren, zunächst nach Sofia, Mittagessen in Belogradtschik.
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Die Suppe für 137 Personen wurde mit Ankunft des ersten Busses für alle serviert, auch wenn die anderen drei Busse noch gar nicht da waren. Mit vier Reisebussen voller Nordamerikaner durch Rumänien und Bulgarien zu fahren, das ist schon noch „off the beaten track.“
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Sofia war toll, nicht zuletzt das Internet im Sheraton, endlich wieder Internet.
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In Bulgarien heißen die Raststätten „Happy.“
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Ich habe mich mit einem jüdischen Arzt über die deutsche Seele unterhalten. Er hatte mich nach meinem Vortrag in Sofia gefragt: „Do you think Germany’s soul can recover after what happened to it during the 20th century?“ Er verglich Deutschland mit einem Patienten, der dem Tod gerade noch entgangen sei. Wie kann die Seele des Patienten das verarbeiten?
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Do you think Germany’s soul can recover after what happened to it during the 20th century? (Die Frage geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf.)
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Ich habe einen Vortrag über die Geschichte Bulgariens gehört und gemerkt, wie beschämend wenig ich über die Geschichte Bulgariens wusste, eines Landes immerhin, das gar nicht weit weg von Deutschland, und zudem Teil Europas ist.
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An Christoph Ransmayrs Buch aus dem Anfang der Neunziger gedacht, zumindest für mich anscheinend immer noch treffend betitelt: „Im blinden Winkel.“ Nachrichten aus Mitteleuropa.
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Wir sind mit dem Bus von Sofia nach Thessaloniki gefahren, mit Zwischenstopp im Kloster von Rila.
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Das Rila-Kloster wieder so ein Ort, der trotz Regen wunderbar war (erst der zweite Regen der Reise, der erste: Bratislava).
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Ich habe mich darüber gewundert, dass Ikonen aus dem 15. Jahrhundert im Klostermuseum vollster herkömmlicher Halogenbeleuchtung ausgesetzt werden. Keinerlei konservatorische Maßnahmen zu erkennen.
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Ich habe in Thessaloniki drei Demonstrationen gesehen, und abends auf der Straße tanzende Menschen.
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Ich habe in Tavernen gesessen und Mezes gegessen.
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Ich habe in der Altstadt von Thessaloniki einen Mann gesehen, der einen Sarg auf dem Rücken über die Straße trug.
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Ich war beeindruckt vom neuen archäologischen Museum in Pella.
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Ich habe das Philipp-Grab gesehen und im Innern des Großen Tumulus ist mir schwindelig geworden.
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Ich habe von einem Biobauern in Vergina eine Tüte leckerster Nektarinen geschenkt bekommen.
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Beim Farewell Dinner haben wir stehende Ovationen bekommen, was wirklich selten ist (und ziemlich rührend, wenn über 100 Leute aufstehen und begeistert klatschen).
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Der jüdische Arzt schenkte mir zum Abschied das Buch „Einstein’s German World“ von Fritz Stern, mit einer schönen Widmung. (Chapter seven is my talk, apparently. Looking forward to reading it.)
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Ich habe noch nie so viel über Deutschland nachgedacht wie auf dem Balkan.
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Ich habe in zwei Wochen nur ein einziges behindertes Kind gesehen (Fußgängerzone in Belgrad).
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Zuhause hat das Kind in der Zwischenzeit die 1,60 m-Marke geknackt.
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Eine schöne, aber auch sehr arbeitsreiche und anstrengende Reise.
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Fotos [#]

fünf dinge.

Sehr gefallen hat mir die neue Website Fünf Dinge, auf die ich über Okka Rohds Weblog Slomo gestoßen bin. Okka Rohd selbst, Dorothea Sundergeld und Karolina Stasiak haben diese Website ins Leben gerufen. Menschen stellen fünf Dinge vor, die sie mögen, und erzählen dazu die Geschichte, die mit dem jeweiligen Gegenstand verbunden ist. Ich fand die Idee sehr schön, habe sofort die fünf Dinge aller Leute gelesen, die schon auf der Website waren und dann dachte ich mir irgendwann, dass so ein Projekt aber davon lebt, dass da auch Leute mitmachen und nicht immer nur lesen, und darum habe ich Okka eine E-Mail geschrieben und meine fünf Dinge angeboten, die sie dann netterweise tatsächlich mit aufgenommen hat, hier also meine fünf Dinge.

lasst uns frei.

Gestern demonstrierten 7.000 Schülern, Eltern und Lehrern gegen die vom Land Brandenburg geplanten Mittelkürzungen für freie Schulen. Die Abgeordneten wurden zu ihrer ersten Lesung nach der Sommerpause vor dem Landtag in Potsdam mit einem langen Protest-Spalier empfangen, durch das jeder Abgeordnete fahren musste.

Johns Burgdorf-Schule ist eine freie Schule in evangelischer Trägerschaft und gleichzeitig die einzige Schule in ganz Berlin und Brandenburg, die schwerstbetroffene autistische Kinder erfolgreich und gut beschult. Das Land Brandenburg möchte nun an den freien Schulen sparen, obwohl sie im Vergleich mit öffentlichen Schulen schon jetzt nur 65% der Gelder bekommen: Grund- und Oberschulen sollen weitere 20 Prozent ihrer Einnahmen verlieren, Berufsfachschulen für Soziales 28 Prozent, der Aufbaulehrgang Sonderpädagogik sogar 37 Prozent. Von den 167 freien Schulen in Brandenburg sind 11 Förderschulen betroffen.

Bildungsministerin Münch (SPD) und Finanzminister Markov (Die Linke) betonen immer wieder, dass öffentliche Schulen nicht von Kürzungen betroffen sind und suggerieren damit, sie seien eine Alternative. In unserem Fall gibt es gar keine Alternative einer öffentlichen Schule, dazu schweigen SPD und Linke sich aber aus.

Überhaupt besuchen im Moment noch viele Kinder aus einkommensschwachen Familien freie Schulen, wenn erst einmal das Schulgeld erhöht werden muss, werden die freien Schulen nur noch für Eliten eine Alternative sein.

Proteste gegen Bildungssparpläne [#]
Protest gegen Kürzungen bei Freien Schulen [#]
Tausende demonstrieren in Potsdam gegen Kürzungen bei freien Schulen [#]

Die Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen Brandenburg hat eine Website zum Protest: Vorsicht – Frei Gestrichen.

die rhetorik der neurowissenschaft.

Interessantes Interview von Jonah Lehrer mit Davi Johnson Thornton über deren Buch Brain Culture: Neuroscience and Popular Media:

„On the one hand, the brain is ‚the most complicated object in the universe‘ and ‚the final frontier of modern science.‘ And yet, we also routinely describe the brain as the most practical of organs, a machine we can harness and hack for endless self-improvement.“

„In the book, I’m trying to parse out the consequences and effects of these brain languages and images – good, bad, and ambiguous – at the level of culture, politics and economics, and withhold anything like an ultimate judgment.“ [#]

protest, brandenburg edition.

Das Schicksal hat entschieden, dass ich schon viel zu lange nicht mehr in Johns Interesse protestieren musste: wo es ihm gerade endlich richtig gut geht an der Burgdorf-Schule in Fürstenwalde (eine freie Schule in evangelischer Trägerschaft), ist nun in Brandenburg ein Gesetz auf dem Weg, das die Mittel für freie Schulen kürzt. Die erste Lesung ist durch, bald folgt die zweite, noch wird protestiert. Für ein Volksbegehren brauchte es 20.000 Unterschriften, es sind schon 28.000, erstes Ziel also schon erreicht. Am 31. August gibt es als Nächstes eine Demonstration vor dem Landtag in Potsdam, alle weiteren Informationen bei der Facebook-Gruppe Vorsicht frei gestrichen. Dort bitte zur Unterstützung auch gerne „Gefällt mir“ klicken.

bilder des autismus.

Am 18. August spreche ich in Hagen im Rahmenprogramm der Kunstausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ über Repräsentationen des Autismus in Kunst und Kultur. Es geht darum, ob und wie sich die Wahrnehmung des Autismus in der Kunst und Kultur verändert hat und gerade auch weiter verändert, es geht um gesellschaftlich stabilisierend wirkende Repräsentationen wie die verbreiteten Narrationen des Kampfes und des Überkommens, die meistens eher von außen kommen (Angehörige, Therapeuten etc.) und demgegenüber eher neue Narrationen wie die des komplexen Spektrums, das Persönlichkeit prägt, zunehmend von Autisten selbst artikuliert. Das nur kurz, der Text dann vielleicht nach dem Vortrag hier. Wer nächsten Donnerstag in Hagen ist, möge gerne kommen.

blinder fleck.

Als Thomas Pletzinger gestern Abend erzählte, dass das Buch Asterios Polyp, das er übersetzt hat, eigentlich am 4. August erscheinen sollte, aber dass der aus China verschiffte Container mit den 10.000 Exemplaren aufgrund der Insolvenz des Eichborn Verlags irgendwo im Zoll festhänge und das Erscheinungsdatum daher nun unklar sei, an Hermann Gremliza gedacht, der in einem konkret-Artikel schrieb, dass jeder in China verschiffte Container ein Zeichen der ’neuen Weltunordnung‘ (Elend, Armut, Hunger, Krankheit) sei. [Das stand mal hier, aber der Satz mit China ist leider verschwunden, daher nur ungenau aus der Erinnerung zitiert.] Irgendwie habe ich bei Gremlizas Satz nie Bücher in den Containern im Sinn gehabt, doh.

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