happiness.

„Happiness is more like knowledge than like belief. There are lots of things we believe but don’t know. Knowledge is not just up to you, it requires the cooperation of the world beyond you — you might be mistaken. Still, even if you’re mistaken, you believe what you believe. Pleasure is like belief that way. But happiness isn’t just up to you. It also requires the cooperation of the world beyond you. Happiness, like knowledge, and unlike belief and pleasure, is not a state of mind.“ [#]

wir brauchen qualität.

Genauso, wie ich lieber weniger kritisch gegenüber dem Internet wäre, hätte ich auch gerne eine weniger kritische Meinung zur Abschaffung der Sonderschulen, aber immer kommt einem diese blöde Wirklichkeit zwischen die schönen Meinungen. John geht nun seit fast vier Wochen auf eine Privatschule in Fürstenwalde. Die Burgdorf-Schule ist ein Förderzentrum Geistige Entwicklung (a.k.a. Sonderschule für geistig Behinderte), spezialisiert auf Autismus.

Die erste Woche war eine Eingewöhnungswoche, ab der zweiten Woche fuhr John dann schon alleine jeden Tag hin und her mit dem Schulbus. Ihn in einen Schulbus zu bekommen, der eine Begleitperson hat (alles andere ist für alle Beteiligten viel zu gefährlich), erforderte in der ersten Woche noch Gutachten des behandelnden Kinderpsychiaters und des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes KJPD, also einiges an Lauferei und bürokratischem Aufwand, aber ging letztlich auch ohne Sozialgericht vonstatten (meine Messlatte mittlerweile: alles, was ohne Gericht läuft, bekommt die Wertung „gut gelaufen“).

Da ich eine Woche lang viel an der Schule war, habe ich erlebt, wie die Kinder ankommen, wie das Personal mit ihnen umgeht, wie der Unterricht läuft. Was soll ich sagen, es ist ein Traum und Lichtjahre besser als die rückblickend noch furchtbarer scheinenden drei ersten Schuljahre, die in Berlin hinter uns liegen. Der Unterschied ist einfach und klar zu benennen: die Menschen an der Burgdorf-Schule kennen sich alle mit Autismus aus und wissen alle Bescheid, wie man damit umgeht.

John fühlte sich auf Anhieb wohl dort und ist nach nicht einmal vier Wochen schon vollstens eingewöhnt, steigt morgens begeistert in den Bus (wir müssen aus Vorfreude sogar schon immer zehn Minuten vorher nach draußen gehen, während er sich bei der alten Schule jeden Morgen geweigert hat, aus dem Auto zu steigen) und er kommt nachmittags entspannt und gut gelaunt nach Hause. Das Ganze nun auch noch: ganz ohne Schulhelfer. Ja, in Fürstenwalde kann er tatsächlich ohne Schulhelfer beschult werden – das wäre in Berlin undenkbar gewesen.

Aus Johns Sonderschule in Berlin hatte man nach und nach qualifiziertes Personal abgezogen und durch unqualifizierte Betreuer ersetzt, das Ergebnis war eine Katastrophe. Aber so wird das von der Berliner Bildungsverwaltung praktiziert: die Signale stehen auf Integration und Inklusion, und weil kein Geld da ist, werden dazu die Sonderschulen ausgehungert. Zusätzlich traurig nur, dass dann in der Integration noch nicht einmal genug ankommt, aber das ist ein anderes Thema.

Letzte Woche war ich wieder einmal zum Thema Schulhelfer und auch Inklusion beim Landesbeirat für Behinderte und erlebte einen weiteren, mehr als frustrierenden Auftritt der zuständigen Mitarbeiterinnen aus der Senatsbildungsverwaltung. Man verwies wieder darauf, dass man in den letzten Jahren doch so viel Personal an die Sonderschulen geschickt habe und ignorierte die Aussage, dass es uns nicht um die Quantität, sondern um die Qualität geht.

Selbst wenn es fünf Erwachsene gäbe, die sich nur um John kümmern sollten, würde das schiefgehen, wenn sie sich nicht auskennen. Stattdessen braucht er noch nicht einmal mehr 1:1-Betreuung, wenn das Personal gut und der Schulrahmen an die Bedürfnisse von Autisten angepasst ist. Wenn man die Schulen mit 55-jährigen ehemaligen Reinigungskräften bevölkert, die noch nie mit Autismus oder geistig Behinderten oder schwerstmehrfachbehinderten Kindern zu tun hatten und keine pädagogische Bildung haben, dann wird man eben immer mehr Schulhelfer brauchen, die das Kind für Kind kompensieren. Und selbst das funktioniert nicht, das habe ich daran erlebt, wie unglücklich John dennoch war. Ein Schulhelfer kann kein ganzheitliches Konzept ersetzen, er ist immer nur Flickwerk.

Unbegreiflich ist mir, warum die Senatsbildungsverwaltung anscheinend kein Interesse daran hat, die immer wiederkehrenden Probleme wirklich in den Griff zu bekommen. Der Berliner Senat arbeitet an einem Konzept zur Umsetzung der Inklusion nach Maßgabe der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. So oft haben wir vom Elternzentrum Berlin schon unsere Bereitschaft gezeigt, an diesem Konzept mitzuarbeiten (die UN-Konvention sieht die Beteiligung der Betroffenen im Übrigen auch ausdrücklich vor), aber unser Angebot wird immer wieder ausgeschlagen.

Es gibt mittlerweile über 20 autistische Kinder aus Berlin, die jeden Tag circa 60 Kilometer weit nach Fürstenwalde und nachmittags wieder zurückgefahren werden. Warum sieht man sich nicht einmal an, warum diese Kinder dort so gut beschult werden können und etabliert auch in Berlin ein solches Schulmodell? Warum sieht man nicht endlich ein, dass es soziale und pädagogische Berufe nicht ohne Grund gibt? Wann wird man verstehen, dass Integration und Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben sind? Ach, es ist müßig, aber unsere Arbeit des Elternzentrums geht weiter, wir haben keine andere Wahl. Ich bin erstmal froh, dass es meinem Kind endlich wieder gut geht und wir als ganze Familie uns nun vielleicht, hoffentlich auch von den extrem anstrengenden letzten drei Jahren erholen können.

durchlässigkeit versus echokammer [problemkind internet].

Wie das eben so geht, über einen Tweet von Mario Sixtus kam ich auf eine vergleichende Analyse der Debattenkultur bei Zeit Online und Sueddeutsche.de, von dort aus zum Artikel Unbegründet: Norbert Bolz’ Angst vor der gesellschaftlichen Fragmentierung bei Carta und von dort an die Quelle, einen Essay von Norbert Bolz in der Süddeutschen.

An Bolz’ Essay interessiert mich genau der Teil, den sich auch Marcel Weiß bei Carta herausgepickt hat, nämlich die Frage nach einer gesellschaftlichen Fragmentierung. Ich finde die Argumentation von Norbert Bolz nicht überzeugend, glaube aber, dass er trotzdem mehr Recht haben könnte, als mir und vielen anderen Netzaffinen lieb ist. Um von den abstrakten und theoretischen Überlegungen zu ‚Konformität versus Diversität‘ und ‚Gemeinschaft versus Fragmentierung‘ zu einem ganz konkreten Beispiel zu kommen, nehme ich mal mein Minderheitenthema Behinderung. Das Positive liegt auf der Hand: im Internet können Menschen mit Behinderungen auf einfachere Weise denn je zuvor ihre Anliegen kommunizieren und potentiell weltweit Resonanz finden. Foren, Weblogs und Communities verschiedenster Behinderungen und chronischer Erkrankungen sind ein lebhaftes Zeugnis des Informationsaustausches, und auch der Überwindung von Einsamkeit und Isolation.

Allerdings bewegt sich die Interessensgruppe tatsächlich in einem eigenen Raum, der kaum jemals von Menschen betreten wird, die nichts mit Behinderungen zu tun haben. Das Argument der Durchlässigkeit, das sicherlich auf ganz, ganz viele Themen zutrifft (gerade Technik, Musik und Wirtschaft, die Marcel Weiß nennt) greift bei ‚wirklichen‘ Minderheiten leider kaum bis gar nicht. Menschen mit Behinderung sind in der virtuellen Welt mindestens genauso randständig wie in der wirklichen, vielleicht sogar noch mehr. Die von Weiß erwähnte Vermischung von Interessen, Gruppen und Nischen findet eben nicht überall statt. Der Vorteil der Verlinkung – dass Einzelpersonen selbst entscheiden, was sie für verbreitenswert halten – bedingt eben auch typische Ausschlussmechanismen von Minderheiten. Weiß sieht keine Gefahr darin, dass Diskurse nicht mehr auf einer Ebene geführt werden, die zu einem gesellschaftlichen Konsens führt; die Gesellschaft zerfalle nicht davon, dass man die FAZ nicht mehr von vorne bis hinten lese. „Warum ist Fragmentierung überhaupt negativ?“, fragt er.

Die Antwort auf Marcel Weiß‘ Frage liegt tatsächlich nicht beim Journalismus und der FAZ von vorne bis hinten. Die Gatekeeper der traditionellen Medien lassen das Thema Behinderung ähnlich wenig durch wie das Internet, da nehmen sich die beiden Opponenten nichts. Die eigentliche Gefahr liegt bei der Politik und Gesellschaft allgemein: bisher waren Minderheiten wie Menschen mit Behinderungen zwar randständig, aber ihre Interessen wurden vertreten und berücksichtigt, eben durch etablierte gesellschaftliche Mechanismen, die bei Bolz vielleicht unglücklicherweise ‚bürgerlich‘ heißen. Es gibt Verbände und Gremien, wichtige Vertreter der Interessen auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen (Behindertenbeauftragte, Wohlfahrtsverbände, Landesbeiräte für Behinderte, Patientenvertreter in Bundesgremien etc.). Den Gremien und Verbänden aber geht der Nachwuchs aus. Da sitzen meist Männer und Frauen im Rentenalter, die nächste Generation kommt nicht mehr nach, unter anderem auch, weil sie ins Internet abgewandert ist. Im Internet aber werden keine Entscheidungen getroffen und das Internet hat keine Mechanismen, die dafür sorgen würden, dass diese Gruppe von Menschen zumindest prozentual gemäß ihres Vorkommens (2009 waren laut neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts in Deutschland 8,7% der Bevölkerung schwerbehindert) berücksichtigt und inkludiert wird. Die tatsächliche Interessensvertretung wird immer geringer. Es stimmt, was Marcel Weiß schreibt: „Die Verteilung der Diskurse nähert sich den tatsächlichen Interessen der Bürger an.“ Aber genau das ist das Problem: das Thema Behinderung interessiert den Bürger größtenteils überhaupt nicht, und solange man nicht selbst betroffen ist, verdrängt man das Thema am liebsten sowieso.

Während sie früher ein vielleicht abgeschobener, aber immerhin noch durch Institutionen notgedrungen wahrgenommener Randteil der Gesellschaft waren, verschwinden die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen nach der Abwanderung ins Internet endgültig von der Bildfläche einer breiteren Wahrnehmung. Die Angst vor der gesellschaftlichen Fragmentierung ist nicht völlig unbegründet. Das Internet ist am Ende vielleicht leider doch mehr ‚Konformitätspumpe’ als ‚Diversitätsmaschine’, um Ronnie Vuine zu zitieren.

freedom.

„Now that we know that the world is filled with opinionated, neurotic busybodies and compromised idealists just like us, our contempt springs to the surface so easily. We resent recognizing bits of ourselves in so many others, seeing how much more effectively (and photogenically!) these people put their ideals into action, through their daily yoga classes and lucrative yet admirable jobs as environmental lawyers, through the whimsical crafts and organic layer cakes they make with their creative, adorable children, through the two-week vacations they take in Maui or the Wakefield dressers they refinish for junior’s bedroom. Instead of bringing us together, the Internet shows us that we not only aren’t remotely unique, but everyone else out there is pursuing the same lifelong dreams and embracing the same hobbies with far more focus, style and energy than we could ever hope to muster.“ [#]

leitfaden. [und täglich grüßt das murmeltier.]

Lange genug habe ich hier das sexy Thema Schulhelfer vernachlässigt, aber zum Ende des Schuljahres sorgt die Berliner Bildungsverwaltung natürlich wieder für Unterhaltung. Zum neuen Schuljahr wird Schulbegleitung wieder nicht bedarfsgerecht bewilligt, also müssen und sollen immer mehr Eltern den Weg über die Leistungen der Eingliederungshilfe gehen. Was man schon immer alles über Schulbegleitung wissen wollte, findet man nun in einem neuen Leitfaden des „Elternzentrums Berlin“, hier als PDF download: 100629lf_schulassistenz_a4download.

Ab Montag, den 5. Juli 2010 können gedruckte Exemplare (Papier, handliches DIN lang Format, farbig) unter Angabe der Stückzahl und Adresse bei LFassistenz@elternzentrumberlin.de bestellt werden.

Heute Abend ist unsere Vorsitzende in der „Abendschau“ auf rbb zu sehen. Dann also auf ein Neues.

(Für John allerdings nicht „auf ein Neues“, denn ich habe nach drei Jahren genug davon und heute im Schulamt einen „Antrag auf Umschulung nach Brandenburg“ gestellt. John wird nun in Fürstenwalde zur Schule gehen, das Schulamt stellt sich zwar wegen des täglichen Bustransports quer, aber wenn das vor Gericht geklärt werden muss, dann immerhin ein für allemal und nicht jedes Jahr wieder.)

[Wie schlimm Verwaltungen sind. Im Büro des Schulamtes zum Beispiel die Aktenordner: „Sprachtest – Offene Fälle“ und „1. Klasse – Widersprüche“, ich ahne all die Dramen hinter den Ordnern. Muss furchtbar sein, dort zu arbeiten, aber vielleicht hört man die Verzweiflung, die aus den Aktenordnern ruft, irgendwann dann einfach nicht mehr.]

tddl 2010 [der zweite tag].

Bachmannpreis und gleichzeitig WM, das überfordert mich, zudem gestern noch hohe Pflegeintensität des Kindes (besser keine Details). Darum vom zweiten Tag nur ein paar kurze Einschätzungen: Thomas Ballhausens Text hatte viel Ähnlichkeit mit den „Unversöhnten“, ist doch wirklich sinnvoll, wenn man sich auf den Bewerb gut vorbereitet, auch wenn Bart Spinnen meinte, man solle vorher nichts lesen.

Der Ballhausen-Text hat mir nicht besonders gefallen, aber noch viel weniger der darauf folgende von Max Scharnigg. Aleks Scholz hatte einen sehr guten Text, am zweiten Tag der einzige Kandidat für einen Preis. Judith Zanders sehr düsterer Text kann eigentlich gar nicht beurteilt werden, weil es ein Romanauszug ist, den man eigenständig nicht beurteilen kann. Oft ist es etwas ungünstig, wenn Autoren Romanauszüge mitbringen, das funktioniert eben wirklich nur, wenn der Auszug für sich verständlich ist. In diesem Fall war das nicht so, da hat sich Judith Zander keinen Gefallen getan und Hildegard Keller kein gutes Händchen in der Auswahl bewiesen. Der Text ist in Du-Perspektive geschrieben, man weiß nicht, warum bzw. wer der Erzähler ist, außerdem zu viel Präteritum und Konjunktiv, letzteres entsteht aber natürlich durch die umständliche Perspektive. Als letztes las dann Josef Kleindienst eine formal wie inhaltlich schlechte Geschichte.

Nach zwei Tagen und zehn Autoren gibt es meines Erachtens erst drei Preis-Kandidaten: Elmiger, Scholz und Mezger (auch wenn ich an dem Mezgertext nach nochmaligem Lesen so einiges gefunden habe, was lektoriert gehört, aber trotzdem noch gut). Da muss noch was kommen am dritten Tag, sonst hat man nicht genügend Autoren für all die Preise. Aber es kommen ja noch zwei Autoren, die als Favoriten gemunkelt werden: Peter Wawerzinek und Verena Rossbacher.

tddl 2010 [der erste tag].

Klagenfurt, Bachmannpreis 2010, es ist so weit.

Erster Text des Bewerbs: Sabrina Janesch, Katzenberge.

Wir befinden uns in Schlesien. Männer sehen sich blinzelnd um, vom Staub verschmutzte Haare wirken grau, knochige Schultern, dampfende Erde, fremder Geruch von Beton, jemand meldet sich mit leiser Stimme, ein anderer streckt seine Nase in die Luft.

Vom Wiesenschaumkraut übersäte Felder. Konturen von Menschen in der Ferne verschmelzen fast mit dem Hintergrund. Hüte sitzen auf den Köpfen wie hässliche Tierchen, Rufe füllen jeden Winkel der Siedlung und der Felder, bis in den Wald, in die Flur und bis hinauf in den Himmel. Es wird an Toren gerüttelt, sich brüllend und schnaufend den Eingängen der Häuser genähert.

Einer hört sein Blut in den Ohren rauschen, sein Herz schlägt gegen den Brustkasten, er umschließt die Klinke mit seiner Hand, fühlt die Kühle des Metalls. Hinter der Pforte lauert ein Brombeerstrauch. Ein Fenster ist sperrangelweit geöffnet, Schilf wiegt sich, Balken ächzen. Auch nachdem es ihm gelungen ist, das verzogene Holzfenster zu verriegeln, kann er kein Auge zumachen, mit fahrigen Händen streicht er sich über den Kopf.

Unter seinen Füßen quieken die Dielen, als sei er auf ein lebendiges Tier getreten. Dann die Erkenntnis: Herr Dietrich hat sich mit Hut und Krawatte aufgehängt. Mit einem dumpfen Laut fällt die Leiche zu Boden.

Prädikat: der neue Juror Hubert Winkels stellt die ebenso bittere wie treffendste Diagnose: Literatur aus dem Setzkasten.

Streitbare Praxis, an die mich der Text erinnert: auf dem Oktoberfest in Chicago hing im Zelt neben den Flaggen von Niedersachen und anderen Bundesländern auch die Flagge von Schlesien.

Zweiter Text: Volker H. Altwasser, Letzte Fischer.

Dass der Offizier die Seekarte „versonnen“ betrachtet, okay. Zu viele Ausrufezeichen: geschenkt. Ein deplatziertes „rekapitulierte Rösch“, naja. Bin nach Wie ich vom Ausschneiden loskam milde gestimmt. Ein Schiff vor Somalia, Giftmüll der italienischen Mafia, Piraten, Kurznasenseefledermäuse, das ist doch interessant – weniger dagegen aber leider die Zuhause verbliebene Frau Mathilde.

Und dann so Sachen wie: „…und plötzlich erinnerte sich der alte Mann an seinen uralten Traum vom Meer! Das Meer war dabei, ihm seinen Traum zu erfüllen. Es wollte ihn reich machen, damit er seinen Enkel auf eine große und wichtige Schule schicken konnte!“ Ich mag es nicht, wenn ein Erzähler sich den Figuren gegenüber so überheblich zeigt („der einfache Fischer“).

In einem Kommentar auf zeit.de wird alles mögliche in den Text hinein interpretiert: die Kurznasenseefledermaus schaffe als Metapher eine „sphaerische Verbindung aus Unterbewusstem (Meer) und Bewusstem (Luft als Sphaere des Geistigen).“ Psychoanalytische Literaturkritik, wer’s mag. Natürlich ist „die Bindung zu Mathilde (Ursprung) und Freiheit auf dem Meer (Ursprungslosigkeit) ein zentrales Motiv des Textes“, aber meines Erachtens eben nicht gut ausgearbeitet, weil das zweite Moment, die Ursprungslosigkeit, auf hohem Niveau dargestellt wird, das erste Moment Mathilde aber sehr banal daherkommt, bzw. recht unklar bleibt, weil man als Leser die Mathilde gar nicht kennenlernt. Für eine aussagekräftige Gegenüberstellung müsste der Autor beide Elemente mit derselben Tiefe ausarbeiten. Mir erscheint jedenfalls klar, dass das Herz des Autoren viel mehr am Meer hängt als an Mathilde, ersteres Thema ist liebevoll erschrieben und zweiteres eher aus Pflichtgefühl dazwischen gesetzt. Im Videoporträt hat er versprochen, dass von ihm keine Liebesgeschichte zu erwarten sei – hätte er sich doch dran gehalten.

Harte Szenen des Häutens und dann wieder Kitsch, das geht alles nicht zusammen, ein etwas disparater und zwiespältiger Text, kein Preiskandidat, muss ich wohl sagen, verliert sogar nach dem Vortrag beim nochmaligen Abendlesen. Eine potentiell und in Ansätzen schöne Erzählung, aber nicht gut umgesetzt.

Dritter Text: Christopher Kloeble, Ambrosisch.

Ulrich Ditzen erzählte letzte Woche bei einer Lesung, dass sein Vater Hans Fallada immer früh ins Bett ging, gegen 22 Uhr, weil er schon um drei oder vier Uhr morgens wieder aufwachte, die Arbeit ließ ihn nicht los, er kochte sich einen Kaffee und setzte sich an den Schreibtisch, arbeitete den ganzen Tag, bis er am nächsten Abend um zehn wieder vor Erschöpfung einschlief und in den sehr frühen Morgenstunden wieder aufstand. Seine eigene Vorgabe war es, niemals weniger zu schreiben als am Tag davor, ich nehme an, so kann man sich bestens selbst zugrunde richten. Auf die Frage, ob es nicht schwierig gewesen sei, einen solch besessenen Vater gehabt zu haben, sagte Ditzen: „Everyone has their fate.“

Mein Schicksal ist es nun, dass ich bei der Lesemaschine zugesagt habe, etwas zum dritten Text des Bewerbs zu sagen, einem Auszug aus dem Roman „Ein versteckter Mensch“ von Christopher Kloeble. Ein Sohn zieht zu seinem geistig behinderten Vater, der nur noch fünf Monate zu leben hat. Zunächst sind da die verunglückten Dialoge, ich weiss ja nicht, mit welchen geistig behinderten Menschen Kloeble so zu tun hat, aber die, die ich kenne, sprechen nicht so. Dann weint der Vater natürlich Krokodilstränen, wie es sich für einen geistig Behinderten gehört, es können keine einfachen Tränen sein, nein, wie ein Kind weint er Krokodilstränen. Die den Text durchdringende Überheblichkeit ist in der Sprache angelegt, ärgerlich und bevormundend, am Ende müssen wir dann auch noch das Selbstmitleid des Protagonisten ertragen, der mit seinem geistig behinderten Vater hadert. „Albert erwiderte seinen Blick und wünschte sich einmal mehr, er hätte Fred einfach eine Frage stellen und Fred sie ihm einfach beantworten können, ein stinknormales Gespräch, das wünschte er sich, bei dem Fred seine Worte so verstand wie Albert sie meinte.“ Das ist dann ein bisschen wie Jean-Louis Fournier auf Valium.

„Schweigen drang durch die Tür“, heißt es gegen Ende, und ich wünschte mir, Schweigen wäre durch den Text gedrungen. Ich bin sicher, der Autor hat es gut gemeint, aber manchmal ist genau das bekanntlich das Gegenteil von gut.

Bewusstseinserweiterndes Bild: „Im selben Moment gab der Hahn des Nachbarn sein gekrächztes Kikeriki zum Besten.“

Ratlose Frage: Warum war die Jury so gnädig mit dem Text?

Vierter und fünfter Text: Daniel Mezger und Dorothee Elmiger, zwei Kandidaten für einen Preis.

Leider jetzt keine Zeit mehr für eine ausführlichere Stellungnahme zu den beiden Texten des Nachmittags. Daniel Mezger las einen wirklich guten Text, den die Jury allerdings teilweise nicht verstanden hat (Karin Fleischanderl nicht und vor allem Meike Feßmann gar nicht), auch Dorothee Elmiger las einen Text, der mir sehr gut gefallen hat. Am Ende also zwei von fünf Texten gut, da hat man schon schlimmere erste Bewerbstage erlebt.

tddl 2010 [thomas ballhausen: die unversöhnten].

„In jede unserer Erfahrungen, so glaube ich inzwischen, ist etwas zutiefst Unreines, Verstörendes und Falsches eingeschrieben.“

Thomas Ballhausens Asterios gibt mir in den „Unversöhnten“ einen wichtigen Satz für die nächsten Bachmanntage mit auf den Weg, das finde ich in Ordnung. Ansonsten kann ich zu der Erzählung wenig sagen, das ‚Herumtasten in einer nebulösen Welt‘ hat ein bisschen was von akademisch hochgejazztem Paul Auster, im toten Briefkasten werden Aufträge hinterlegt, in der Bibliothek dient ein wahllos-intuitiv gewähltes Buch als Handbuch und Taktgeber der Auftragsbearbeitung, formal ist die Erzählung ziemlich experimentell, viele Doppelpunkte und ca. drei Kapitel pro Seite: 1.1., 1.2., 1.3. etc., ein fragmentarischer und hermetischer Text, distanziert, asketisch, sicher als anspruchsvolle Lektüre zu bezeichnen (Mythologie in ein apokalyptisches Heute versetzt), Autor und Verlag sprechen sogar selbst von „schwieriger Literatur.“

Seit Studiumsende mag ich so elitäre Texte nicht mehr besonders gern, ich sehe aber auf jeden Fall den Vergleichenden Literaturwissenschaftler am Werk und kann ein bisschen wehmütige Sympathie dafür nicht verhehlen, Oliver Kahn würde sagen: „Ich kann nicht sagen, dass es mir nicht gefällt.“ (Ich fände es gut, wenn jemand Oliver Kahn mal sagen könnte, dass er nicht so viel in Doppelverneinungen sprechen sollte, und außerdem muss nicht jeder zweite Satz mit: „Ja, wenn Du…“ beginnen. Wie lange dauert die Weltmeisterschaft noch?) Jedenfalls bin ich einigermaßen versöhnt mit Ballhausens Unversöhnten, rechne einem solchen Text aber wenig Chancen im Bewerb aus, es sei denn, die Jury sieht sich aus irgendeinem Grund gezwungen, ihre Intellektualität unter Beweis zu stellen.

Unklare Praxis: Postalische Verstreuungen
Pro: Zitate von The Smiths, The Decemberists und P.J. Harvey
Contra: Zitat von Billy Corgan und schwarzer Rollkragenpulli

tddl 2010 [volker h. altwasser: wie ich vom ausschneiden loskam].

„Mensch, kriech raus! Deine Mauken will ich nicht auf meinem Bauch.“

Fast möchte man schon auf S. 48 ein abschließendes Radisch-Urteil fällen: ein Text, in dem Mauken vorkommen, kann kein schlechter Text sein. Da der Roman aber auch jenseits der Erwähnung von Mauken sehr schön ist, liest man gerne weiter. „Hinter ihnen war das Dorf Eldena, dessen Klosterruine Caspar David Friedrich gemalt und so die Deutsche Romantik begründet hatte. Natürlich nicht in Greifswald. Ich ahnte, dass man Greifswald verlassen muss, um etwas zu verwirklichen. Muss ich Greifswald verlassen, dachte ich und sah kurz auf die Aktfotos, dann wieder auf die Zweige des Setzlings, die versuchten, die Aussicht auf den Innenhof zu verbessern.“

Das ist alles richtig gut erzählt, lakonisch und doch nah, in den Schilderungen der versoffenen Väter und Stiefväter sehr, sehr beklemmend, immer wieder unter Einbeziehung des überzeugend eingearbeiteten Ausschneidethemas. „Vielleicht musste man manchmal den Hintergrund behalten und die Figur wegwerfen“, heißt es nach einer furchtbaren Konfrontation mit dem Stiefvater. „Die Menschheit hat zwei große Feinde: den Krieg und die Sucht. Das Leben besteht aus beidem, so viel ist sicher. Ein Drittel Krieg, ein Drittel Sucht und ein Drittel von Etwas, von dem ich nichts weiß.“

Man erfährt auch detailliert, wie das Heizen der Reichsbahndirektion funktioniert und komischerweise ist selbst das interessant, ein weiterer Beweis dafür, dass einen alles interessiert, solange es nur gut erzählt ist.

Auf der Fregatte ‚Bremen‘ macht der Protagonist dem Neuankömmling Richard klar, was es heißt, Wehrpflichtiger zu sein: „Wir setzten uns in die Offene Registratur und warteten auf die Unteroffiziere und auf den Wachtmeister. Als Wehrpflichtiger erledigte ich keinen Handschlag selbständig und übernahm keinerlei Verantwortung. ‚Wehrpflichtiger zu sein‘, hatte ich zu Richard gesagt, ‚ist, Urlaub vom Leben zu haben.‘ Er verstand.“

Wegen des Spiels gestern gegen Brasilien muss ich bei Altwassers DDR heute die ganze Zeit an Nordkorea denken. Ein Freund von mir, in der DDR aufgewachsen, ist vor ein paar Jahren mit einer Reisegruppe nach Nordkorea in Urlaub gefahren, um sich anzusehen, wie so etwas heute noch geht. Nach Nordkorea kann man nur mit einer angemeldeten Gruppe reisen und vorher muss man bestimmte Sachen bezahlen, wie zum Beispiel 40 Euro oder so für einen Kranz, der an einem Denkmal für Kim Il-sung niedergelegt wird. In Pjöngjang besichtigte die Gruppe einen Park. In dem Park gingen Familien spazieren, Kinder spielten, wie man sich das von einem Park am Sonntagnachmittag vorstellt. Irgendwann wurde die Reisegruppe zum Bus zurückgebracht, der Reiseleiter sah hektisch auf die Uhr, da bemerkte mein Freund, wie sich die Menschen im Park alle an einer Stelle zusammenzogen und gemeinsam den Park verließen. Er filmte das Ganze heimlich, während er in den Bus stieg. Gespenstische Aufnahmen, es sieht so aus, als wären die Menschen für einen bestimmten Zeitraum beordert worden, der Reisegruppe ‚glückliche Familien im Park‘ vorzuspielen.

Die FAZ macht auf dem Cover von „Wie ich vom Ausschneiden loskam“ ostdeutschen Neorealismus à la „Halbe Treppe“ aus, das geht in Ordnung, ein bisschen erinnert es mich tatsächlich sogar an „Müller haut uns raus“, aber solche Vergleiche sind ja sinnlos. Man muss dazu bei 25 Grad in der Sonne auch gar nicht mehr viel schreiben, da kann man besser einfach genüsslich den Rest zu Ende lesen.

Prädikat: Mein erster Lichtblick der diesjährigen Bachmannvorbereitung. Wenn der Text für den Bewerb nur annähernd so unterhaltsam und gut geschrieben ist wie dieser Roman, wird Volker Harry Altwasser einen der Preise mit nach Hause nehmen, so weit würde ich mich aus dem Fenster lehnen, wenn ich nicht eh schon auf der Terrasse säße. Allerdings habe ich ja auch erst Rossbacher und Schmidt als Vergleichsgrundlage.

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