kommunikation.

Was mir zum time warp noch einfiel: weitgehende Nonverbalität ist natürlich nicht das gleiche wie Sprachlosigkeit. Ein Mantra für Kinder wie John, das ich in einem hilfreichen Artikel einmal gelesen habe, liegt eigentlich auf der Hand, aber ich muss es mir trotzdem immer wieder sagen, wenn eine Situation schwierig ist: Verhalten ist Sprache. Auch der Körper ist nicht nur Vehikel, sondern Sprache. Ein Kind, das nicht spricht, kann sich nur mit seinem Körper ausdrücken.

Dazu kommt eine mögliche sensorisch-motorische Verwirrung zwischen egozentrischem und allozentrischem Raum, wie der Wissenschaftler Shaun Gallagher beobachtet hat. Er hat bemerkt, dass autistische Kinder bei Imitationsversuchen den Körper des Gegenübers benutzen anstatt mit dem eigenen Körper zu imitieren.

Auf diesen Einsatz des Körpers und des Verhaltens als Sprache sollte man also nicht emotional reagieren, sondern analytisch. Gerade in Momenten, in denen man angegriffen wird, kann das schwer sein. Die Therapeutin Kristin Kaifas-Tennyson schreibt: „Die meisten Menschen denken, sie werden ganz einfach in der Lage sein, eine Situation distanziert zu betrachten. Dies ist aber häufig nicht der Fall, denn es ist ganz natürlich, dass man seine Gefühle nicht wie einen Lichtschalter ausschalten kann, besonders, wenn diese Gefühle gerade verletzt wurden.“ Deshalb muss man sich immer wieder sagen: Verhalten ist Sprache. Dann kann man versuchen, das Verhalten zu übersetzen.

Autismus als Übersetzungsaufgabe.

Ganz abgesehen davon hat John einen großen Schritt getan, indem er in der Bildkartenkommunikation fast vollständig von der Fotoebene (also reinen Abbildungen, etwa unseres Autos oder der Badewanne) auf die Symbolebene gekommen ist. Das hat den Vorteil, dass sich dann auch andere als rein gegenständliche Dinge greifen lassen, wie zum Beispiel ein Symbol für das Rausgehen.

Rausgehen

Es hat auch den Vorteil, dass die Symbole viel übergreifender einsetzbar sind: wenn der Schulbus wechselt, müssen wir kein Foto vom neuen Bus mehr machen und laminieren, das Symbol Bus bleibt gleich. Mit anderen Worten ist die Symbolebene eine erheblich abstraktere Leistung, und John kommt damit zurecht. (Was natürlich nichts daran ändert, dass es trotzdem ständig hakt, weil sich so vieles auch anhand von Symbolen statt Fotos nicht kommunizieren lässt. Dazu kommt, dass John selbst noch immer kaum aktiv auf diese Kommunikation zurückgreift, sie mit wenigen Ausnahmen eher passiv annimmt. Da ist der Nutzen begrenzt, weil er verbale Sprache, also die einfachere Variante, auch immer besser versteht. Der Schlüssel würde in der Aufhebung der Einbahnstraße liegen. Solange er selbst, wie gesagt mit einigen Ausnahmen, weder verbale noch symbolhafte Kommunikation als Ausdruck seines Wünschens und Fühlens benutzt, und er im Verhalten als Sprache verharrt, bleibt uns das zu-zu-zu?-Ratespiel erhalten.)

Ganz interessant: Cassirer über die taubstummen Helen Keller und Laura Bridgman: „Der spezifische Charakter der menschlichen Kultur und ihre intellektuellen und sittlichen Werte gehen nicht auf das Material zurück, aus dem sie besteht, sondern auf ihre Form, ihre architektonische Struktur. Und diese Form kann sich in allem möglichen Sinnesmaterial ausdrücken. Die Lautsprache ist der taktilen Sprache deutlich überlegen; aber die technischen Mängel dieser letzteren zerstören nicht ihre grundsätzliche Brauchbarkeit. Die freie Entfaltung von symbolischem Denken wird durch die Verwendung taktiler anstelle von lautlichen Zeichen nicht unterbunden.“

Verkehrserziehung

time warp.

Kreuzberg

Johns innerer Wecker steht in letzter Zeit meistens auf 4:20 Uhr, manchmal auf 2:00 oder 3:00, wenn wir Glück haben auf 5:30 Uhr, aber das weiß man ja nicht vorher, also kann man sich auch nicht drauf freuen und mal länger aufbleiben. Heute hat er nach einer extra-schweren Nacht den Schulbus verpasst, wir mussten ihn später selbst nach Fürstenwalde fahren.

Schlaf in Schüben, jeder Tag ungewiss und jede Nacht sowieso. Wir machen alles mit. Ich bilde mir ein, das sei womöglich das, was John am Dringendsten wissen und spüren muss, wir machen alles mit. Solange er diese Gewissheit hat, hält es ihn einigermaßen in seinem Selbst. Die ganz großen aggressiven Ausbrüche eher dann, wenn er das Gefühl bekommt, es sei eine Grenze erreicht, so bilde ich es mir nach all den Jahren der Beobachtung ein, aber andererseits, was heißt das schon, Beobachtung.

Ich denke immer an dieses Lied von Wir sind Helden: Kannst Du mein Monster halten, hälst Du mich.

Immer noch diese anstrengenden Nächte, als hätten wir ein einjähriges Kind, immer noch dieses Ringen um Verständnis jenseits der Sprache. Verstehst Du mich? Verstehe ich Dich? Zeig mir, was Du willst. Ein Lachen kann ich leicht interpretieren, ein Weinen oft schon viel schwieriger. Warum nur? Es war doch nichts?

Zu heiß? Zu nass? Zu windig? Zu voll? Zu hell? Zu laut? Zu zu zu.
Und dann manchmal, dann passt es und ist genau das, was ihm gefällt.

Landwehrkanal

Immer noch ein Leben, das so oft in den Basisbedürfnissen verharrt, eat, sleep, poop. Gefangen in diesem Zeittunnel, in dem John irgendwie sein Leben lang ein Jahr alt bleibt, in vielerlei Hinsicht, und in anderer wiederum überhaupt nicht. Das einjährige Kind mit Schuhgröße 43 und 70 kg, die erstmal gewickelt werden wollen.

Sagte ich, wir blickten zuversichtlich in die Zukunft, wäre das wahr.
Sagte ich, wir blickten ängstlich in die Zukunft, wäre das auch wahr.

Sagte ich, die letzten elf Jahre seien wie im Flug vergangen, wäre das wahr.
Sagte ich, die letzten elf Jahre seien sehr statisch gewesen, wäre das auch wahr.

Sagte ich, ich hätte es nicht anders gewollt, wäre das wahr.
Sagte ich, ich hätte es mir leichter vorstellen können, wäre das auch wahr.

Sagte ich, ich sei unglaublich dankbar, wäre das wahr.
Sagte ich, ich sei erschöpft, wäre das auch wahr.

Krumme Lanke zugefroren

Schlitten auf der Krummen Lanke

Sagte ich, ich wolle jetzt lieber mal nichts tun und alleine sein, wäre das wahr.
Sagte ich, ich wolle nur mit John und unterwegs sein, wäre das auch wahr.

Am Wochenende die ganze Zeit draußen gewesen, auf dem zugefrorenen Landwehrkanal und auf der Krummen Lanke. Wie sehr sich John gefreut hat, auf seinem geliebten Schlitten gezogen zu werden, er wollte gar nicht runter vom Eis, immer wieder nochmal rauf, und nochmal.

John auf dem Schlitten

 Sagte ich, es würde immer leichter, wäre das wahr.
Sagte ich, es würde immer schwerer, wäre das auch wahr.

dieses posting.

„Manchmal verreise ich nachts und mache Abenteuerurlaub. Manchmal wache ich um 4:00 auf und trinke eine Tasse Kaffee und esse eine Scheibe Brot mit Butter und Salz und sehe eine Folge Frasier.“ [#]

Solche Texte sind es, die uns vor vielen Jahren zu den Weblogs brachten. So schön, wenn es sie manchmal immer noch gibt.

[Ich wachte heute morgen mit dem Wort Gabenleine in meinem Kopf auf, und dem diffusen Nachhall einer inneren Diskussion, ob nicht eher von Garbenleine gesprochen worden war. Beide Wörter kennt Google nicht. Maisgläubigkeit, revisited.]

deligny mashup.

unheilbar
unerträglich
unmöglich
unheilbar
unmöglich
haben sie ihn also genannt
die Gesellschaft jedoch hat alles vorhergesehen
selbst Orte, wo das Nicht-Leben vorgesehen ist

das Symptom ist unübersehbar
und weil nur das Unwandelbare
sein Bedürfnis stillt
wird er sich berauschen
an der Immobilität und der Wiederholung
am Immergleichen

am anderen Pol stehen wir
und in diesem Jungen wird uns
der Schlüssel
zu unserer Existenz gereicht

er ließ uns sehen
dieser Junge
dass sich die Erde vielleicht
verkehrt herum dreht

worauf also
sich verlassen
wenn die Sprache
fehlt

unermüdlich

es ist nicht normal
nicht zu ermüden

wie ein Wilder
ein Wolfsjunge

man musste ausharren
bei Tag
bei Nacht

trotz des Unmöglichen
des Unerträglichen

und wir
um die Wahrheit zu sagen
ziemlich ratlos
aber ausdauernd

Ballett der Finger

Gesten, deren Intensität und Frequenz ab- oder zunimmt, die aber an sich unverändert bleiben

Ballett der Hände

[„… kann die fortwährende Präsenz autistischer Kinder zu einer gewissen Zähigkeit führen – ähnlich wie das Zarte durch Gerben zu Leder wird. Gebärden, die zunächst nur aus Versehen geschehen, wiederholen sich und werden zu Horn. […] Infolge der ständigen Reibung an den Bewegungen der Kinder, die die Strömung sind, in der es treibt, ist das Floß unserer gewohnten Seinsweisen an vielen Stellen verhornt. Doch dieses Verhornen hat für uns auch etwas Schmückendes. […] Ist dieses Horn, sind diese Furchen, die wir bekommen haben, nur Schwielen und Verhärtungen, oder sind sie vielleicht das Instrument, das Harmonien, die so alt sind wie der Mensch, widerhallen lässt? Damit wäre es benannt, unser Forschen und Suchen.“]

Der Autist als Partisan, ob er will oder nicht, denn er entwischt dem Konjugierbaren, den Allüren unserer Institutionen.

psychiatrie und autismus in frankreich.

In den letzten Tagen gab es eine ganze Reihe von Beiträgen zur besonderen Situation von Autismus in der Psychiatrie in Frankreich. Sehr interessant:

A French Film Takes Issue With the Psychoanalytic Approach to Autism [#]
Autism in France: Psychoanalysis, Packing, and Other Travesties: Why it Matters [#]

A Culture of Abuse: Autism Care in France [#]:
„In France, 80% of the children diagnosed with autism spectrum disorders (ASD) do not go to school at all, according to government data.“
„On January 3, 2012, the French government-controlled TV channel France 2 aired a report on a family living near Paris. Their eleven year-old son Ryan had only received 72 hours of schooling in 10 years, until last year!“
„This tragedy of bad care does not end there. Now, it is time to introduce three real human rights issues: extensive discrimination, a “treatment” known as Le Packing (which could also be called “torture”), and exile to Belgium.“

Psychoanalytic treatment for autism: Interviews with French analysts  [#]

Deshalb lese ich wieder Jacques Lin und Fernand Deligny.

the fantastic flying books of mr. morris lessmore. and more.

Also:
~
OH! In voller Länge zu sehen: „The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore.“ Nominiert für den Oscar in der Kategorie Bester animierter Kurzfilm.
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WTF? My Way Killings. Wir leben in einer Welt, in der es My Way Killings gibt, und ich hatte keine Ahnung.
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FTW! Play Full CD. Kathleen Edwards, Voyageur. Wächst mit jedem Hören, bisher.
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BTW. 12 Dozen Places To Educate Yourself Online For Free.
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Fragmentary writing, und überhaupt, wie machen wir aus, ob Ideen gut sind?

why write novels at all?

„Last year, I found myself mildly obsessed with a cache of YouTube clips, featuring the novelists Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen, Zadie Smith, David Foster Wallace and Nathan Englander at a 2006 literary conference in Italy called Le Conversazioni.“ [#]

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