die verratene generation.

die verratene generation

Bei fast allen meinen deutschen Freundinnen, die Kinder bekommen haben, war dies mit einem recht lange andauernden Kürzertreten im Beruf verbunden. Gründe dafür gab es genügend, vor allem für die, die nicht in Berlin leben. Es gab kaum Betreuung für Kinder unter 3 Jahren und später kamen die kurzen Schulzeiten und die vielen Ferienzeiten hinzu. Wie soll man Vollzeit arbeiten, wenn das Kind um spätestens halb zwei wieder Zuhause ist und alle zwei Monate Ferien hat? Jetzt, da die Kinder größer sind, fällt vielen Müttern der Wiedereinstieg schwer. Nur die wenigsten können da anschließen, wo sie aufgehört haben.

Meine amerikanischen Freundinnen haben das Berufsleben nicht so lange und nachhaltig verlassen. Meine eine Kollegin und gute Freundin arbeitete ein Jahr lang Teilzeit, stockte dann wieder auf, blieb im gleichen Job und wurde über die Jahre hinweg immer weiter befördert, neben zwei Kindern. Als ich in den USA lebte, schien es mir viel leichter und akzeptierter zu sein, Beruf und Familie zu vereinbaren. Ich habe in Chicago drei Monate nach Johns Geburt wieder angefangen zu arbeiten. (Allerdings wurde ich dann nach anderthalb Jahren durch Johns schwere Epilepsie aus der Bahn getragen. Das ist dann Schicksal.)

Weder die Erfahrungen in meinem deutschen noch in meinem amerikanischen Umkreis sind Beweise für irgendwas, es sind willkürlich beobachtete Tendenzen. So kam es mir jedenfalls größtenteils vor, auch wenn immer das Gefühl an mir nagte, dass da vielleicht doch grundsätzlich und strukturell etwas schief läuft. Denn warum gibt es in Deutschland so viele Maßnahmen, die das Kinderhaben unterstützen sollen und dennoch funktioniert das für die Frauen gefühlt viel schlechter als in den USA, wo es nicht einmal Kindergeld gibt?

In ihrem Buch „Die verratene Generation“ haben Kristina Vaillant und Christina Bylow sich auf die Suche nach den Strukturen gemacht, die das etwas vage und vor allem eher private Gefühl von Ungerechtigkeit in einen politischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang stellen. Mit konkreten Zahlen und Fakten legen sie Schicht um Schicht frei, dass das, was wir vielleicht für ein persönliches Problem halten, in Wirklichkeit im System angelegt und somit auf eine Weise auch gewollt ist.

Frauen sind widersprüchlichen Anreizen und Logiken ausgesetzt. Betreuungsgeld, Ehegatten-Splitting, Teilzeitangebote oder gar Minijobs suggerieren einerseits Hilfe beim Vereinbaren von Beruf und Familie. Andererseits sorgt nur Berufstätigkeit für eine Rente, von der sich leben lässt. Abgerechnet wird zum Schluss: „Über vierzig Prozent der Frauen, die zwischen 1962 und 1966 in den alten Bundesländern geboren wurden, müssen mit einer gesetzlichen Rente von unter 600 Euro im Monat rechnen. Bei den gleichaltrigen Frauen, die in der DDR geboren wurden, sind es nur 20 Prozent. Sie waren fast immer berufstätig.“ Die Anreize locken uns Frauen am Ende in eine Falle.

Letztens saß in einer Talkshow ein sympathischer junger Journalist der ZEIT, der davon berichtete, dass er und seine Frau eigentlich nicht den klassischen Weg gehen wollten: Er arbeitet und sie bleibt mit den Kindern Zuhause. Dann hätten sie aber gemerkt, dass es zu schwierig sei, zwei Berufstätigkeiten mit den Kindern zu vereinbaren und so hätten sie sich dann doch in das traditionelle Modell gefügt. Das war alles ganz geschmeidig, wie er da so saß und das erzählte. Es täuschte unheimlich gut darüber hinweg, was da eigentlich geschehen war: Er musste nichts aufgeben, seine Frau dagegen schon. Er bedauerte das, immerhin, aber einen alternativen Weg zu suchen, der auch ihr mehr gerecht würde, das hatten sie nicht vermocht. Und so saß da wieder der erfolgreiche Mann in der Öffentlichkeit, die Frau Zuhause bei den Kindern. Das System funktioniert für die Männer nach wie vor richtig gut. Man fragt sich wirklich: Warum sollten sie es ändern wollen?

Dazu kommt, dass nicht alle Frauen automatisch von Armut betroffen sind: „Natürlich trifft die Altersarmut viele Frauen nicht: Lehrerinnen, Richterinnen, Frauen im öffentlichen Dienst und Beamtinnen der mittleren bis hohen Besoldungsstufen. Auch den Frauen, die einen gut verdienenden Mann an ihrer Seite haben, geht es, finanziell betrachtet, besser – solange die Ehe hält.“ Doch auch hier lauert also Gefahr: Solange die Ehe hält. Immer mehr Ehen scheitern und das führt dazu, dass sich die finanzielle Lage der Frauen nach der Scheidung meist deutlich verschlechtert. Wo sich nach der Reform des Unterhaltsrechts 2008 nun eigentlich Männer und Frauen zu gleichen Teilen um die Kinder kümmern sollten und die finanziellen Einbußen teilen, geschieht dies dennoch eher selten. Immer noch kümmern sich meistens die Frauen um die Kinder und schultern die damit einhergehenden finanziellen Einbußen.

„Die Reformen des letzten Jahrzehnts setzten auf Eigenverantwortung auch bei den Frauen, die nicht ausschließlich für sich selbst, sondern sehr viel für andere gesorgt haben. Unter anderer Gesetzgebung haben sie sich auf eine nun für sie höchst ungünstige Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit innerhalb ihrer Ehen und Partnerschaften eingelassen. Aber nicht nur geschiedene Frauen sind mit dem neuen Unterhaltsrecht von 2008 gemeint: Es betrifft alle Frauen, die in dem Konstrukt leben, das der Staat entgegen dem Prinzip der Selbstverantwortung wiederum durch ein antiquiertes Steuersystem fördert: die Zuverdiener-Ehe, das deutsche Standard-Modell. Ist der Hauptverdiener nicht mehr da, bricht dieses System zusammen.“

Nach dem Lesen des Buchs scheint es mir, dass wir vor allem eine Reform des Steuerrechts brauchen: die Abschaffung des Ehegatten-Splittings und die Einführung von Steuerklassen, die sich nach Kinderzahlen richten und die Alleinerziehende nicht mehr fast wie Singles besteuern.

Solange die Rente an die entlohnte Berufstätigkeit gekoppelt ist, erhalten Frauen nur dann eine Rente, von der sie leben können, wenn man die Anreize Betreuungsgeld, Elterngeld und Kindergeld abschafft und dieses Geld stattdessen konsequent in Kinderbetreuungsangebote investiert. Das ist eine Möglichkeit. Möchte man dagegen mehr Zeit für Kinder und Familie erlauben (was die Anreize suggerieren), dann wiederum müsste man das Rentensystem so ändern, dass das unbezahlte Kümmern auch zählt. Entweder oder, lieber Staat. So widersprüchlich, wie es heute durchgeführt wird, schadet es den Frauen erheblich.

„Zu lange wurde geschwiegen über die in Deutschland besonders drastische Lohnungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, zu lange haben wir uns ein katastrophales Betreuungsmängelwesen für unsere Kinder gefallen lassen, zu lange haben sich Frauen in Fehden über das falsche und richtige Muttersein bekämpft. Zu lange haben sie für andere gesorgt und sich dabei selbst aus den Augen verloren. Die Quittung dafür bekommen sie jetzt. Sie kommt in Form des Rentenbescheids ins Haus und konfrontiert uns mit der bitteren Bilanz unseres Lebens – und der Wahrheit über ein Lebenskonzept, das Frauen auch heute noch nahegelegt wird: Die Mehrheit der 40- bis 50-jährigen Frauen arbeitet Teilzeit. Auch siebzig Prozent der Minijobs, jener schändlichsten Erfindung des Arbeitsmarkts, wird von Frauen dieser Altersgruppe erledigt. Sie alle erwarten eine Rente weit unter dem Existenzminimum. Es sind keine Einzelfälle, „Einzelschicksale“, wie es früher hieß, und schon gar nicht haben diese Frauen ihr Leben selbst vermasselt, wie ihnen die Ideologie der „Wahlfreiheit“ suggeriert. Diese Ideologie leugnet die Existenz jedweder Rahmenbedingungen. Sie leugnet den Einfluss von Herkunft und Geschlecht. Sie schiebt dem Einzelnen die Schuld zu, wenn er fällt. Was die Frauen unserer Generation betrifft, ist diese Ideologie besonders fatal: Denn einerseits wurde die Selbstaufgabe der Mutter noch immer selbstverständlich gefordert, andererseits wird gerade das Sorgen für andere am Ende gnadenlos und bis zur Existenzgefährdung hin abgestraft.“

Ich bin dem Buch dankbar, dass es dies so deutlich herausarbeitet. Das Problem ist kein Privates, sondern es ist systemimmanent. Und wir müssen auch endlich über Geld reden, ohne dass dann gleich „die Ökonomisierung der Frau“ heraufbeschworen wird.

büchermärz.

Still war es hier, nachdem ich kurz einen Umweg über die Notaufnahme nahm, zum ersten Mal in meinem Leben eine Vollnarkose und eine OP erlebte und am Ende doch alles wieder gut ist. Jetzt aber kommt der Büchermärz.

Am 13. März werde ich auf der Buchmesse in Leipzig an einem Panel zur Veröffentlichung von Daniela Schreiters Graphic Novel Schattenspringer teilnehmen. Daniela Schreiter ist eine Asperger-Autistin, deren Comic bisher im Internet erschien. Wer auch in Leipzig ist und Lust hat vorbeizukommen: Wir werden auf dem Schwarzen Sofa in Halle 1 ab 13 Uhr ein bisschen über Autismus sprechen.

Am 19. März stellen meine früheren Kolleginnen aus der textetage, Kristina Vaillant und Christina Bylow, ab 19 Uhr im Literaturhaus in der Fasanenstraße in Berlin ihr neues Buch vor: Die verratene Generation. Was wir den Frauen in der Lebensmitte zumuten. Der Eintritt ist frei, um Reservierung wird gebeten.

Am 24. März stellt Katja Petrowskaja ihr Buch Vielleicht Esther im Deutschen Theater Berlin vor, juhu.

der anti-proust.

Wie kein anderer beschreibt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård das Leben als unablässige Bewegung zwischen Annäherung und Zurückweisung

Manchmal bleibt die Frage nicht aus: Müssen wir wirklich alles erfahren, bis zum letzten Teebeutel, der in einen Becher gehängt wird? In insgesamt sechs Bänden mit über 3.600 Seiten Text hat der norwegische Autor Karl Ove Knausgård detailliert sein Leben aufgeschrieben. Nach „Sterben“ und „Lieben“ ist bei Luchterhand nun der dritte Band seines autobiographischen Romanprojekts auf Deutsch erschienen: „Spielen.“ Im ersten Band ging es um den Tod des Vaters, im zweiten um die Liebe zu seiner Frau und die Geburt der drei Kinder, im dritten Teil nun geht es um seine eigene Kindheit.

Wie in den ersten beiden Büchern werden Leser und Leserinnen auch hier wieder mit ausufernden Beschreibungen konfrontiert. Den Gegenständen, der Landschaft, allem unterliegt eine existenzielle Dringlichkeit: „Sinnvoll, sinnlos, sinnvoll, sinnlos, das ist die Welle, die durch unser Leben rollt und seine grundlegende Spannung bildet.“ Manchmal ersteigt unerwartet eine große Szene aus einer vorher eher dahinplätschernden Erzählung, manchmal baut Knausgård Spannung auf, die am Ende mehr oder weniger verpufft, weil dann doch nichts Aufregendes passiert. So gelingt es ihm, die Kindheit einzufangen, in der alles unberechenbar ist. Jederzeit kann sich eine unerwartete Intensität entfalten, oder eben nicht. Das Kind macht keine Prognosen, es erlebt.

Einen großen Anteil an dieser Unberechenbarkeit hat neben der Kindheit an sich allerdings auch der Vater des Jungen. Im ersten Band war die Ungeduld des Vaters schon zu erahnen, im dritten Band verdichtet sich die Erkenntnis über das Ausmaß seines Jähzorns. Der Junge soll dem Vater zum Beispiel beim Holzhacken Gesellschaft leisten. Karl Ove ist gerade eingeschult worden und sie unterhalten sich über die Lehrer. Als der Junge die Holzklötze stapeln soll und dies in den Augen des Vaters falsch macht, beginnt die Stimmung zu kippen. Nach einer Weile friert der Junge und möchte ins Haus gehen, aber der gereizte Vater lässt ihn nicht. Stattdessen ahmt er den Sprachfehler des Jungen nach und Karl Ove sagt, das dürfe er nicht. Dies fasst der Vater als Widerwort auf, packt den Jungen am Ohr und dreht es um. Der Junge ist erschüttert und zieht sich in sein Zimmer zurück. Er möchte nicht mehr mit dem Vater und dem Bruder Fußball sehen, wie sonst am Samstag, doch der Vater kommt in sein Zimmer, schleift ihn ins Wohnzimmer und zwingt ihn, sich mit vor den Fernseher zu setzen. Die Bonbons, die der Vater den Kindern beim Fußballgucken zuwirft, möchte der Junge nicht, daraufhin zwingt ihn der Vater, sie zu essen. Immer wieder begegnen wir einem Mann, der die Kontrolle über sich verloren hat.

Die Erzählung entfaltet einen Sog, der zwingend ist, fast hypnotisierend. Die Offenbarung macht sprachlos, erstaunt, hält in Atem. Die Erlebnisse des Jungen Karl Ove sind voller Verletzungen, vor allem durch den autoritären Vater, selten durch die Mutter, bei ihr sind es eher sporadische Enttäuschungen, wie zum Beispiel wenn sie ihm eine Damenbademütze kauft, die ihn vor seinen Mitschülern lächerlich macht. Zurückweisungen erfährt er aber auch manchmal durch den Bruder, durch Freunde, zum Beispiel wenn zwei an einem Abend nicht an seiner Haustür klingeln, um ihn mitzunehmen, und er sie dann vergeblich sucht, sich anderen Kindern im Fußballspiel zuwendet, in einer Mischung aus Trotz und Gleichgültigkeit, hinter der aber noch immer die Traurigkeit über die beiden Freunde lauert, die ohne ihn loszogen. Ihnen gilt sein letzter suchender Blick auf dem Weg nach Hause.

Der Junge erlebt aber auch viel Begeisterung. Wie er mit seinem besten Freund Geir durch die Gegend streift, wie sie eine großartige Müllhalde entdecken, wie sehr ihn seine ersten Freundinnen faszinieren, das alles steht neben den Verletzungen, die im Übrigen ja nicht nur Karl Ove selbst erfährt, sondern die auch er anderen zufügt, auch das gehört dazu. So entfaltet sich das ganze große Universum der Kindheit. Man möchte jedem, der sechs- bis dreizehnjährige Kinder hat, „Spielen“ empfehlen, so wie man den zweiten Band „Lieben“ jedem empfehlen wollte, der oder die gerade Kinder bekommen hat. Knausgårds große Stärke ist es, zum Kern der manchmal diffusen Gefühle vorzudringen, die mit unseren Erfahrungen verbunden sind.

Knausgård, der Proust verschlungen hat, bezeichnete sich selbst einmal als Anti-Proust. Proust sei elegant, sein eigener Text dagegen roh. Proust sei wunderbar strukturiert, sein eigener Text direkt. Er hatte lange versucht, über seinen Vater zu schreiben, aber es war ihm nie gelungen, bis er die Frage nach der Qualität des Textes ausklammerte: Nicht clever komponieren wollen, einfach aufschreiben. Er habe Angst gehabt, dass es das langweiligste Buch werden könnte, das je geschrieben wurde. Doch es funktioniert. Tatsächlich entsteht durch das direkte Erzählen eine sehr intensive Leseerfahrung. Die Übersetzung von Paul Berf ist dabei ein großer Glücksfall, denn sie nimmt genau dieses organische Erzählen auf. Jedes Komma und jeder Punkt sind genau richtig gesetzt, um den Erzählfluss zu tragen. Hat es einen einmal gepackt, muss man überall mit durch, alles mitfühlen.

Es ist keine Offenbarung, der man zusieht wie einem Autounfall, bei dem man nicht wegsehen kann. Diese Dynamik hier führt uns ohne Schaulust ins zutiefst Menschliche. So kann es erstaunlicherweise geschehen, dass das, was der Junge Karl Ove in Norwegen erlebt, mit der eigenen Erfahrung verschmilzt, obwohl die Erzählung mit fremd klingenden Namen, Dörfern, Produkten und Naturbeschreibungen gefüllt ist. Es ist alles so spezifisch anders, und dennoch findet sich darin vor allem das Gemeinsame. Es kann nicht verwundern, dass die Bücher in Skandinavien für so viel Furore gesorgt haben, aber es verwundert ebensowenig, dass sie mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt wurden. Der Graben, den das Fremde erzeugt, ist am Ende erstaunlich klein.

Knausgård geht der Unerschöpflichkeit des Lebens auf die Spur, die neben der Banalität des Alltäglichen besteht, oder ihr unterliegt, in ihr wohnt. Das Immergleiche, die Routinen des Alltags mögen langweilen oder schwer zu ertragen sein, aber der Ausbruch aus ihnen ist keine Lösung. Er würde bedeuten, auch alles Wichtige und Schöne zurückzulassen. All die großen Fragen, die großen Ereignisse – die Beziehung zu den Eltern, die Liebe zu seiner Frau, selbst Vater zu sein – all das findet statt im täglichen Kleinklein. Knausgård dreht jeden Stein um und schreibt die Oberfläche damit fast manisch weg, um die Frage zu beantworten: Wo sind wir in diesem Leben?

Seine Erzählung ist schonungslos, aber sie ist nicht gnadenlos. Der Sog des Lesens ist trotz aller beschriebenen Zurückweisungen kein negativer, denn immer ahnt man die Liebe darunter. Nur weil sie da ist, in allem und zu allen, kann es die Verletzungen in ihrer Intensität schließlich überhaupt geben. Man möchte das beschriebene Universum nicht verlassen, ganz so wie man das eigene Leben (im Idealfall) nicht verlassen möchte, trotz aller Einwände, die dagegen auszusprechen wären. Wir wussten es schon, aber wissen es mit jedem Knausgård-Band immer noch genauer: Ohne Sorgen ist die Liebe eben nicht zu haben. In all ihrer Radikalität und Banalität sind dies Bücher, die unsentimental Hoffnung spenden: Die Ernüchterung mag im Laufe des Lebens wachsen, aber die Liebe darunter vielleicht doch nicht zerbrechen.

In diesen Büchern verschwindet man, in aus der Zeit geworfenen Stunden. Wenn es doch nur gleich weiterginge, aber wie jedes Mal heißt es jetzt auch wieder: leidvoll warten, bis Paul Berf den nächsten Band übersetzt hat.

tddl 2013 [der dritte tag].

Der dritte Tage war sehr gemischt, denn mit Hannah Dübgen gab es als Auftakt einen für mich sehr ärgerlichen, reaktionären, vor Klischees triefenden Text über ein behindertes Kind. Ich hoffe inständig, dass die Jury diesen Text nicht mit einem der Preise versehen wird. Das wären schlechte Nachrichten für die Disability Community. Leider taten sich in der anschließenden Diskussion auch bei der Jury schmerzhafte Lücken in Wissen und Wahrnehmung auf.

Es folgte ein sehr guter Text von Roman Ehrlich und darauf ein ziemlich guter von Benjamin Maack, auch wenn Letzterer mich dann doch nicht so sehr berührte. Zum Abschluss ging es mit Nikola Anne Mehlhorns Text noch einmal tief runter.

Wie jeden Bachmannsamstag habe ich mir die Texte noch einmal angesehen und komme zum folgenden Schluss für meine persönliche Bewertung:

1. Katja Petrowskaja
2. Joachim Meyerhoff
3. Roman Ehrlich
4. Benjamin Maack oder Verena Güntner (deren Text mir beim nochmaligen Lesen dann doch besser gefallen hat als Nadine Kegeles)

[Nach der Diskussion zu urteilen wird die Jury möglicherweise Heinz Helle mit einem Preis bedenken und Benjamin Maack höher belohnen.]

tddl 2013 [der zweite tag].

Was für ein Knaller: am zweiten Tag las Katja Petrowskaja einen Text, den ich schon jetzt als Gewinnertext deklarieren möchte. Juhu.
Meine Reihenfolge nach dem zweiten Tag:

1. Katja Petrowskaja
2. Joachim Meyerhoff

Die Jury mochte ansonsten noch die Texte von Heinz Helle und Verena Güntner, während ich Nadine Kegele und Philipp Schönthaler besser fand.

Abgeschlagen: Larissa Boehning, Anousch Müller, Zé do Rock, Cordula Simon

tddl 2013 [der erste tag].

Ich hatte noch Philipp Schönthalers Nach oben ist das Leben offen und Cordula Simons Der potemkinsche Hund gelesen, aber bin nicht mehr dazu gekommen, etwas dazu aufzuschreiben. Nun sind wir schon mitten im Bewerb. Meine Reihenfolge nach dem ersten Tag:

1. Joachim Meyerhoff (quelle surprise)
2. Verena Güntner
3. Nadine Kegele
4. Larissa Boehning & Anousch Müller

tddl 2013 [die videoporträts].

Larissa Boehning

Alltag. „Fahrräder aus Hof rollen, pünktlich in der Kita sein, Greta macht einen Ausflug, Geschenk für Jette kaufen, Paco früher abholen“, Uhlandstraße, Bleibtreustraße usw.
Suchen und Finden. (Bildsprache: Stoffe aussuchen.)
Alleinsein. („Plötzlich guck ich mal hoch vom Computer, und da steht’n Reh.“)
Schreiben. (Bildsprache: Nähen der Stoffe.)
Kritik. Mutter: „Magst mal kucken?“ – Tochter: „Ja.“ – Larissa Boehning hängt den genähten Stoff auf. – Tochter fragt: „Was hast Du denn da gemacht, Mama?“ Mutter lächelt.

Hannah Dübgen

Schwarzes Bild, Türöffnungsgeräusche, dann Schritte, verschwommenes Bild, Rücken einer blonden Frau. „Wie bewegt sich jemand durch die Stadt, der nicht sieht?“ Diverse Mutmaßungen. Die Autorin interessiert sich für ungewohnte Zugänge zum Gewohnten.
Sie blickt von oben auf den Alexanderplatz und spricht über wirkende Kräfte beim Schlangestehen.
Ungewöhnliche Perspektiven sind „Spitzer der Aufmerksamkeit, mehr noch: sie sind ein Filter, der Neues zum Vorschein bringt.“
Sie versucht in ihren Geschichten, von Menschen und Schicksalen zu erzählen, die ihr fremd sind.
Bewegung hin zum Anderen „ist auch eine Bewegung hin zum Schreiben, in das Schreiben hinein.“ (Bildsprache: Wegfahrender U-Bahn-Zug.)

Roman Ehrlich

„Ich glaube, wenn ich eine Sekte oder eine freikirchliche Gemeinde wäre, dann wäre ich bestimmt eine von denen, die schon ganz oft das Ende der Welt auf einen bestimmten Termin festgesetzt haben, den sie dann doch wieder verschieben mussten, weil ich mir einfach nie vorstellen konnte, dass die Verhältnisse, in denen ich lebe, einfach so weiter bestehen, und das verblüfft mich auch immer wieder. Ich glaube, dass unser Leben, und wonach wir es ausrichten, und was wir uns davon erhoffen, in ganz großem Maß, also hauptsächlich eigentlich, von Erzählungen abhängt, und dass es ganz wichtig ist, dass man dabei eine aktive Rolle einnimmt. Also auf der einen Seite gibt’s da diese großen Erzählungen, die so abstrakte Begriffe betreffen wie Freiheit und Erfolg und Selbstverwirklichung und Zugehörigkeit, und die sind dann meistens auch verknüpft mit dem Umzug in eine größere Stadt, oder der Anschaffung eines Autos, oder Fernsehgerätes, oder dem Rauchen, und das Komische dabei ist, dass diese Erzählungen eigentlich schon so wie vorgefertigt für einen bereit liegen und sich kaum dadurch verändern, dass ganz viele Leute sie in sich aufnehmen und weitergeben. Vielleicht weil man sich nicht so oft Gedanken macht über die Prozesse, die dem zugrunde liegen, also dass man sich selten die Frage stellt: welche Prozesse laufen da ab, damit am Ende so ein sehr klares Bild entstehen kann? Auf der anderen Seite gibt es diese Erzählungen, die sich Menschen untereinander erzählen, um ihre Wirklichkeit zu begreifen, und die diese Wirklichkeit dadurch immer auch ein Stück weit verändern, also dadurch, wie sie Dinge wahrnehmen oder erfahren, oder woran sie sich erinnern, oder wie sie das einorten und bewerten, woran sich andere Leute für sie erinnert haben, und das wäre dann sowas wie eine kontinuierliche, kleine Revolution der Zustände.“

Verena Güntner

Badeanstalt, Vogelgezwitscher, WC, Snackpoint, tropfender Badeanzug, Rutsche, Wasser, Sprungturm. Frau springt (Autorin?). Pusteblume, Schwimmbecken, Wassergeräusch.

Heinz Helle

Der Autor fährt Zug.
Er sagt, er sei ein etwas langsamer Mensch und deshalb fühle er sich wohl in der Schweiz. „Langsamkeit ist etwas Gutes. Wenn man sich beeilt, übersieht man zu viel.“ (Bildsprache: Betrachtung einer Ente)
Spagat Philosophiestudium und Werbetexten, aber: beide Bereiche versuchen, mit Sprache Probleme zu lösen.
Gang durch einen Supermarkt und durch die Stadt. Freude am Normalen; an dem, was man hat. („Was bedeutet Glück und was hat das mit Normalität zu tun?“)
Aufnahme mit Frau und Baby an einem Brunnen. („Seine Familie gibt ihm die nötige Entspanntheit zum Schreiben.“)
Aufnahme in der Wohnung. In einer Ecke liegt ein Karton herum, im Zimmer gibt es Ikea-Kellerregale.
[Hinweis für die automatische Literaturkritik: Karl-Gustav-Ruch-Pluspunkt Uncoole Einrichtungsgegenstände.]
Zum Ende erklärt eine Frauenstimme: „Weil wir noch ein Schlussbild brauchen und Heinz Helle nicht gut Nein sagen kann, fährt er für uns noch ein bisschen auf seinem Skateboard.“

Nadine Kegele

Lustige Zettel-Animation: die Autorin mag Karaoke, Frühling, Herbst, Aperol Spritz und Milchbärte. Sie mag kein Lakritz, keine Messer (Kill Bill) und auch nicht ihre Oberarme. Sie mag Katzen und Kinder. „Drei Minuten Eigenwerbung sind peinlich, aber scheiß drauf.“
[Gelungener Spaß.]

Benjamin Maack

Spielplatz. Der Autor setzt sich mit einem Rieseneis auf eine Bank. Ironisches Quatschvideo: Parodie auf Casting-Shows. Am Ende bleibt vor allem hängen, dass der Autor die Menschen nicht berühren will.
[Kein gelungener Spaß]

Nikola Anne Mehlhorn

„Arbeiten im musikalischen Bereich, damit ich literarisch frei bin.“ Tusch in Moll: „In Deutschland herrscht eine groteske Ungleichbehandlung der Künste.“ 24 Musik- bzw. 28 Kunsthochschulen gegenüber zwei Literaturinstituten: „Klarer Appell für eine Anti-Arme-Poetenkampagne.“
„Gestorben und wieder auferstanden von den literarisch Toten, nach einer intensiven Familienphase.“
Zeigt „geniale Schreibblockadendesinfektionsstraße.“
Ein Text kann logisch, strukturiert, gut recherchiert und überarbeitet sein und dennoch nicht leben; oder umgekehrt kann ein schlecht konstruierter Text vor Leben strotzen.
Pusteblumen-Fokusspielerei, dann Schriftstellerporträts im Gras.
„Literarische Fixsterne“ / „Weitere Sterne am Literaturhimmel“ („Günther Grass, eingeschränkt“).
[Jede Menge Minuspunkte für Nennung von Autorennamen und Doppelminuspunkt Ingeborg Bachmann].

Joachim Meyerhoff

30 verschiedene Mäusebussarde = 30 verschiedene Arten, etwas auszudrücken.
Der Autor mag Orte, die ganz klar abgegrenzt sind (Psychiatrie, Museum, Theater).
Er hatte ein Gefühl der Biographielosigkeit, dem er begegnen wollte. Sein großes Anliegen ist, sich möglichst genau an viele Dinge zu erinnern. [Knausgård, dachte ich schon beim Lesen von Alle Toten fliegen hoch.]
Lustiger Satz: „Ich kann mich schon im Stehen ärgern.“

Anousch Müller

„Mich gibt’s eigentlich bislang nur im Netz.“
Die Bloggerin und Twitterin geht durch die Natur, inklusive wehende Haare [Minuspunkt Haare im Wind].
„Inzwischen wird eigentlich jede Lebenssituation mit einem Tweet kommentiert, ob ich im Kreißsaal bin oder auf dem Standesamt.“
Der Tweet als kleine biographische Notiz, als Bekenntnis, als Erkenntnis: „Diese kleine Form hat etwas unglaublich Bezwingendes.“
Geburt des Sohnes unterbrach ihr Schreiben kurz, aber mittlerweile glaubt sie, dass das Schreiben eine recht familienfreundliche Tätigkeit sei.
Endeinstellung: Schwenk auf wolkenverhangenen Himmel.

Katja Petrowskaja

Autorin sagt lachend, dass sie „die Welt retten möchte, mindestens.“ [Pluspunkt Größenwahn.]
 „Das Schreiben entwickelt sich aus der Unfähigkeit, etwas zu akzeptieren; aus einer Art Lebensschwäche. Schreiben ist ein sehr schönes Bedürfnis, manchmal aber auch ein peinliches. Vielleicht ist es wie der Stoffwechsel.“
Spiegelung in Spielplatzmöbel, Schärfe-Unschärfe-Spielereien der Redaktionscrew. Autorin widersetzt sich am Ende dieser Art des Porträts, denn aus dem Off will ihr eine Stimme andienen zu sagen: „Ich bin…“ und sie antwortet: „Wieso soll ich sagen, wer ich bin? Das ist überhaupt nicht interessant.“

Zé do Rock

Die Hälfte des Porträts ist seine Bühnenshow. So kommt man natürlich auch einigermaßen elegant um diese leidige Angelegenheit herum. Badezimmeraufnahmen am Ende: moderne Armaturen, blaue Accessoires, Handtuchheizung.

Philipp Schönthaler

Ein Einkaufszentrum wird vorgestellt; der Autor liest vermutlich eine Geschichte über eine Shopping Mall: auch eine elegante Lösung, diese Angelegenheit des Videoporträts zu lösen, nah am Thema des Texts, als Ergänzung des Texts. In diesem Sinne auch schön doppeldeutiger Schluss: „Unser Garantieversprechen: kein Imageverlust, für niemand.“

Cordula Simon

Odessa, wieder Spiegel-Spielerei der Redaktion. Große Milchkaffeetasse.
„Leichter als in Graz lebt es sich in Odessa nicht, günstiger aber in jedem Fall.“
Strom- und Wasserausfall als Übung für die Apokalypse.
Einkaufszentrum als „erreichbares Europa.“
Schein trügt, Fassaden verbergen: Motor des Schreibens.
Wünsche oder Erwartungen an die Leser? „Es wäre schön, wenn sie’s danach nicht wegwerfen oder auf Ebay verscherbeln.“

tddl 2013 [larissa boehning & benjamin maack].

Zuerst las ich von Larissa Boehning Das Glück der Zikaden, aber es packte mich nicht und ich brach es ab, denn ich hatte von ihr auch noch Lichte Stoffe. Das gefiel mir anfangs auch nicht so sehr (die Eingangsszene im Flugzeug), aber dann wurde es besser und am Ende fand ich Lichte Stoffe doch gut. Könnte für einen der Preise gut sein, wenn auch eher nicht den ersten.

Benjamin Maacks Buch Monster war mir stilistisch manchmal zu viel (Wiederholungen – Konjunktionen als Satzanfänge – sich wiederholende Konjunktionen als Satzanfänge) und ich brauche auch nicht sowas wie die Mystifizierung einer Eule, aber alles in allem konnte ich es auch ganz gut lesen, allerdings für mich eher kein Kandidat für einen der Preise.

Ich habe den Eindruck, dass es ein sehr solider Bewerb werden könnte, jedenfalls habe ich bisher in meiner Vorbereitung noch keine Ausreißer nach unten ausgemacht, aber andererseits weiß man ja nie, was die Autoren und Autorinnen im Bewerb so lesen. Die Spannung steigt. Großer Favorit ist für mich immer noch Joachim Meyerhoff, und ich erhoffe auch Preise für Anousch Müller und Katja Petrowskaja. Das ist mein bisheriges Spitzenteam. Als Nächstes lese ich Philipp Schönthalers Nach oben ist das Leben offen.

tddl 2013 [autoren & veröffentlichungen].

Wenn ich mir die Autoren und ihre kommenden Veröffentlichungen ansehe, kann ich mich des Marketing-Eindrucks des Bewerbs nicht erwehren.

Von Hannah Dübgen erscheint im August 2013: „Strom.“
Von Roman Ehrlich erscheint im August 2013: „Das kalte Jahr.“
Von Heinz Helle erscheint im Frühjahr 2014: „Brixen.“
Von Anousch Müller erscheint im August 2013: „Brandstatt.“
Von Katja Petrowskaja erscheint im März 2014: „Vielleicht Esther.“
Von Philipp Schönthaler erscheint im Juli 2013: „Das Schiff, das singend zieht auf seiner Bahn.“

Ich finde es sehr verständlich, dass die Verlage Autoren in den Bewerb zu bringen versuchen, von denen bald neue Bücher erscheinen. Ein Preisgewinn-Sticker auf dem Cover lässt die Verkaufzahlen sicher in die Höhe schnellen. Ich wünschte mir nur, dass die Juroren sich etwas unabhängiger davon machten, denn ihr Interesse ist doch (hoffentlich) ein anderes als das der Verlage. Mir scheint, Burkhard Spinnen setzt sich noch am meisten von der Kommerzialisierung ab.

~

Jedes Jahr ist es wieder ein Problem, dass im Bewerb so viele Romanauszüge gelesen werden. Jedes Jahr stoßen die Juroren an Grenzen in der Beurteilung von Texten, weil sie Fragmente nicht außerhalb ihres Zusammenhangs einschätzen können. So viele Diskussionen und Spekulationen hat es damit verbunden schon gegeben. Uns wird vielleicht in diesem Jahr nichts anderes erwarten. Nur in einem Fall der oben genannten sehe ich diese Gefahr nicht dräuen, denn Heinz Helle hat Teile seines Romans „Brixen“ bereits veröffentlicht und hat mit dem Romanprojekt auch am Alfred-Döblin-Preis teilgenommen – zwei Ausschlusskriterien der Teilnahme-Statuten, er wird also einen anderen Text lesen. Bei den anderen weiß man es noch nicht, aber ich erwarte nun wieder viele Romanauszüge.

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Von Larissa Boehning möglicherweise auch, denn sie las in letzter Zeit in einer Rechtsanwaltskanzlei, sowie auch in Wewelsfleth aus ihrem in Arbeit befindlichen, aber noch unveröffentlichten Roman „Zucker.“ Die Geschichte wird so beschrieben: „Juliane verliebt sich in Mattis. Der entzieht sich ihr und erschleicht erst das Vertrauen, die Liebe und dann das Vermögen von Annemarie, die vom Alter her seine Mutter sein könnte.“ Huch, klingt wie eine Telenovela.

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Nikola Anne Mehlhorn liest laut ihrer Website einen Text mit dem Titel „Requiem der Vierzigjährigen.“ Das macht mir ein bisschen Angst, weil es so nach Mittvierzigerblues einer wohlsituierten Akademikerfrau klingt, die spät Mutter wurde und irgendwelche Sorgen daraus konstruiert. In der Zwischenzeit fand ich aber eine Hördatei von „Salzflut,“ die mir besser gefiel als der Staccato-Text der kurzen Sätze. Es klingt vorgelesen für mich sehr anders. (Frage mich, warum sie es nicht so schreibt, wie sie es liest.)

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Schönes Weblog von Anousch Müller, habe ich gleich abonniert. [#]

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