sechswochenamt.

Das Sechswochenamt markiert in der katholischen Kirche das Ende der ersten Trauerphase. Wir haben vorgestern zwar kein Sechswochenamt für John gefeiert, aber ich musste daran denken, was es bedeutet.

Zuerst haben wir John noch überall wahrgenommen. In den ersten Tagen nach seinem Tod war dies besonders stark. Zwei Tage lang hatte ich sogar das Gefühl, dass seine Seele wirklich noch bei uns ist.

Weil John unser Lebensmittelpunkt war, gab es im akuten Vermissen keine Pause. Überall leere Stellen. Jeden Wochentag gegen vier hatten wir zum Beispiel das Gefühl, nach Hause zu müssen, weil John um kurz vor fünf aus der Schule kommt. Als wir abends Scotts Familie aus den USA trafen, hatten wir nachher im Auto das Gefühl, schnell nach Hause zu müssen, um den Babysitter abzulösen. In der Küche meinte ich immer, dass John jeden Moment reinkommt und mir auf den Füßen steht, weil er endlich essen möchte. Um dann immer jeweils zu denken: „Nein, nicht mehr.“

So ging das den ganzen Tag, in so vielen Kleinigkeiten, schließlich hatten wir uns vollkommen auf John eingestellt. Nach sechs Wochen denke ich zwar immer noch die ganze Zeit an John, aber ich glaube, ich habe mittlerweile doch tiefer verstanden, dass er nicht mehr da ist. Von Tag zu Tag wurde es mir bewusster (dieser Verständnisprozess durchläuft erstaunlich viele Ebenen).

Ein solch tieferes Verstehen wird vielleicht durch das Sechswochenamt symbolisiert. Es lindert allerdings die Traurigkeit nicht, fast im Gegenteil, weil es ein Erkennen bedeutet, welches auf dem Weg zum Anerkennen liegt und daher eng mit dem Loslassen verknüpft ist, welches wiederum so schmerzhaft ist.

Neben der Trauer der Seele ist dies auch eine körperliche Erfahrung. Einerseits ist da der Aspekt der Pflege. Wir haben John bis zum Schluss die Haare gewaschen, die Zähne geputzt, ihn angezogen, gewickelt etc. Außerdem war John, weil er keine Sprache hatte, umso mehr ein besonders körperlicher Mensch. Seine ganze Kommunikation ging über den Körper. Und weil John zum Schluss schon 1,94 m groß war, hatte das natürlich auch eine enorme Kraft in sich.

Weil er nicht verkehrssicher war, haben wir John draußen immer an der Hand gehalten. Beim Gehen hat er sich gerne an meine Schulter gehängt. John hat noch immer gerne auf meinem Schoß gesessen. Jetzt ist er nicht mehr da und wir gehen im Wortsinn unbeschwert durch den Tag. Keiner hängt an meinem Arm, keiner steht auf meinen Füßen, keiner muss gewaschen, angezogen und gewickelt werden. Diese Diskrepanz ist auch schwierig: Im Wortsinn unbeschwert, die Tage stehen offen, keine Verantwortung mehr, aber dennoch nie wieder unbeschwert, weil John für immer fehlt, seine Persönlichkeit, seine ungestüme Energie, sein Humor, seine unverwechselbare Sicht auf die Welt.

Ich weiß nicht, ob es etwas damit zu tun hat, dass John sich so sehr über den Körper mitgeteilt und ausgedrückt hat, aber zu seinem Grab zu fahren kann uns im Moment am ehesten etwas beruhigen. Ich weiß, dass Johns Körper nur noch eine Hülle war. Als wir seinen Leichnam angezogen haben, spürten wir das auch ganz deutlich, das Anziehen ist ja etwas ganz anderes ohne jegliche Körperspannung. Dennoch fühle ich eine Verbundenheit zu diesem Ort, an dem John begraben liegt. Mit dem Fahrrad sind wir in einer Viertelstunde dort und wir besuchen ihn im Moment noch jeden Tag zwei Mal. Bei schönem Wetter sitzen wir dort auch gerne länger auf der Bank.

Am Eingang zum Friedhof blüht gerade ein großer Magnolienbaum. Ich glaube, den hätte John gemocht. Und ich denke, was unter anderem auch bleibt: John ist jetzt in allen schönen Dingen, die ich sehe.

Magnolienbaum am Friedhof

Magnolienbaum am Friedhof

unser abschied von john.

John Frederick Knight | 7. September 2000 – 5. März 2016

Karte und Kerze

Trauerkarte

Freitag bis Sonntag

Heute ist es drei Wochen her, dass John im Schlaf gestorben ist. Die Ärzte denken, dass er wahrscheinlich einen Krampfanfall hatte, der zu einem Herzversagen geführt hat. SUDEP, das steht für sudden unexpected death from epilepsy. Plötzlich und unerwartet.

Ich war nicht Zuhause, ich war gerade für den Bundestag in Erfurt. Als Scott mich anrief, setzte ich mich sofort in ein Taxi nach Berlin, kam aber nicht mehr rechtzeitig an, um John noch sehen zu können. Ein Polizist sagte mir am Telefon, sie dürften Johns Leichnam nicht alleine lassen und würden dann solange in unserer Wohnung warten müssen, bis ich ankomme. Ich war laut Navigationsgerät eine Stunde und 15 Minuten entfernt. Der Polizist sagte, er könne eine solche Wartezeit nicht rechtfertigen.

Johns Leichnam wurde beschlagnahmt und abtransportiert. Normale Routine, wie man uns sagte, wenn jemand Zuhause stirbt. In der Zwischenzeit hatte die Polizei zum Glück die Seelsorge angerufen und es waren zwei Seelsorger gekommen, die solange bei Scott blieben, bis ich ankam. Zwei sehr nette Menschen, die uns auch erste Tipps für das gaben, was nun kommen würde. Sehr wertvoll zum Beispiel war der Hinweis auf ein Netzwerk für Abschiedskultur, PortaDora.

Die Polizei hatte uns die Nummer des Bestattungsinstituts gegeben, welches John mitgenommen hatte. Am Morgen rief ich dort gleich an und sagte, dass wir John gerne sehen würden. Uns wurde mitgeteilt, dass das auf gar keinen Fall möglich sei. Solange die Staatsanwaltschaft den Leichnam nicht freigegeben habe, dürften wir John nicht sehen. Das erschien uns kolossal unmenschlich. „Wie lange könnte das dauern?“, fragten wir nach. Man sagte uns, wahrscheinlich zwischen Mittwoch und Freitag der folgenden Woche. In der Zwischenzeit wussten wir nur, dass unser totes Kind irgendwo in Berlin in einer Gerichtsmedizin liegt und dass wir nicht zu ihm dürfen. Wie soll man das aushalten? Die Wohnung war ganz leer und ganz still. Wir im totalen Schockzustand.

Wir konnten nicht essen und nicht schlafen. An die ersten beiden Tage, Samstag und Sonntag, habe ich fast keine Erinnerung mehr. Ich weiß noch, dass wir einmal den Fernseher anschalteten, um Nachrichten zu sehen, und dass mir schon fünf Minuten danach keine einzige Nachricht mehr in Erinnerung war. Mein Kopf war ein Sieb, durch das alles hindurch fiel, außer die Buchstaben J-O-H-N. Ich hätte nicht sagen können, was wir vor einer Stunde gemacht haben, geschweige denn am Tag zuvor. Wir saßen nur da, Körper und Geist waren sich in einer einzigen Sache einig: in der totalen Zurückweisung dessen, was aber doch wahr war.

Montag bis Mittwoch

Am Montagmorgen beruhigte mich ein Telefonat mit dem verantwortlichen Kriminalpolizisten. Er versicherte uns, noch am selben Tag seinen Bericht fertig zu stellen und an die Staatsanwaltschaft zu leiten. Er hatte die Angaben des Notarztes vorliegen, hatte aus unserer Wohnung Johns letzte Arztbriefe aus dem Epilepsiezentrum im Januar mitgenommen, telefonierte zusätzlich noch mit Johns Ärzten und hatte in seinen Dienstjahren schon mehrere Fälle von SUDEP erlebt. Es war keine Frage von Fremdverschulden und der Kripobeamte stellte uns in Aussicht, John bald sehen zu können. Auch schlug er keine Obduktion vor.

Ich war erleichtert, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass man John aufschneiden würde. Natürlich waren Scott und ich auch auf der Suche nach Antworten. Was war bloß geschehen? Aber eine Obduktion würde uns aller Wahrscheinlichkeit nach keine Antworten geben. Wir lasen von SUDEP, dass es medizinisch noch nicht erklärt werden kann. Und schon von Beginn an war Johns Krankengeschichte ein Rätsel gewesen, Experten auf zwei Kontinenten ratlos. Wir wussten im Grunde nichts, gar nichts. Das hatten wir in Johns Leben akzeptiert und das würden wir auch jetzt in seinem Tod akzeptieren müssen. Kein Wissen, kein verstehen oder erklären können.

Trotzdem hatten wir John bis jetzt immer helfen können und immer bemerkt, wenn etwas nicht stimmte. Warum hatten wir dieses Mal bloß nichts bemerkt? Wir hatten die ganze Zeit das Lied „Pink Rabbits“ von The National im Kopf, diese intensive Version des tiny desk concerts. So schlimm die Stelle: You didn’t see me, I was falling apart.

Unser Verstand sagte: Wahrscheinlich konnten wir vorher gar nichts ahnen. Ich hatte noch am Freitagabend mit John telefoniert, er war gut gelaunt gewesen und als ich ihm sagte: „Montag kommt Mama wieder nach Hause“, hatte er gelacht und sich offensichtlich gefreut. John war auch in der ganzen vorigen Woche gut zufrieden gewesen. Trotzdem hatten wir immer dieses Lied im Ohr, weil wir John nicht vor dem Tod hatten beschützen können. Scott zeigte mir ein anderes tiny desk concert, von Wilco. Es war das letzte, was John vor dem Zubettgehen angesehen hatte. Zu „I’m always in love“ hatte er auf dem Sofa noch seinen signature dance, den rudernden Sitztanz vollführt, kurz bevor er starb.

Freunde brachten uns Essen vorbei, was uns sehr half, denn an Dinge wie einkaufen oder kochen war gar nicht zu denken. Wir schliefen maximal zwei Stunden am Stück, spürten aber keine Müdigkeit. Wir bangten darum, ob die Staatsanwaltschaft dem Bericht der Kriminalpolizisten folgen und von einer Obduktion absehen würde. Ich merkte, wie wichtig es für mich war, dass John im Tod wenigstens noch ganz bleiben durfte. Ich wollte, dass sein Leichnam so wenig wie möglich gestört wurde.

Die Seelsorgerin hatte uns ein paar Kontaktdaten zu verschiedenen Bestattern gegeben. Wir sahen uns die Websites an und uns gefiel, was wir in einem Artikel über Lea von Charon Bestattungen lasen. Sie wurde uns auch noch von anderer Seite empfohlen und schon das erste Gespräch mit ihr tat mir gut. Ich fühlte ja nur diese Leere und darunter einen unfassbaren, bodenlosen Schmerz. Sie erklärte mir, dass ich es mir vielleicht vorstellen könnte, wie wenn man im Winter aus der Kälte nach drinnen kommt und die verfrorene Hand in warmes Wasser legt. Das Wasser kommt einem dann ganz heiß vor und man muss die Hand sofort wieder rausziehen. Dann legt man sie wieder hinein und jedes Mal kann man es ein bisschen länger aushalten, bis Hand und Wasser sich angepasst haben.

So war es tatsächlich. Es ist wohl ein Schutzmechanismus der Psyche, dass man das Ausmaß der Katastrophe immer nur in kleinen Teilen weiter und weiter begreifen kann. In den ersten Tagen konnte ich mir kaum zwei oder drei Fotos von John ansehen. Dann ging es immer besser und nach ein paar Tagen sahen wir uns permanent Bilder von John an, aus allen Lebensjahren, und begannen damit, für die Trauerfeier eine große Collage zu erstellen.

Am Anfang war es auch unglaublich schwer, in Johns Zimmer zu gehen. Alles darin war John und es überwältigte uns. Mit den Tagen aber gingen wir immer länger und immer lieber in sein Zimmer. An einem Abend setzten wir uns mit einer Flasche Sekt auf den Boden in Johns Zimmer, erzählten uns Geschichten aus seinem Leben und es war, als ob wir mit ihm sprechen konnten.

Wie sollten wir weiterleben, wenn uns das Liebste genommen worden war? Lea schätzte es so ein: Wir hatten mit John so viele schwere Situationen überstanden, bestimmt hätten wir die Kraft schon in uns, die wir nun brauchen würden. Wir waren uns nicht sicher, aber was wir wussten: So, wie wir John fünfzehneinhalb Jahre lang gepflegt, umsorgt und bedingungslos geliebt haben, so wollten wir ihn auch bei jedem Schritt auf diesem letzten Weg begleiten. So viel wie möglich wollten wir selbst machen.

Am Mittwoch, den 9. März kam die erlösende Nachricht der Staatsanwaltschaft, dass Johns Leichnam ohne Obduktion freigegeben worden war. Wir konnten John endlich wieder sehen, vier lange Tage hatten wir gewartet. Ich war enorm aufgeregt und kann gar nicht beschreiben, wie gut es war, John endlich zu sehen und berühren zu können.

Auf seinem Brustkorb klebten noch die Pflaster von den Wiederbelebungsversuchen, sonst sah er ganz friedlich aus. Vorsichtig entfernten wir die Pflaster, wuschen John und zogen ihm die Kleidung an, die wir Zuhause für ihn ausgesucht hatten. Lea und ihr Vater waren dabei, sie gaben Scott und mir Tipps, wie man am besten die Jeanshose anzieht oder den Pullover. Sie fassten mit an, wenn es nötig war, aber sonst ließen sie es uns alleine machen. Gemeinsam hoben wir John in den Sarg. Scott und ich hatten von Zuhause Kissen, Decke, Johns Lieblings-Holzpuzzle und sein Lieblings-Wimmelbuch mitgebracht, die wir zu John legten.

Wir verbrachten zwei Stunden mit John und es war irgendwie beruhigend. In der folgenden Nacht schlief ich das erste Mal seit Johns Tod sechs Stunden durch. Und wachte erschrocken auf: Wie konnte ich nur sechs Stunden schlafen, wenn mein Kind tot ist?

Donnerstag bis Dienstag

Zwei Tage nachdem wir John in den Sarg gelegt hatten, fuhren wir für eine erste Abschiednahme am offenen Sarg wieder zum Fuhrunternehmen Gustav Schöne am Richardplatz in Neukölln, wo Johns Leichnam aufbewahrt wurde. Leas Vater war da, wir dekorierten den Raum, zuerst waren Scott und ich eine Weile mit John alleine, dann kamen neben dem Pfarrer auch meine Eltern dazu, die am Donnerstag in Berlin angekommen waren, und schließlich noch ein paar Freunde. Wieder tat es uns sehr gut, zwei Stunden mit John zu verbringen.

In der Zwischenzeit hatten wir auch zwei ganz wichtige Fragen gelöst: Bestattungsart und Bestattungsort. Direkt nach Johns Tod hatten wir gedacht, dass wir eine Kremation wünschen. Je mehr Zeit verging, umso unsicherer wurden wir uns aber. Wir lasen über die verschiedenen Bestattungsarten und ich sprach mit Lea darüber. Was eine Erdbestattung betrifft, hatte ich diese gängige Angst im Kopf, dass der Körper unter der Erde von Würmern angefressen wird. Es stellte sich heraus, dass dem gar nicht so ist. Der Sarg liegt so tief, dass es dort keine Würmer mehr gibt.

Demgegenüber hatte ich eine viel zu harmlose Vorstellung von der Kremation gehabt. Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie der Körper bei höchster Hitze verbrannt wird, und ich wusste nicht, dass dabei 95% der Materie in einem gasförmigen Zustand in die Luft gehen, aber 5% Mineralien übrig bleiben, die Knochen, die in einer Mühle zermahlen werden und das bilden, was wir Asche nennen, was aber in Wirklichkeit gemahlene Knochen, also eine Art Sand ist. Ich war erschrocken, wie wenig ich tatsächlich über Feuer- und Erdbestattung wusste und uns fiel es schwer, eine Entscheidung zu treffen.

Lea kam uns mit guten Denkanstößen zu Hilfe. Sie sagte, man könne darüber nachdenken, dass bei der Kremation der Körper an die Elemente Feuer und Luft gegeben wird, bei der Erdbestattung an die Elemente Erde und Wasser. Welche Elemente passten denn eher zu John? Man konnte auch darüber nachdenken, ob er eher ein schneller Typ war oder ob er sich seine Zeit genommen hat? Die Erdbestattung erlaubt den natürlichen Auflösungsprozess innerhalb von 20 Jahren, der bei der Kremation auf eine Dauer von 45 Minuten beschleunigt wird.

Wir dachten viel nach. John war eigentlich eher ein erdiger Typ gewesen und sein Element war zweifelsohne das Wasser. Er war gut darin gewesen, sich seine Zeit und seinen Raum zu nehmen. Er war sehr naturverbunden und nahm in der Natur immer wieder Dinge wahr, die uns entgingen. Und wir dachten: Wenn John schon so ein verkürztes Leben hatte und nur 15 Jahre alt werden durfte, dann soll er doch wenigstens im Gehen alle Zeit der Welt haben. Erdbestattung also. So unsicher wir uns gewesen waren, nach ein paar Tagen war die Entscheidung für uns glasklar.

In den Tagen nach Johns Tod besuchten und durchwanderten wir auch einige Friedhöfe. Lea hatte uns vorgeschlagen, hinzufahren und zu laufen, um ein Gefühl für die Orte zu bekommen. Ein weiterer wichtiger Hinweis für uns. Zunächst hatten wir nämlich an den Friedhof Alt-Stralau gedacht, weil wir dort häufiger mit John gewesen waren und weil der kleine Friedhof von Wasser umgeben ist. Als wir aber dort waren, merkten wir sofort, dass es nicht der richtige Ort ist. Auch der Friedhof an der Ackerstraße in der Nähe unserer ehemaligen Wohnung am Arkonaplatz schien uns nicht richtig. Wir hatten schon ein bisschen Angst, dass es sich nirgendwo passend anfühlen würde, doch als wir zum Alten Luisenstädtischen Friedhof in Kreuzberg kamen, wussten wir sofort: Hier ist es. Ein wunderbarer Naturfriedhof.

Weg zu John

Mehrfach suchten wir nach dem richtigen Platz und waren glücklich, dass eine Wahlstelle genau da frei war, wo wir es schließlich gerne wollten, eher im hinteren Teil des Friedhofs. Man geht über einen kleinen Hügel (Wikipedia: ehemals ein unfruchtbarer Weinberg) an einer Engelstatue vorbei auf ein Mausoleum zu, und dann liegt rechts eine schöne Lichtung, auf die die Morgensonne scheint. Das war unser Ort, wir waren uns wieder ganz sicher.

Erdbestattung und Platz auf dem Friedhof, mit diesen beiden wichtigen Entscheidungen im Rücken fuhren wir am Dienstag, den 15. März gemeinsam mit meinen Eltern nach Fürstenwalde, wo wir von Johns Schule zu einer Trauerfeier eingeladen waren. Es war gleichzeitig hart und schön, alle wieder zu sehen: Lehrer, Assistenten, Begleitender Dienst, Mitschüler. Johns Tod hatte neben uns als Eltern noch so viele andere Menschen erschüttert. Die Pastorin hielt eine berührende Ansprache, ebenso die Schulleiterin. Wir sahen Fotos von John aus den letzten sechs Schuljahren. Während ein Lied gespielt wurde, brachten die Schüler und Lehrer Dinge für John nach vorne, die sie in einen Korb legten: Kerzen, selbstgemalte Bilder, Texte, Briefe und ein Glas mit seinem geliebten „Rieselsand“ beim Haus Martha, wo lange Johns Klasse gewesen war.

Es war eine bewegende Feier und wir waren wieder so dankbar, dass John in der Burgdorf-Schule so einen guten Ort gefunden hatte. Den Korb durften wir am Ende der Feier mitnehmen. Eine von Johns Mitschülerinnen schrieb in einem Brief an John: „Du gingst ganz leis, Seele aus Licht, schmetterlingsleicht, denken wir alle an Dich.“ Zuhause breiteten wir alles auf Johns Bett aus. Der Esszimmertisch war schon voll von Karten, wir hatten in der Zwischenzeit an die hundert Karten und Briefe erhalten. Die überwältigende Anteilnahme und Unterstützung machten uns sprachlos und halfen uns aber auch, wir waren nicht allein. Und ein kleiner Trost im noch immer Unbegreiflichen: John hat so viele Menschen berührt und bewegt, das bleibt für immer.

Schule

Rieselsand

Karten

Mittwoch bis Freitag

Insgesamt sahen wir John zwischen der Freigabe seines Leichnams und der Beerdigung drei Mal und es gab zwei Abschiednahmen am offenen Sarg. Die letzte Abschiednahme fand am Tag vor der Beerdigung statt, am Donnerstag, den 17. März. Am Vortag waren die Familienangehörigen aus den USA eingeflogen sowie mein Bruder mit Familie aus Norddeutschland eingetroffen und so hatten noch wieder mehr Menschen die Gelegenheit, sich auch von John zu verabschieden.

John war schon knapp zwei Wochen tot, sah aber immer noch sehr friedlich aus. Sein Körper hatte sich ein bisschen gemütlicher gebettet, der Kopf ruhte ein bisschen mehr zur linken Seite. Bei der Abschiednahme dekorierten wir gemeinsam mit den anderen Anwesenden den Sargdeckel mit Teilen von Johns geliebten Holzpuzzles und obenauf mit seinem Namen.

Scott und ich bekamen noch einmal die Möglichkeit, mit John alleine zu sein, was uns auch sehr gut tat, um wirklich endgültig Abschied zu nehmen. Wir legten zusätzlich zu den anderen Dingen, die wir John schon mitgegeben hatten, noch zwei Briefe in seine Hand, die wir ihm geschrieben hatten. Am Ende hoben wir selbst den Deckel auf den Sarg und gemeinsam mit den Taufpaten und anderen Familienangehörigen drehten wir die sechs Schrauben ein.

Sarg

Jeder Schritt in den zwei Wochen zwischen Tod und Beerdigung war wichtig für uns. Was mir vorher auch nicht so klar war: wie viele Entscheidungen man nach einem Tod treffen muss. Und diese Entscheidungen sind endgültig, wir würden mit ihnen für den Rest unseres Lebens leben. Niemals könnten wir diese Zeit wiederbringen, deshalb brauchten wir diese zwei Wochen.

Am Freitag, den 18. März um 11 Uhr erfolgte dann die Trauerfeier mit der Beerdigung. Wir hatten bei einer Floristin aus dem PortaDora-Netzwerk, Frieda Schwarz, die Blumen bestellt. Sie sollten wiesenmäßig aussehen, das passte am besten zu John. Man hätte es nicht schöner gestalten können. Auch die schlichten Efeuranken auf dem Sarg waren richtig passend für John. Für unser Gesteck hatten wir Frieda die wichtigsten Bildkarten von John gegeben und sie hatte sie sehr schön in unsere Blumen eingearbeitet: Rausgehen, Einkaufen, Pause, Ausflug und natürlich Schwimmen.

Schwimmen

Wiesengesteck

Es waren viele Freunde und Familienangehörige aus ganz Deutschland und aus den USA gekommen. Wir hatten unsere Collage mitgebracht. Mein Bruder las die Fürbitten und der Pfarrer sprach sehr schön zu Johns Namenspatronen. In jedem von ihnen konnte man John ein Stück erkennen. Scott hielt eine Ansprache, die genau das ausdrückte, was wir über John sagen wollten. Es war absolut wunderbar, dass Scott diese Kraft hatte. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte. Auf dem Weg zum Grab sah ich, wie sich zwei Eichhörnchen um einen Baum herum jagten.

Im Anschluss an die Beerdigung hatten wir zwei Räume im Café Strauss gemietet, nicht weit vom Friedhof entfernt in der Bergmannstraße. Auch dafür waren wir in den beiden Wochen zuvor herumgelaufen, um den richtigen Ort zu finden. Das Café Strauss war perfekt. So ein schönes Café. Wir hatten Schnittchen, Apfelstreusel- und Käsekuchen bestellt und verbrachten dort zwei Stunden gemeinsam mit unseren Gästen. Es war uns ein Bedürfnis, John einen schönen Abschied zu geben und ich glaube, das ist uns auch gelungen.

Seitdem geht der Schmerz weiter. Wir wissen, dass es lange, lange dauern wird. Wie findet man von Drei wieder zurück zu Zwei? Wie kann man ohne sein Kind überleben und leben? Nicht umsonst spricht man von Trauerarbeit. Wir haben gemerkt, dass es sogar körperlich anstrengend ist. An einem Tag tat mir alles weh, es fühlte sich an wie Muskelkater, dabei hatte ich gar nichts gemacht.

Die Erschöpfung wird spürbarer und der Körper holt sich mehr und mehr Schlaf. Im Moment sind Scott und ich noch am liebsten alleine. Wir vermissen John so. Das Plötzliche und Unerwartete ist schwer zu verarbeiten. Wir sind aber in der Trauer auch dankbar für einen schönen Abschied, mit der wertvollen Hilfe unserer Bestatter Lea und Uller Gscheidel, und so dankbar auch für die beeindruckende Unterstützung durch unsere Familie und Freunde, und vor allem dankbar für die Zeit, die wir mit John hatten. Auch wenn sie uns natürlich viel zu kurz vorkommt.

Johns Grab

Johns Grab

Alter Luisenstädtischer Friedhof

Du gingst ganz leis, Seele aus Licht, schmetterlingsleicht, denken wir alle an Dich.

~

Links:

PortaDora Abschiedskultur [#]

The National: Pink Rabbits [#]

Wilco: I’m always in love [#]

Charon Bestattungen [#]

Frieda Schwarz [#]

Alter Luisenstädtischer Friedhof [#]

Café Strauss [#]

john.

Er war unser Junge mit der Bonbon-Agenda,
der in den Mülleimer beißt,
und die Gitarre wie einen Kontrabass spielt.
Ein Partisan und ein Meister puren Seins.

Dazu noch so viel mehr.

John im Januar 2016

Viele Leserinnen und Leser haben unseren Weg mit John seit mehr als zehn Jahren begleitet. Dafür sind wir sehr dankbar. Letzte Nacht ist John gestorben. Wir sind tief traurig und wir vermissen ihn so sehr.

tausend tode schreiben [89.]

Christiane Frohmann hat heute den ersten Teil des Buchs Tausend Tode schreiben herausgegeben. „Die Idee ist, dass tausend Autoren tausend kurze Texte über den Tod schreiben: Persönliche Begegnungen, wissenschaftliche Betrachtungen, Fiktion. Diese vielfältigen Texte sollen zusammenwirken als ein transpersonaler Text, der – so die Annahme – einiges über das aktuelle Bild des Todes in unserer Gesellschaft verraten wird.“

Ich habe mich mit einem Text beteiligt, den ich in längerer Form schon einmal geschrieben hatte, der sich seither aber verändert hat. Die Herausgeber- und Autorenanteile an den Erlösen werden dem Kindersterbehospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow gespendet.

~

Im Berliner Wagen erreichte ich den kleinen Ort in Norddeutschland, in dem meine Großmutter am folgenden Tag beerdigt werden sollte. Kurz vor uns war das Auto aus Siegen angekommen, davor der Wagen aus Heidelberg. Die Ravensburger riefen an, sie waren schon in Dortmund und würden bald da sein. Das Haus war voll von Verwandten, denn meine Oma hatte neun Kinder, zwanzig Enkel und neunzehn Urenkel, die mittlerweile über ganz Deutschland verteilt wohnten, und die sich nun samt Familienanhang im Haus meiner Oma trafen. Es gab Hühnersuppe.

Am nächsten Morgen sollte der Sarg geschlossen werden. Viele wollten die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter lieber lebendig in Erinnerung behalten und so waren wir eine recht kleine Gruppe, die sie noch ein letztes Mal sehen wollte. Auf den ersten Blick sah meine Oma aus wie eine andere Person, doch je genauer ich hinsah, desto besser konnte ich sie doch erkennen. Meine Tante zupfte an den Haaren herum, die noch nicht so aussahen wie sonst. Um den Hals trug Oma eine Perlenkette, an den gefalteten Händen einen schönen roten Rosenkranz, den meine Eltern ihr vor nicht allzu langer Zeit aus Mexiko mitgebracht hatten.

Die Hände sahen noch genauso aus wie immer, das waren Omas Hände, und ich fand es schön, dass man ihr nicht die Fingernägel manikürt hatte, obenauf lag der Daumen mit dem etwas schief geschnittenen Nagel, genauso, wie er immer gewesen war. Ich drückte ihr zum Abschied die Hände, sie waren natürlich eiskalt und steif, und ich spürte, dass darin gar kein Leben mehr war. Komisch, wie viel Leben in einer Hand steckt, oder wie groß der Unterschied ist, wenn in dieser Hand kein Leben mehr ist. Diese Berührung war das letzte Wissen, dass meine Oma nicht mehr in diesem Körper steckte. Dennoch konnten wir uns kaum überwinden zu gehen.

Später dann das Rosenkranzbeten in der Leichenhalle, das Monotone daran, dessen Effekt mich immer wieder erstaunt. Wenn der ’schmerzhafte‘, der schlimmste unter den Rosenkränzen beginnt, „der für uns Blut geschwitzt hat“, erschrickt man kurz, aber dann entzieht das Aufsagen und Wiederholen den Wörtern langsam immer mehr von deren Bedeutung. Es bleibt nur das Ritual, lang und schwer, und dennoch auch ein Singsang, der einen fast wie ein Gutenachtlied einlullt.

Draußen großartig klare und kalte Luft bei Sonnenschein. Etwas entfernt vom Grab spielte, als wir von der Leichenhalle aus hinter dem Sarg herliefen, eine Blaskapelle in kleiner Choralbesetzung und mit Tenorhörnern, und gerade als wir in den Gang unseres Familiengrabes einbogen, zog ein Schwarm von Vögeln durch den blauen Himmel, in einem Film hätte man das wahrscheinlich für eine zu perfekte Choreographie gehalten. Bei früheren Beerdigungen hatte ich den Anblick des Sarges in der Erde immer schlimm gefunden, natürlich auch dieses Mal, aber nicht auf die gleiche Weise, vielleicht, weil ich kurz vorher noch Omas leblose Hände gehalten hatte und damit ihren Körper besser gehen lassen konnte.

Über 200 Menschen beim anschließenden Kaffeetrinken. Eine traurige und zugleich schöne Feier zum Abschied von meiner Oma, die 92 Jahre alt geworden war.

oma.

Die Tage vom Todestag am Donnerstag bis zum Montag waren für mich ein bisschen wie im Nebel vergangen. Am Montag hatte ich das Bedürfnis, mich auf den Abschied von meiner Oma vorzubereiten und kaufte eine neue schwarze Hose und einen schwarzen Pullover. Montag Nachmittag um halb fünf war ich in Kreuzberg und holte meinen Cousin von der Arbeit ab, der uns alle fahren wollte, gemeinsam sammelten wir meinen Onkel und meine Tante in Charlottenburg ein. Schon um kurz nach neun kamen wir am Haus meiner Oma in Emstek an. Zehn Minuten vor uns, dem Berliner Wagen, war das Auto aus Siegen gekommen, fünf Minuten davor der Wagen aus Heidelberg. Die Ravensburger riefen an, sie waren schon in Dortmund. Das Haus meiner Oma war voll von Verwandten, denn meine Oma hatte neun Kinder, zwanzig Enkelkinder und neunzehn Urenkel. Es gab Hühnersuppe.

Spät fuhr ich mit meinen Eltern nach Friesoythe, am nächsten Morgen gleich wieder nach Emstek, um meine Oma noch ein letztes Mal zu sehen. Nach zehn sollte der Sarg geschlossen werden, um zehn Uhr also trafen sich die, die sie noch sehen wollten, viele wollten sie lieber lebendig in Erinnerung behalten, so waren wir eine recht kleine Gruppe. Meine Oma sah auf den ersten Blick aus wie eine andere Person, mein erster Gedanke war, dass wir in einem falschen Raum waren, aber ich wusste ja, dass es der richtige Raum ist, und je genauer man hinsah, umso mehr konnte man meine Oma erkennen. Meine Tante zupfte an Omas Haaren herum, die noch nicht so aussahen, wie Oma sie immer getragen hatte. Um den Hals trug Oma eine Perlenkette, an den Händen einen schönen, roten Rosenkranz, den meine Eltern ihr aus Mexiko mitgebracht hatten. Wir konnten uns kaum überwinden, den Raum wieder zu verlassen, weil genau das der endgültige Schritt sein würde, danach kommt der Deckel auf den Sarg, dann wird man sie nie wieder sehen. Die Hände sahen noch genau so aus wie immer, das waren original Omas Hände, ich fand es schön, dass man ihr nicht die Fingernägel manikürt hatte, obenauf lag der Daumen mit dem etwas schief geschnittenen Nagel, genauso, wie er immer war. Ich hatte das Bedürfnis, sie noch einmal anzufassen und habe ihr zum Abschied die Hände gedrückt, die natürlich eiskalt und steif waren, aber es hat sich trotzdem gut angefühlt, meine Oma noch ein letztes Mal zu berühren.

Später dann das Rosenkranzbeten in der Leichenhalle, das Monotone daran, dessen Effekt mich immer wieder erstaunt. „Der für uns Blut geschwitzt hat“, wenn der schmerzhafte, der schlimmste unter den Rosenkränzen beginnt, erschrickt man sich noch kurz, aber dann entzieht das Monotone den Signifikanten das Signifikat, das ist auch bei der Gräbersegnung an Allerheiligen immer so, ich musste kurz an Saussure denken und mich über die Semiotik wundern. Die neu gebaute Leichenhalle ist insofern ein Segen, als man nach dem Rosenkranz an der Seite der Halle hinausgeht und nicht mehr zum Eingang zurückgehen und an allen anderen Besuchern der Beerdigung vorbeilaufen muss.

Draußen. Das Wetter war großartig, klare und kalte Luft bei Sonnenschein, die Blaskapelle in kleiner Choralbesetzung mit den schönen Tenorhörnern spielte etwas entfernt vom Grab, als wir von der Leichenhalle hinter dem Sarg zum Grab liefen, und gerade als wir in den Gang unseres Familiengrabes einbogen, zog ein Schwarm von Vögeln durch den blauen Himmel, in einem Film hätte man diese Vögel wahrscheinlich für eine zu perfekte Choreographie gehalten. Bei früheren Beerdigungen fand ich den Anblick des Sarges in der Erde immer sehr schlimm, natürlich auch dieses Mal, aber nicht auf die gleiche Weise, vielleicht, weil ich meiner Oma kurz vorher noch so nahe gewesen war.

In der Kirche kam der Pfarrer zur Predigt zu uns herunter und erzählte von meiner Oma, wie sie die ersten vier Kinder alleine durch den zweiten Weltkrieg bringen musste, der Mann im Krieg in Russland, und vieles mehr. Als Lesung wurde ein berührender Brief vorgetragen, den mein Opa zu Weihnachten 1945 aus der Gefangenschaft an meine Oma geschrieben hat. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, wie die Generation der Großeltern gelebt hat. Meine liebe Oma, sie war 92 Jahre alt und hatte drei sehr schwierige letzte Jahre, ein langes und erfülltes Leben und eine Erlösung also, aber dieses Wissen hilft ja nicht gegen die Trauer. Als der Pfarrer die Kommunion vorbereitete, musste ich wegen der Theatralik an Christoph Schlingensief denken, später dann auch an Wiebke, meine so früh verstorbene Mitschülerin. Ich musste daran denken, dass meine Oma am Martinstag gestorben war, und dass das der richtige Tag für sie war, der Tag des Heiligen der Nächstenliebe und des Teilens. Ich musste daran denken, wie sehr sie John geliebt hat, und er sie. Die beiden waren immer ein witziges Team, sie wurde immer kleiner und er immer größer, und sie hat immer mit ihm gesprochen, als könne er alles verstehen. Nur wenn er wild durch ihren geliebten Garten lief, war sie immer nervös und hatte Angst, dass er ihre Blumen zertrampelt, das sah man ihr an, aber sie hat es ertragen. Als wir im August das letzte Mal zusammen bei ihr waren, hat sie sich so gefreut ihn zu sehen, da hat sie sogar „John“ gesagt, obwohl sie eigentlich seit dem Schlaganfall gar nicht mehr sprach.

Über zweihundert Leute beim anschließenden Kaffeetrinken, und doch habe ich außer den unmittelbar betroffenen Familienmitgliedern fast niemanden gesehen. Meine Eltern erzählten mir später, wer alles dagewesen war, ich hatte es gar nicht bemerkt. Nach der Beerdigung gingen wir wieder ins Haus meiner Oma und blieben bis abends um neun. Am Auto bemerkte ich, dass ich meine Tasche vergessen hatte und ging noch einmal zurück. Ich klingelte und musste in dem Moment daran denken, dass das ganz typisch Omas Klingeln war, sie hat diese laute Klingel, die durch den Flur hallt, ich kenne sonst niemanden, der so eine Klingel hat. Meine Cousine hat einen Text über meine Oma geschrieben, in dem sie auch die Klingel erwähnt, es muss uns also allen so gegangen sein, dass diese Klingel irgendwie unsere Oma ankündigte. Jeden Sonntag haben wir meine Oma besucht, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, die ersten neunzehn Jahre meines Lebens habe ich also jeden Sonntag diese Klingel gehört, und später dann auch an jedem Sonntag, an dem ich Zuhause war, denn Sonntag war Omatag, so viel war immer klar. Oft würde ich diese Klingel nun nicht mehr hören, wohl aber am nächsten Morgen, als meine Eltern mich ein letztes Mal zu Omas Haus brachten, wo Wagen für Wagen verabschiedet wurde, so wie zwei Tage vorher Wagen für Wagen angekommen war, aus allen Richtungen Deutschlands, nun also zurück in jedermanns neue Heimat. Wie wird das wohl werden, wenn der Dreh- und Angelpunkt, das Herz einer großen Familie nicht mehr da ist, die Frau, die bis zum Ende alle zusammengeführt hat? Mein ältester Cousin hat zum Glück schon beim Kaffeetrinken kleine Visitenkarten verteilt, die das erste Treffen der Großfamilie im nächsten Jahr ankündigen.

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