details.

Abends um elf saß ich auf dem Sofa und reparierte mit Sekundenkleber einen alten, scharzen Schuh. Er gehörte einer Frau aus der Reisegruppe, sie hatte sich zwei Tage lang mit ihrem Mann darüber gestritten, dass ihr Schuh kaputt sei, sie ihn aber nicht wegwerfen wolle, nur repariert haben, da sie in den Schuhen so gut laufen könne. Er aber wollte partout kein entsprechendes Geschäft mit ihr suchen. Ich erklärte mehrfach: das Hotel an der Friedrichstraße lag ungefähr 300 Meter von „Mister Minit“ im Bahnhof Friedrichstraße entfernt, how to get there, it’s very easy. Aber direkt am Hotel gab es ein Schuhgeschäft, und der Mann machte es zu einer Grundsatzdiskussion, nach mehr als 30 Jahren Ehe wird noch immer, oder gerade drum, um alles hart gefochten. Heutzutage noch Schuhe zu flicken, das sei doch lächerlich, nein, er bestand auf neuen Schuhen, man habe doch mehr als genug Geld. Da ich ständig in diese Diskussionen eingebunden wurde, und auch nicht wollte, dass sich das auf die Stimmung der ganzen Reisegruppe auswirkt, bot ich der Frau also am zweiten Tag an, nach der spätabendlichen Führung durch die Gemäldegalerie (donnerstags immer bis zehn geöffnet) die Schuhe vom Hotel aus mit Nachhause zu nehmen, und am nächsten Morgen repariert wieder mitzubringen, ein paar Minuten früher als das Treffen der Gruppe in der Lobby. Um kurz nach zehn kam ich also abends Nachhause, würde um kurz nach sieben wieder losmüssen, um das Kind in die Schule zu bringen und dann die Gruppe zur Besichtigung des Holocaust-Mahnmals abzuholen. Ich suchte den Sekundenkleber und saß dann des Nachts auf dem Sofa und klebte den ausgeleierten Schuh einer alten Kanadierin. Wie man aber auch immer in solche Situationen kommt, woher dieses Bestreben, Konflikte zu lösen, Harmonie herzustellen, auf alle Teilnehmer in der Gruppe Rücksicht zu nehmen. Das geht natürlich auf eigene Kosten, viele Frauen in diesem Job machen das, während Männer meistens cooler sind, die Leute sich selbst überlassen können, und dabei am Ende genauso viel oder wenig Trinkgeld bekommen, finanziell lohnt sich das nicht, nur viele Karten und Notizen bekomme ich am Ende immer: „Dear Monika, thank you for all your effort in making the city of Berlin a ‚wunderbar‘ place. We especially loved your personal touches, like getting us the English booklet at the concert hall and fixing my shoe.“

pathologisierung.

2012 wird die fünfte Ausgabe des DSM (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) erscheinen. Jetzt streitet man sich darüber, ob der Prozess der Revisionen öffentlich gemacht werden soll, so dass Experten und Öffentlichkeit diesen Prozess mitverfolgen können, oder ob die Diskussionen über mögliche Veränderungen bis zur Veröffentlichung geheim abgehalten werden sollen. Eine Frage, die zunächst lapidar erscheinen mag, aber tatsächlich höchst brisant ist, entscheiden sich doch an diesen Revisionen zum Beispiel auch die Finanzierungen von Therapien; von den kulturellen und gesellschaftlichen Implikationen ganz zu schweigen.

Als Beispiel für Autismus sei erwähnt, dass das Asperger-Syndrom überhaupt erst seit 1994 im DSM aufgeführt wird. Ein weiteres Beispiel: zwischen der Ausgabe DSM-III und DSM-III-R haben sich die Bewertungskriterien derart geändert, dass bei einer Testgruppe von 194 möglicherweise autistischen Kindern 51% nach DSM-III dem autistischen Spektrum zugeordnet werden; aber nach DSM-III-R beurteilt, steigt diese Zahl in derselben Testgruppe auf 91% an. (So viel zu einer Epidemie des Autismus: steigende Diagnosezahlen lassen sich manchmal eben auch ganz anders erklären.)

Christopher Lane hat dazu einen guten Kommentar in der Los Angeles Times geschrieben: „My concern is the lack of proper oversight. If the proposed new disorders don’t receive a full professional airing, including a vigorous debate about their validity, they will be incorporated wholesale into the fifth edition in 2012. Joining the ranks of the mentally ill will be the apathetic, shopaholics, the virtually obsessed and alienated parents. It’s hard to imagine that anyone will be left who is not eligible for a diagnosis.“ [#]

eine taugliche these.

Genau das habe ich mir auch schon häufiger gedacht: „Frage mich, ob es eine taugliche Theorie ist, dass je jugendlicher der Autor, umso misslungener die Rollenprosa über Alte, Arme, Behinderte, Fremde ist. Ob die Überheblichkeit noch zu groß ist in der Jugend, vor allem die Überschätzung des eigenen Einfühlungsvermögens. Das von oben herab Wohlwollende. Ab 40 ist dann nichts mehr sicher, da hat man scheitern und sterben sehen und ist auf Augenhöhe mit allem, was man früher gar nicht sehen wollte.“ [#]

man in the dark.

Es ist ja immer die Frage, ob man ein neues Buch von Paul Auster lesen soll. Herr Knoerer hat einmal geraten, nach dem Titel zu gehen: wenn er zu verquast klingt, dann lieber sein lassen. Das war für das letzte Buch „Travels in the Scriptorium“ ein gut funktionierender Rat: ein verquaster Titel und ein mittelmäßiges Buch, ohne dessen Lektüre man auch hätte leben können. Was macht man aber bei „Man in the Dark“? Klingt eigentlich noch so okay, dass man es wagen könnte. Die Rezension in der ‚New York Review of Books‘ empfiehlt es, durchaus vor dem Hintergrund begründeter Kritik an Austers Büchern: „Some of Auster’s tics or techniques—the incestuous literary connections, the skewed autobiography, the ambiguous blurring of fact and fiction, the pervasive fatefulness—might sink any ordinary novel from sheer portentousness. And portentousness, as well as sentimentality, has been a criticism regularly leveled at his work. At its best, his tone is unruffled, meditative, intelligent, yet sometimes it does grow gravely august, both orotund and oracular. His characters are all too often the playthings of invisible forces; and the most trivial action—answering a telephone, buying a blue notebook—can bring about the most improbable and dire consequences. What may look like chance is usually kismet, and to Auster New York really is Baghdad on the Hudson, an Arabian Nights world of omens, shifting identities, unexpected windfalls, improbable meetings, wildly good and bad luck, and all those sudden peripeteias that seem more the stuff of melodrama than of modern fiction.“ [#]

cognitive disability: a challenge to moral philosophy.

Im September fand an der Stony Brook University eine Konferenz über die Beziehung zwischen kognitiven Behinderungen und Moralphilosophie statt, mit hochkarätigen Vortragenden wie Martha Nussbaum und Peter Singer, um nur zwei Beispiele zu nennen. Jetzt sind fast alle Vorträge als Podcasts online. Es geht vor allem um Autismus, Alzheimer und geistige Behinderung.

Zum Thema Autismus besonders interessant: das Video von Ian Hackings Vortrag „How we have been learning to talk about autism.“ In seinem Vortrag spricht Hacking über den Bedarf einer neuen Linguistik: „The new multimedia genre of autistic narrative–autobiography, parental biography, fictions, stories for children, and above all blogs, is an essential part of transforming the conception that severely autistic people lead „thin“ emotional lives into a vision of a far richer mode of existence.“ [#]

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