tddl 2011 [thomas klupp: paradiso].

Wenig Zeit, aber kurz bevor heute Abend endlich der Bewerb eingeläutet wird, schnell noch: ein tolles Buch, dieses Paradiso. Schade, dass ich nicht mehr Zeit zum Schwärmen habe, aber wir kommen gerade vom Strand und es müssen Ankes Spaghetti gekocht werden.

Meine Favoriten nach der höchst subjektiven Vorbereitung, deren Auswahl nur aufgrund von Erhältlichkeit in der Stadtbibliothek getroffen wurde:

1. Thomas Klupp
2. Gunther Geltinger
3. Linus Reichlin

tddl 2011 [linus reichlin: der assistent der sterne].

Aus dem Wattebausch Schweiz zurückgekehrt, haben mich die Sommerferien als Kontrastprogramm gleich zu Texels rauem Wind geführt und mir bleibt nur noch wenig Zeit zum Bachmannvorbereiten, Pflege und Betreuung nonstop sei Dank. So laufe ich also aufgrund von Johns Schlafstörungen schon morgens um halb sieben mit ihm am Nordseestrand herum, nunja. Ich habe trotzdem Linus Reichlins Assistent der Sterne gelesen, und zwar vollständig. Das liegt vor allem daran, dass der Krimi schöne Sommerurlaubslektüre ist, Belletristik also und daher wohl eher wenig Voraussagekraft für den Bewerb, hat mir aber gut gefallen. Die Dialoge haben mich zwar hier und da nicht überzeugt (auch zweimal so was in der Art von Minuspunkt 43: „Da kommt Franz, der, wie Du weißt, Dein Vater ist“), aber es ging mir mit Linus Reichlins Krimi so, wie es Angela mit Maximilian Steinbeis gegangen ist: es war mir irgendwann egal, ich wollte Hannes Jensen trotzdem weiter begleiten. Wenn mir Beschreibungen zu lang wurden oder ein Thema wie das ewige Trara um die Lesebrille mich anfing zu nerven, habe ich es nach Angelas Rezept einfach übersprungen, das klappt ganz gut, hätte ich auch eher schonmal anfangen können.

Auffällige Redewendung: Ein Polizist deckt Jensen und umschreibt das: „Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Ich habe ziemlich den Rücken hinunter geschwitzt.“

tddl 2011 [leif randt: leuchtspielhaus].

Festgefahren seit knapp einer Woche, Leif Randts Leuchtspielhaus. Letzten Montag zu lesen begonnen, schnell uninteressiert weggelegt, und wenn ich seitdem abends die Reisegruppe sich selbst überlasse, will es auch nicht funken, eine Seite hier, eine Seite da, ich komme nicht weiter. „Im UK“ heißt es immer, vielleicht schreibt man das im coolen Alter so, ein Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch sowieso, ausgerechnet ich sollte mich darüber nicht beschweren, aber die Masse geht für mein Empfinden übers Erträgliche hinaus. Manchmal kommt man nicht drumrum, in diesen Fällen könnte man schon, wenn man wollte, aber Leif Randt will offensichtlich nicht (wird in Rezensionen als „experimentell“ gelobt). Member heißen die Mitglieder einer Gruppe zum Beispiel, dabei wäre Mitglieder wirklich eine einfache Alternative. Abbruch bei S. 35, es geht leider gar nichts mit diesem Buch und mir, scheint mir leeres London-Getue, Kritiken sagen aber was anderes, vielleicht passt es einfach gerade nicht, jedenfalls macht Leif Randt in seinem Videoporträt einen sehr sympathischen Eindruck und ich hoffe für den Bewerb auf einen Text, der mir besser gefällt.

Die Mitglieder (Members) meiner amerikanischen Reisegruppe sind dieses Mal ganz unterschiedlichen Alters, sonst arbeite ich mit Pensionären 60+, jetzt zum ersten Mal für ein Familienprogramm mit Großeltern, Eltern und Kindern (im Alter von 4-17). Zu zweit betreuen wir eine Gruppe von 36 Personen. Das „Swiss Family Adventure“ hat seine Basis in Interlaken, Ausflüge und Aktivitäten bisher: Käsealp Gental (sehen wie Käse gemacht wird plus Verkostung), Engstlenalp (Wanderung), Aareschlucht, Meiringen, mit den Kindern in der Kletterhalle gewesen, Bern, Schiffstour auf dem Thunersee, Thun, Spiez, mit den Kindern Kühe in einem Holzschnitzgeschäft in Interlaken angemalt, Militärbunker in Stanstad, Luzern, Jungfraujoch, Wanderung vom Restaurant Allmend nach Wengen. Heute Abend Schweizer Fondue, morgen noch Grindelwald, Mini-Golf mit den Kindern, Rosenlaui-Schlucht und wenn die Zeit reicht Reichenbachfälle, abends Abschlussfeier (Graduation Ceremony and Farewell Party), mit den Kindern haben wir eine Fotoausstellung vorbereitet. Macht viel Spaß. Zuhause haben Vater und Sohn eine Woche lang sturmfreie Bude, es scheint alles okay zu sein. Berufliche Perspektiven sind vonnöten, wenn das so gut klappt, könnten wir das öfter mal machen.

Fotos aus der Schweiz hier.

tddl 2011 [gunther geltinger: mensch engel].

Auf dem Foto das Buch in der Pivnice U černého vola (Zum Schwarzen Ochsen) in Prag. Pfingsten in Prag, eine sehr gute Idee, wie auch Gunther Geltingers dorthin mitgenommener Roman Mensch Engel. Zuerst Metapherngestöber, aber gerade als ich denke, es geht nicht, die gleiche Erkenntnis vom Protagonisten Engel: „Es ist, muss er zugeben, also vollkommen sinnlos, dass er hier in endlosen, mäandrierenden Sätzen und mit über die Ufer tretenden Sommermetaphern versucht, sich dieser Sache zu stellen.“

Das ist der kluge Ansatz des Romans, gleich im ersten Satz des Romans eingeführt: „Engel schreibt:…“, von Anfang an zwei Ebenen zu eröffnen: das, was Engel schreibt und das, was er selbst dann über das Geschriebene denkt. So wird es möglich, in dem, was Engel schreibt, dem Metapherngestöber freien Lauf zu lassen, und dieses dann jedes Mal rechtzeitig von der Reflexion zu brechen. Auf diese Weise wird das immer neue Anrennen gegen das, was Sprache nicht zu erfassen vermag, deutlich, ein gescheiterter Versuch nach dem anderen, eine erste Liebe zu beschreiben. Durch den Schulfreund Marius entdeckt Engel seine Homosexualität, und was diese Liebe und diese Erkenntnis auslösen, das ist wirklich gut geschrieben. Unvergesslich das Schafmassaker, Engel zählt keine Schäfchen, er gibt ihnen den Bolzenschuss, erst fünfzig, dann hundert, dann fünfhundert, so die Erzählung einer schlaflosen Nacht. „Als die Sonne aufging, lag der Schlaf in Schutt und Asche. Mit gefalteten Händen, zur Brust gezogenen Knien und vom Kopfkissen zerfurchtem Gesicht kauerte Engel noch eine Weile über dem Schlachtfeld und schaute zurück auf die Trümmer. Dann stieg er aus dem Bett. Es war Wochenende.“

Ich freue mich, dass ich dieses Buch durch die Bachmannvorbereitung entdeckt habe. Ich bin auf S. 58, werde hier aber keinesfalls abbrechen, sondern den Rest auf jeden Fall lesen. Vorläufige Prognose: wenn Gunther Geltinger im Bewerb einen ähnlich tollen Text liest, auf jeden Fall ein Top-Kandidat für den Preis.

Anderthalb-Faktor: Hoch. Mehrere Beiträge für den Verein zur Rettung des Anderthalb, zum Beispiel: „Der Vater, wusste Engel, würde in anderthalb Stunden aufstehen, weitere anderthalb Stunden später seine gähnende, im Brotfach nach frischen Brötchen kramende Schwester Juli…“

tddl 2011 [maximilian steinbeis: pascolini].

Am Wochenende wieder mal Ausflug aufs Land, in Bad Freienwalde den Hügel zum Aussichtsturm erklommen, oben dann Pause mit Pascolini.

Eine rasante Geschichte, der erste Tote schon auf S. 28: mit einem schmiedeeisernen Schürhaken wird ihm mit einem einzigen Hieb die Schädeldecke zertrümmert. Trotzdem erscheint mir die Geschichte schnell sehr behäbig. Liegt es am schwerwiegenden Setting in der bayerischen Provinz oder vielleicht doch am Erzählstil? Nägel werden bleckend zwischen den Zähnen festgehalten, Lederhosen sind speckig, der Lauf des Revolvers glänzt schwarz-stählern. Neben einem Wust an Adjektiven, die die Erzählung überladen (und stellt sich nicht jeder Leser eine Lederhose schon von alleine speckig vor?), sorgen ausufernde Beschreibungen für (zu viel) Atmosphäre, so zum Beispiel die Beschreibung eines Flügels:

„Nichts Protziges, kein Renommierstück in schwarzweiß funkelnder Abendgarderobe, sondern ein braves braunes Gerät von behaglichen eins sechzig Metern Länge aus dem Leipziger Hause Blüthner, mit gedrechselten Säulchen und Perlmutteinlage über der Tastatur, geschaffen für jene halb private und halb öffentliche Praxis, die man mit dem schönen Wort Hausmusik bezeichnet. Er stand in dem kleinen Saal im hinteren Teil des Hauses, auf einem niedrigen Podest, in das man links und rechts je drei Stufen eingelassen hatte, als behäbiger Mittelpunkt einer etwas zerzausten Schar, bestehend aus einem Buffetschrank an der Wand, hinter dessen Glasscheiben zerfledderte Stapel von Notenbänden lagerten, aus einer Gruppe zusammenfaltbarer Notenständer, die ihre dürren Metallarme umständlich in alle Richtungen reckten, sowie aus einem in feldgraues Leinen gehüllten Violoncello, das einst dem Professor gehört hatte und seit dessen Ableben nebst Bogen stumm und plump an einer Hakenleiste an der Wand hing.“

Die detailreichen Beschreibungen sowohl der Personen als auch der Orte und Dinge machen mich nach etwa 50 Seiten sehr ungeduldig, Abbruch bei S. 68, mich interessiert das leider nicht weiter. Vielleicht ist es einfach zu heiß und zu schwül für so viel Dichte. Wem fabulierende Texte gefallen, der wird diesen Roman wahrscheinlich toll finden. Mir ist das Ganze manchmal einfach zu Käpt’n Blaubär: „Aus dem dünnen Frühnebel ragte mir eine Ecke des scheinbar verlassenen Gasthofgebäudes entgegen wie ein algenbehangener Schiffsbug. Ich fror mit einemmal unter meinem dünnen Mäntelchen.“

Prognose für den Bewerbstext, wenn er diesem Roman ähnelt: solide, fehlerlos recherchiert, wenig experimentell, leider aber auch sehr ausstaffiert. Durchaus ein möglicher Kandidat für einen Preis, ich sehe die Jury sowas mögen, sie werden sagen, wie schön das erzählt sei und so.

Unklare Physiognomie: eine sandige Kinnlade.

Freundliches Organ: Nase („Seine Nase war ein freundliches, durchaus kräftiges, dabei aber eher abgeplattetes Organ.“)

tddl 2011 [juroren und autoren].

Antonia Baum: Hubert Winkels
Michel Božiković: Hildegard E. Keller
Nina Bußmann: Paul Jandl
Gunther Geltinger: Alain Claude Sulzer
Maja Haderlap: Daniela Strigl
Thomas Klupp: Hubert Winkels
Steffen Popp: Meike Feßmann
Anna Maria Praßler: Burkhard Spinnen
Julya Rabinowich: Daniela Strigl
Leif Randt: Alain Claude Sulzer
Linus Reichlin: Meike Feßmann
Anne Richter: Hildegard E. Keller
Maximilian Steinbeis: Burkhard Spinnen
Daniel Wisser: Paul Jandl

tddl 2011 [erste vorbereitungen].

Während Spanien von Deutschland wegen des Rumgurkens enttäuscht ist, bin ich alles andere als enttäuscht von Spanien: die Polizei in Barcelona hat elf Monate nach dem (ungemeldeten, weil erst in Frankreich bemerkten) Diebstahl unserer Kamera selbige bei einer Festnahme inmitten von lauter Diebesgut sichergestellt, sich die Fotos angesehen, auf einem Bild vom Pool entdeckt, dass der Name des Ferienhauses in den Beckenrand eingefliest war, die Besitzer des Ferienhauses in England ergoogelt und ihnen das auf dem Chip gespeicherte Datum des Poolbildes gemailt, die Besitzer machten uns aufgrund des Vermietungszeitraums als Besitzer der Kamera aus, leiteten uns die Mail der Barcelonaer Polizei weiter (gmail-Account, wtf? Ist aber wirklich die Polizei) und nun bekommen wir nach Kommunikation zwischen London, Berlin und Barcelona tatsächlich unsere Kamera samt aller verloren geglaubten Urlaubsbilder zurück. (Ich stelle mir vor, wie die Polizei sich durch 500 Bilder klickt, um irgendwie herauszufinden, wem die Kamera wohl gehören könnte, das ist also Polizeiarbeit, Tatort, take that.)

Aber ich wollte über den Bewerb schreiben, der dieses Jahr unverschämterweise nicht im Juni stattfindet. Man hat ihn in den Juli und damit in die Sommerferien verschoben, wenn ich vollauf mit Johnchenmann beschäftigt bin und keine Zeit für den Bewerb habe.

(Wieder mal eine schöne Frage von Denis Scheck in der letzten Sendung Druckfrisch: „Stören Kinder beim Denken?“ Schade, dass Hannelore Schlaffer keine Kinder hat und die Frage daher nicht beantworten konnte. Katzen stören jedenfalls nicht beim Denken, sagte sie. Das glaube ich gerne, ha.)

Werde ich den Bewerb also dieses Mal ganz sich selbst überlassen? Zuerst dachte ich das, dann aber konnte ich natürlich der Versuchung nicht widerstehen, mir die Autorenliste anzusehen. Die haben dieses Jahr lustige Nachnamen wie Klupp und Popp, unmöglich, das so einfach zu ignorieren! Autoren wurden entwurzelt und umgetopft (Rabinowich) und studierten Theaterwissenschaften (Haderlap), was meinen ehemaligen Dozenten Schwind sofort auf die Palme gebracht hätte, ich sehe ihn vor meinem inneren Auge im Mainzer Philosophicum explodieren: „Es gibt nur eine Theaterwissenschaft! Woher soll dieser Plural kommen? Was sind denn das für verschiedene Wissenschaften? Wer hier meint, er studiere Theaterwissenschaften, der kann gleich nach Hause gehen.“

Unmöglich, den Bewerb ganz sich selbst zu überlassen. Also klickte ich gleich weiter zu Vöbb und suchte mir mein Vorbereitungspaket zusammen, das wird einem durch das Internet heute aber auch alles viel zu leicht gemacht. Die Bibliotheks-Schlagwörter zu Thomas Klupps „Paradiso“ übrigens: Junger Mann ; Reise ; Bindungslosigkeit ; Belletristische Darstellung. Die Inhaltsbeschreibung: Der junge Ich-Erzähler fährt per Anhalter nach München. Auf der Fahrt trifft er Menschen unterschiedlicher Art. Diese Begegnungen sind willkommener Anlass, die eigene unreife Lebens- und Wertewelt auszubreiten.

Habe ich natürlich sofort bestellt, die Ausbreitung unreifer Lebens- und Wertewelten. Das macht der Bewerb mit einem.

Anzahl der Inselschreiber im Bewerb: 1 (Geltinger). Wir werden zur Zeit des Bewerbs auf Texel sein, angeblich mit Internetanschluss, also theoretisch mit Stream-Möglichkeit. Solange ich noch keine inhaltlichen Aussagen treffen kann, ist Geltinger wegen Inselkoinzidenz mein vorläufiger Favorit.

Erste Lektüre nun: „Pascolini“ von Maximilian Steinbeis

tddl 2009 [der erste nachmittag.]

Den Nachmittag musste ich wegen des Klassenfestes gestern Abend nachholen. Leider ist die Diskussion von Christiane Neudeckers Text nicht als Stream verfügbar, die Online-Redaktion hat da fälschlicherweise ein zweites Mal den Link zum Porträt verknüpft.

Zuerst aber Bruno Preisendörfer, der „Fifty Blues“ liest. Fängt mit einem Clown an, und dann gesellt sich „der liebe Gott“ dazu. Schon auf der ersten Seite wird klar, dass es sich hier um einen sehr zynischen Text handelt, der vor lauter Zynismus ins Kindische driftet. Ein frustrierter, seine Patienten verachtender Psychotherapeut wird fünfzig Jahre alt wird, sieht sich beim Rasieren im Spiegel und macht sich dazu seine welt- und menschenverachtenden Gedanken: so der Umriss des Textes, zeitlich spielt er nur zwischen der Rasur und dem Eintreten in seine Praxis. Bevor der erste Patient eintritt, legt er noch ein Kissen zurecht und „verpasst ihm einen Handkantenschlag“ (wer macht denn heute noch so was?), dann ist der Text auch schon zu Ende.

Ich sehe durchaus, dass der Text gut gearbeitet ist, so wird anfangs das Theodizeeproblem genannt, das dann immer wieder im Text vorkommt, ohne das es noch einmal spezifisch benannt wird, es zieht sich aber angenehm subtil durch den Text. Es gibt interessant gearbeitete Beziehungen zwischen Gott und Mensch: Gott ist 50 Milliarden Jahre alt, eine Allegorie darauf, dass der Protagonist 50 wird; Gott sieht auf die Welt, dann Perspektivwechsel zu einem Astronauten, der auf die Welt sieht – auch so was webt sich durch den Text, Beziehungen Gott-Mensch, nah-fern etc. Abgesehen davon, dass es für meinen Geschmack stellenweise zu viele extreme Adjektive gibt („Die Phantasien waren keine kristallklare Quellen oder silbrige Bächlein oder begradigte Flüsse, es waren trübe Ströme“ – das ist mir zu plakativ), also abgesehen von so Kleinigkeiten finde ich den Text auch gut geschrieben. Aber, und jetzt kommt mein großes Aber: mir gefällt der Erzählton des Textes überhaupt nicht. Der Therapeut hasst seine Patienten (wie es an einer Stelle auch explizit heißt), er würde dem einen am liebsten „ins schmallippige Gesicht lachen“ (auch so eine Formulierung, die ich nicht gerade glücklich finde). Natürlich hat er nur Patienten, die geradewegs den gängigen Klischees entsprechen.

Die misanthropischen Gedanken, die sich ein miesepetriger alternder Mann beim Rasieren macht, interessieren mich überhaupt nicht. Dazu kommt, dass der Erzähler dabei auch noch einen so besserwisserischen Ton anschlägt, als würde er mit einem Kind reden. Das Theodizeeproblem wird anfangs beispielsweise erklärt: „So nennen Theologen die Frage: Wie lässt sich bei all dem Bösen ein guter Schöpfer rechtfertigen?“ Der Erzähler erklärt uns sogar, dass z.Zt. die Abkürzung für „>zur Zeit<“ ist. Man hat die ganze Zeit das Gefühl, der Erzähler spricht mit einem Achtjährigen. Ich dachte, der Autor versteckt gern Trüffeln in seinem Text, wie er im Videoporträt sagte: nun, hier wird alles erklärt, da werden noch die sieben Todsünden aufgezählt. (Und ja, ich weiß, dass genau das Methode ist.)

„Über die chinesische Mauer hatte er als Junge Bücher gelesen. Deshalb wusste er, dass man sie vom Weltraum aus sehen konnte. Das hatte ihn sofort überzeugt.“ Das mag ihn als Jungen ja überzeugt haben, aber als Erwachsener kann er ja mal goggeln, dass das eine Legende ist. Diese Legende zieht sich ausgerechnet, ungefragt und unkorrigiert, als Leitmotiv durch den Text, und erhält dadurch stetig diese Kindperspektive. Warum sagt die Jury dazu nichts?

Auch wenn er bewusst eingesetzt ist: dieser bevormundende Erzählton, die herablassende Haltung des Erzählers (ich vermute, sie soll den Zynismus verstärken), gefällt mir gar nicht. Dazu kommen ja noch so Sachen, wie die Erde als blaue Kartoffel zu bezeichnen, Gott, der sich als Couch Potatoe bezeichnet und mit der Fernbedienung durch die Zeiten zappen kann – ach nee, das ist mir alles wirklich zu albern.

Bei diesem Text geht es mir wie Mangold es vorher einmal sagte: ich fühle mich benutzt. Ich möchte beim Lesen nicht als Müllhalde für den Zynismus eines alternden Mannes herhalten. Seine Patienten laden ihre Last bei ihm ab, und er lädt seine Last beim Leser ab, gähn. Dass dieser Protagonist so an sich und dem Leben leidet, ist eine Sache. Man darf auch sehr unsympathische Protagonisten erschaffen, alles keine Frage. Aber, wenn es Literatur sein soll, bitte einen neutralen Erzähler, statt einen, der diesen Zynismus noch verstärkt. Der Autor missbraucht den Erzähler dafür, die Figur des Protagonisten deutlicher herauszuarbeiten, das finde ich literarisch fragwürdig. Warum kann er den gewünschten Effekt nicht an der Figur selbst herausarbeiten, warum braucht er einen dummen Protagonisten /und/ einen dummen Erzähler?

In einer Passage heißt es: „Vor dem Tod sind alle gleich, sagten sie. Sie drückten sich ungenau aus. Was sie meinten war: Nach dem Tod sind alle gleich.“ Das ist doch Quatsch: das Vor ist in dieser Redewendung nicht zeitlich benutzt, sondern räumlich, und es heißt genau das, was es sagt: Vor dem Tod sind alle gleich, und eben nicht /nach/ dem Tod. Versteht das nur der Protagonist nicht, oder auch der Erzähler nicht: das weiß man ja nun nicht, wenn es keine Distanz zwischen ihnen gibt. Mir gefällt das nicht.

Christiane Neudecker las dann den Text „Wo viel Licht ist.“ Ich war vorher skeptisch, weil mir der Erzählungsband „In der Stille ein Klang“ ja nicht so gefallen hatte. Umso schöner, im Bewerb dann so angenehm überrascht zu werden. Wie bei Preisendörfer ist es ein schön gearbeiteter Text, mit dem Leitmotiv des Lichtes, das sich in vielen guten Variationen virtuell, architektonisch, metaphorisch durch den Text zieht. Die in Hongkong spielende Geschichte und die Thematik des Schattens haben eine Doppelbödigkeit, weil alles zu einer Frau in Deutschland in Beziehung steht, von der sich der männliche Protagonist vor seiner Abreise nicht mehr verabschieden konnte. Die ganze Erzählung ist sehr schön angelegt, etwa bei der Hälfte erfolgt der erste große Einbruch: der Schatten der Hand verselbständigt sich zum ersten Mal. Nun ahnt man, wohin die Reise geht, aber trotzdem schafft es die Autorin, den Schwebezustand vor dem antizipierten Zusammenbruch noch seitenlang zu halten und zu entwickeln, bevor das erwartete „Blackout“ am Ende kommt. Das ist einfach wirklich gut erzählt, spannend, aber dennoch auch formal ansprechend und gut gearbeitet. Mir gefällt auch diese Mischung aus „Tim Thaler“ und dem „Lost in translation“-artigen Topos der asiatischen Großstadt. Meiner Meinung nach der beste Text des ersten Tages.

Mein Ranking des ersten Tages:

Christiane Neudecker
Karsten Krampitz
Bruno Preisendörfer
Lorenz Langenegger
Philipp Weiss

tddl 2009 [der erste morgen.]

Beginn mit Lorenz Langenegger, von dem ich mir ja eine andere Art Text erhofft hatte als im Roman „Hier im Regen.“ Er liest „Der Mann mit der Uhr“, einen Text, der aber leider die gleichen Probleme aufweist wie „Hier im Regen.“ Muss ich also eigentlich nicht viel dazu schreiben, habe ich hier vor ein paar Tagen schon formuliert. (Bemerkenswerter Satz: „Er raffelte einen Apfel.“ Sagt man das in der Schweiz?)

Die Jury ist erstaunlich verhalten, aber da es so viele neue Mitglieder gibt, muss die Jury sich erst beschnuppern. Neue Mitglieder: Meike Feßmann und Karin Fleischanderl zurückhaltend, Paul Jandl wünscht sich mehr städtische Wirklichkeit und weniger Abdriften ins Putzige, sehr gut. Keller: Beschaulichkeit zwischen Kontemplation und Stagnation, meint das positiv als österreichisches Lokalkolorit.

Danach Philipp Weiss mit einem Text, der mich auch überhaupt nicht überzeugt: „Blätterliebe.“ Der Protagonist ist ein empfindlicher Schriftsteller, der an seiner Arbeit leidet, und deshalb in die Notaufnahme rennt, was könnte schlimmer sein. Inhaltlich völlig uninteressant, aber formal? Viel indirekte Rede. Wiederholungen als Stilmittel, aber nervtötend. Zum Beispiel spricht der Arzt ständig „mit hoher Stimme.“ Nach dem vierten Mal frage ich mich, was das wohl für eine besonders hohe Stimme sein muss, und was mit diesem Arzt los ist. „Spieglein, Spieglein, sagte der Arzt mit hoher Stimme, kicherte und beugte sich zu mir hinunter. Wir müssten nun eine klitzekleine Spiegelung vornehmen, wir müssten mir in aller Kürze ins Innerste blicken, sagte der Arzt und wedelte mit einem Schlauch vor meinem Gesicht.“ Klitzekleine Spiegelung? Wedelt mit dem Schlauch? Weiteres Stilmittel: Gegensätze/ Paarungen. Links-rechts, lieben-hassen, Zwillingsschwestern, schreien-lachen usw. Derweil „nimmt sich der Arzt die Brille von der Nasenspitze.“ Sind wir hier bei der Feuerzangenbowle?

Die Jury ist nun etwas schwungvoller. Ijoma Mangold mit einer hervorragenden Kritik: die durchaus vorhandene Fingerfertigkeit des Autors (z.B. humoristisches Moment) nervt, weil man den Mechanismus (Konjunktiv, indirekte Rede, Wiederholungen) sehr schnell begreift, man fühle sich schnell benutzt. Hildegard Keller scheint es, als habe der Text etwas Metaliterarisches, sei vielleicht ein hinterhältiges Märchen auf den Bachmannpreis.

Statt eines Kommentars dupliziert der Autor in der Wirklichkeit seinen Text, in dem sich am Ende das Papier des Protagonisten im Beutel seines Mageninhaltes fand, und so isst der Autor denn auch seinen Text. Keller hatte vielleicht nicht Unrecht mit dem hinterhältigen Märchen auf den Bachmannpreis, aber dennoch gefällt mir das nicht. Der Autor ist 27, Langenegger 29. Was ist mit dieser Generation, wollen die alle die These der Akzeleration widerlegen?

Karsten Krampitz liest einen Auszug aus der Novelle „Heimgehen.“ Mir gefällt sein Text, DDR-Geschichte, endlich mal was Handfestes, endlich mal Dialoge statt indirekter Rede, endlich mal ernstzunehmende Handlung. Dazu noch Dialekt und alles hervorragend vorgetragen. Ein Lichtblick.

Die Jury ist skeptisch. Sulzer ist nicht überzeugt, Meike Feßmann auch nicht, Jandl kann nicht das Politische erkennen, das ihn interessiert hätte – ein guter Einwand. Fleischanderl empfindet eine deutsche Biederkeit, mit der der Autor hundertprozentig identifiziert sei. Sie hat den Text nicht verstanden. Während Paul Jandl, Meike Feßmann und Hildegard Keller (die allerdings kaum noch Deutsch sprechen kann) gute neue Juroren zu sein scheinen, bin ich bei Karin Fleischanderl sehr skeptisch (sie hatte ja auch Philipp Weiss eingeladen). Alain Claude Sulzer hat den Text nicht nur nicht richtig gelesen (Stasi-Spitzel-Frage hat er verpasst), er hat sich sogar so wenig damit befasst, dass er nicht weiß, dass der Text auf einer wirklichen Person beruht. Wundere mich immer wieder, wie unvorbeiretet unbedarft die Leute (gestern Stadler, heute Sulzer) in den Bewerb gehen. (Satz: „Mein Erzähler war kein Spitzel.“ / Krampitz empört)

Außerdem: ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber ich vermisse nach Moor und Stadler wirklich Ernst A. Grandits. Der war zwar immer ein bisschen schusselig, besonders bei der finalen Abstimmung, aber er hatte so eine angenehme Zurückhaltung, die dieser Moderatorenaufgabe sehr zu Gesicht steht. Mit Clarissa Stadler hat man nun eine Moderatorin, die zu allem eine Meinung hat, inhaltlich viel zu sehr eingreift, da ist sie keine Moderatorin mehr, sondern gebärdet sich als zusätzliches Jurymitglied, besinnt sich dann hier und da auf ihre Aufgabe, korrigiert sich sogar („Wir haben diskutiert … äh … Sie haben diskutiert“). Sie hat Burkhard Spinnen den Juryvorsitz quasi aus der Hand gerissen. Mal sehen, ob das morgen noch genauso ist, oder ob sie ein paar dezente Hinweise erhält.

tddl 2009 [die eröffnung.]

Die „Rede zur Literatur“ von Josef Winkler war bemerkenswert. Farblich abgestimmt mit der mehrfach in der Rede erwähnten, rosaroten Hausmauer von Ingeborg Bachmanns Haus in Klagenfurt (z.B.: „und während ich in der Henselstraße vor dem Haus von Ingeborg Bachmann stehe und auf den Rosenstrauch an der rosaroten Hausmauer schaue“) trägt er ein rosarotes Ensemble aus rosa Hemd und roter Hose. Die Rede kulminiert furios in seiner Fassungslosigkeit über das lethargische Phlegma der Bevölkerung: „wie lange werden sich die Bevölkerung des Landes K. und die Bewohner der Stadt K. von diesen schamlosen und räuberischen Politikern, den Hausherrn des Landes Kärnten und den Hausherrn der Stadt Klagenfurt, noch ausbeuten lassen, wann werden sie endlich auf die Straße gehen und den Mund aufmachen, wie lange werden sie sich noch schweigend einrichten, wie lange noch werden sie demütig sein und sich lammfromm ausrauben lassen, bis sie vielleicht, die Bevölkerung und die Bewohner dieser Stadt und dieses Landes,  mit letztem großen Staunen vor ihren eigenen Eingeweiden stehen, die ihnen zu Füßen liegen werden.“

Bei der folgenden Auslosung der Lesereihenfolge treten die Autoren alphabetisch geordnet nach vorne. Nachdem Bruno Preisendörfer sein Los gezogen hat, beugt sich die neue Moderatorin Clarissa Stadler zum Justiziar und fragt leise: „Das war jetzt Preisendörfer?“ (Hat man interessanterweise aus dem Stream, der jetzt online ist, herausgeschnitten.) Seltsam, ich würde denken, wenn man so eine Veranstaltung über Tage moderiert, dann setzt man sich vorher mit den Autoren auseinander und kann sie auch erkennen. Ich habe mich ja schon so sehr damit auseinandergesetzt, dass ich sie alle problemlos erkannt habe – und ich bin noch nicht einmal in Klagenfurt. Also, ich erwarte von einer Moderatorin eigentlich mehr. Außerdem kommentiert sie bei jedem Autor, wohl aus einer gewissen Verlegenheit darüber, was sie sagen soll, ihre persönliche Meinung, ob er oder sie eine gute Zeit gelost hat, völlig unnötig, man ist doch nicht bei einem Kindergeburtstag. Clarissa Stadler muss man mal im Auge behalten.

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