fröhliche weihnacht in berlin. [vertrauen. würde. lebensfreude.]

Die Berliner sind in der Vorweihnachtszeit so rücksichtsvoll wie den Rest des Jahres auch. Bei der Metro sind alle Schwerbehindertenparkplätze von Autos belegt, die keinen dafür notwendigen Ausweis im Auto haben, später bei Ikea ebenso, wir kämpfen uns mit John durch den Tag. Als wir Nachhause kommen, steht ein fremdes Auto auf dem für unseren Schwerbehinderten-Parkausweis deutlichst reservierten Parkplatz, wir müssen weit weg parken. Das unberechtigt parkende Auto kommt ausgerechnet von einem Pflegedienst, an der Seite des Autos steht: „Vertrauen, Würde, Lebensfreude.“ Solche Tage muss man lieben.

Nach Ärger, Ärger und Ärger also rein ins Haus, im Briefkasten empfängt uns ein Brief der Hausverwaltung, wir werden wegen Lärmbelästigung abgemahnt, vermutlich zwei Parteien (lese ich so aus dem Brief, ist aber anonymisiert) hätten sich beschwert und empfänden die Lärm-Beeinträchtigungen durch John als so erheblich, dass sie nun ein Lärmprotokoll führten. Das Interessante ist, dass seit unserem Einzug noch nicht ein einziges Mal jemand etwas wegen Lärm zu uns gesagt oder hier geklingelt hat. Man geht lieber hinter unserem Rücken direkt zur Hausverwaltung.

Ich habe mit dem Paar gesprochen, das direkt über uns wohnt und das natürlich die größte Belästigung hat, aber die sagen mir, dass sie es nicht waren und dass sie das Ganze auch für unsinnig halten, weil sie John zwar hören, aber nicht meinen, dass der Lärm so unerträglich sei. Die sich beschwerenden Parteien sind weiter von uns weg, fühlen sich aber anscheinend „erheblich belästigt“, ohne uns das je gesagt zu haben. Wir versuchen natürlich immer, John so ruhig wie möglich zu halten und wir fahren auch am Wochenende viel weg, wir geben wirklich unser Bestes, der Brief ist ein Schlag in die Magengrube.

Nun muss ich die ganze Zeit daran denken, wer das wohl ist und wenn John laut ist, sehe ich automatisch auf die Uhr: „Samstag, 17:30 Uhr“, da macht nun also einer hier im Haus gerade eine Notiz in sein Protokoll. Menschen, die sich über Anonymität im Internet ärgern, sollten mal ausprobieren, wie sich Anonymität im Nachbarsleben anfühlt. Dieser Berliner Osten featured manchmal immer noch das DDR-Feeling.

Ich stelle mir vor: all die Menschen, die heute die Schwerbehindertenparkplätze blockierten, die deutlich reservierte Parkplätze besetzten, die Vermerke in ihre Lärmprotokolle machten, sitzen nun wahrscheinlich gerade vor der ZDF-Spendengala „Ein Herz für Kinder.“

Ein versöhnliches Foto als Abschluss eines Tages, den man nicht lieben kann, sondern am besten schnell vergisst: das Monsterküken im schönen Snow Tee:

life is the way the animal is in the world.

„It turns out: You are not your brain. You have a brain, yes. But you are a living being that is connected to an environment; you are embodied, and dynamically interacting with the world. We can’t explain consciousness in terms of the brain alone because consciousness doesn’t happen in the brain alone.“ [#]

(Danke, danke, danke, Alva Noë.)

stop thinking. [long nights and what we need to get through them.]

„When people  think of me as resilient in the face of adversity, what they are really seeing is that I’ve learned to surrender to a deeper strength and protection than my own. That I have learned to simultaneously try my best to survive, but not be afraid of either life or death.

Which means I am doing something quite different from the „trusting that things will work out“ […] that a lot of highly privileged people do. Their privilege lets them sail through adversity that could kill someone like me, and then claim that this is because the universe likes them a lot. Just, no. That’s an insult to everyone who doesn’t survive.  This is nothing like that. Danger for me is danger:  I could live or die, come out unscathed or heavily damaged, anything in between. What I trust is not that I will come out of everything squeaky clean, alive, and happy.  It’s rather that there’s a deep level of reality where even if I end up dead or damaged, my existence is connected to everything else and will always have happened.  It’s hard (impossible) to explain in words, but it comes down to a connection to a kind of goodness that is lending its strength to you even if the worst happens.

This kind of submission can sound passive, but it’s an active process. And it can change how you relate to the world and to people in it.“

(Aus Amanda Baggs‘ Beitrag zum Disability Blog Carnival, Thema dieses Jahr: „Long nights and what we need to get through them.“)

wherein lies value? perspective is everything.

Kim Wombles: „I know intimately the lump that exists in one’s throat when contemplating the future for our children. I endured the heartbreak of getting guardianship of my son when he turned 18 and we admitted that he would not achieve all that parents hope for their children. I suffered heartache as my students and my boy’s ages overlapped, until enough time elapsed and he became older than my freshman, and it became a pain lived with, worn in, comfortable, the way things were. I will not deny that parenting special needs children can be heartbreaking. It is. It hurts so severely, so deeply, that the pain is physical, overt, and overwhelming. That is a reality that should not be dismissed, swept under the carpet, or ignored.

It should not be where all the focus is, though, because it is not even half the story. Because of that ache, that pain, I have known transcendent joys. My children shine brightly and I am overwhelmed by the love that pulses in tandem with my heart beat that I have for them. I feel fiercely, intensely, completely, and I do so because of them.“ [#]

oma.

Die Tage vom Todestag am Donnerstag bis zum Montag waren für mich ein bisschen wie im Nebel vergangen. Am Montag hatte ich das Bedürfnis, mich auf den Abschied von meiner Oma vorzubereiten und kaufte eine neue schwarze Hose und einen schwarzen Pullover. Montag Nachmittag um halb fünf war ich in Kreuzberg und holte meinen Cousin von der Arbeit ab, der uns alle fahren wollte, gemeinsam sammelten wir meinen Onkel und meine Tante in Charlottenburg ein. Schon um kurz nach neun kamen wir am Haus meiner Oma in Emstek an. Zehn Minuten vor uns, dem Berliner Wagen, war das Auto aus Siegen gekommen, fünf Minuten davor der Wagen aus Heidelberg. Die Ravensburger riefen an, sie waren schon in Dortmund. Das Haus meiner Oma war voll von Verwandten, denn meine Oma hatte neun Kinder, zwanzig Enkelkinder und neunzehn Urenkel. Es gab Hühnersuppe.

Spät fuhr ich mit meinen Eltern nach Friesoythe, am nächsten Morgen gleich wieder nach Emstek, um meine Oma noch ein letztes Mal zu sehen. Nach zehn sollte der Sarg geschlossen werden, um zehn Uhr also trafen sich die, die sie noch sehen wollten, viele wollten sie lieber lebendig in Erinnerung behalten, so waren wir eine recht kleine Gruppe. Meine Oma sah auf den ersten Blick aus wie eine andere Person, mein erster Gedanke war, dass wir in einem falschen Raum waren, aber ich wusste ja, dass es der richtige Raum ist, und je genauer man hinsah, umso mehr konnte man meine Oma erkennen. Meine Tante zupfte an Omas Haaren herum, die noch nicht so aussahen, wie Oma sie immer getragen hatte. Um den Hals trug Oma eine Perlenkette, an den Händen einen schönen, roten Rosenkranz, den meine Eltern ihr aus Mexiko mitgebracht hatten. Wir konnten uns kaum überwinden, den Raum wieder zu verlassen, weil genau das der endgültige Schritt sein würde, danach kommt der Deckel auf den Sarg, dann wird man sie nie wieder sehen. Die Hände sahen noch genau so aus wie immer, das waren original Omas Hände, ich fand es schön, dass man ihr nicht die Fingernägel manikürt hatte, obenauf lag der Daumen mit dem etwas schief geschnittenen Nagel, genauso, wie er immer war. Ich hatte das Bedürfnis, sie noch einmal anzufassen und habe ihr zum Abschied die Hände gedrückt, die natürlich eiskalt und steif waren, aber es hat sich trotzdem gut angefühlt, meine Oma noch ein letztes Mal zu berühren.

Später dann das Rosenkranzbeten in der Leichenhalle, das Monotone daran, dessen Effekt mich immer wieder erstaunt. „Der für uns Blut geschwitzt hat“, wenn der schmerzhafte, der schlimmste unter den Rosenkränzen beginnt, erschrickt man sich noch kurz, aber dann entzieht das Monotone den Signifikanten das Signifikat, das ist auch bei der Gräbersegnung an Allerheiligen immer so, ich musste kurz an Saussure denken und mich über die Semiotik wundern. Die neu gebaute Leichenhalle ist insofern ein Segen, als man nach dem Rosenkranz an der Seite der Halle hinausgeht und nicht mehr zum Eingang zurückgehen und an allen anderen Besuchern der Beerdigung vorbeilaufen muss.

Draußen. Das Wetter war großartig, klare und kalte Luft bei Sonnenschein, die Blaskapelle in kleiner Choralbesetzung mit den schönen Tenorhörnern spielte etwas entfernt vom Grab, als wir von der Leichenhalle hinter dem Sarg zum Grab liefen, und gerade als wir in den Gang unseres Familiengrabes einbogen, zog ein Schwarm von Vögeln durch den blauen Himmel, in einem Film hätte man diese Vögel wahrscheinlich für eine zu perfekte Choreographie gehalten. Bei früheren Beerdigungen fand ich den Anblick des Sarges in der Erde immer sehr schlimm, natürlich auch dieses Mal, aber nicht auf die gleiche Weise, vielleicht, weil ich meiner Oma kurz vorher noch so nahe gewesen war.

In der Kirche kam der Pfarrer zur Predigt zu uns herunter und erzählte von meiner Oma, wie sie die ersten vier Kinder alleine durch den zweiten Weltkrieg bringen musste, der Mann im Krieg in Russland, und vieles mehr. Als Lesung wurde ein berührender Brief vorgetragen, den mein Opa zu Weihnachten 1945 aus der Gefangenschaft an meine Oma geschrieben hat. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, wie die Generation der Großeltern gelebt hat. Meine liebe Oma, sie war 92 Jahre alt und hatte drei sehr schwierige letzte Jahre, ein langes und erfülltes Leben und eine Erlösung also, aber dieses Wissen hilft ja nicht gegen die Trauer. Als der Pfarrer die Kommunion vorbereitete, musste ich wegen der Theatralik an Christoph Schlingensief denken, später dann auch an Wiebke, meine so früh verstorbene Mitschülerin. Ich musste daran denken, dass meine Oma am Martinstag gestorben war, und dass das der richtige Tag für sie war, der Tag des Heiligen der Nächstenliebe und des Teilens. Ich musste daran denken, wie sehr sie John geliebt hat, und er sie. Die beiden waren immer ein witziges Team, sie wurde immer kleiner und er immer größer, und sie hat immer mit ihm gesprochen, als könne er alles verstehen. Nur wenn er wild durch ihren geliebten Garten lief, war sie immer nervös und hatte Angst, dass er ihre Blumen zertrampelt, das sah man ihr an, aber sie hat es ertragen. Als wir im August das letzte Mal zusammen bei ihr waren, hat sie sich so gefreut ihn zu sehen, da hat sie sogar „John“ gesagt, obwohl sie eigentlich seit dem Schlaganfall gar nicht mehr sprach.

Über zweihundert Leute beim anschließenden Kaffeetrinken, und doch habe ich außer den unmittelbar betroffenen Familienmitgliedern fast niemanden gesehen. Meine Eltern erzählten mir später, wer alles dagewesen war, ich hatte es gar nicht bemerkt. Nach der Beerdigung gingen wir wieder ins Haus meiner Oma und blieben bis abends um neun. Am Auto bemerkte ich, dass ich meine Tasche vergessen hatte und ging noch einmal zurück. Ich klingelte und musste in dem Moment daran denken, dass das ganz typisch Omas Klingeln war, sie hat diese laute Klingel, die durch den Flur hallt, ich kenne sonst niemanden, der so eine Klingel hat. Meine Cousine hat einen Text über meine Oma geschrieben, in dem sie auch die Klingel erwähnt, es muss uns also allen so gegangen sein, dass diese Klingel irgendwie unsere Oma ankündigte. Jeden Sonntag haben wir meine Oma besucht, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, die ersten neunzehn Jahre meines Lebens habe ich also jeden Sonntag diese Klingel gehört, und später dann auch an jedem Sonntag, an dem ich Zuhause war, denn Sonntag war Omatag, so viel war immer klar. Oft würde ich diese Klingel nun nicht mehr hören, wohl aber am nächsten Morgen, als meine Eltern mich ein letztes Mal zu Omas Haus brachten, wo Wagen für Wagen verabschiedet wurde, so wie zwei Tage vorher Wagen für Wagen angekommen war, aus allen Richtungen Deutschlands, nun also zurück in jedermanns neue Heimat. Wie wird das wohl werden, wenn der Dreh- und Angelpunkt, das Herz einer großen Familie nicht mehr da ist, die Frau, die bis zum Ende alle zusammengeführt hat? Mein ältester Cousin hat zum Glück schon beim Kaffeetrinken kleine Visitenkarten verteilt, die das erste Treffen der Großfamilie im nächsten Jahr ankündigen.

herbst.

Die Idylle trügt: zweimal schon hat John meine Stricksachen erwischt und die Nadeln rausgezogen, so langsam verlässt mich die Motivation des immer neuen Anfangens, und Zuhause sein können wir sowieso erst nach 18 Uhr, vorher muss es den ganzen Tag Programm geben.

Da John sich in der Wohnung nicht beschäftigen kann, sind wir immer auf der Flucht: Waldspaziergang in Beelitz, Cecilienhof in Potsdam, Wanderung auf den Wehlaberg, Rundgang um die Pfaueninsel, Tagesausflug nach Dessau, Spaziergänge im Wildgehege Glauer Tal und im Naturpark Schöneberger Südgelände am Priesterweg. Im Umkreis von 100 km haben wir schon alles abgegrast, wir könnten ein Buch „Ausflüge in und um Berlin“ herausgeben.

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