tddl 2013 [joachim meyerhoff & zé do rock]

Mit Zé do Rock konnte ich mich nur mäßig anfreunden. Im Einzelnen war „jede sekunde stirbt ein nichtraucher“ oft lustig, einfallsreich, spielerisch, aber auf Dauer hat es mich dann doch eher ermüdet. (Ich bin aber gespannt auf den Unterhaltungswert. Aus irgendeinem Grund musste ich gleich an Bodo Hell und die Maultrommel aus dem Bewerb 2006 denken.)

[Schöne Definition aus „jede sekunde stirbt ein nichtraucher:“ „befehl – eine bitte wo das ‚bitte‘ fehlt.“]

~

Sehr gut fand ich Joachim Meyerhoffs „Alle Toten fliegen hoch. Teil 1: Amerika.“ Ich las es gleich nach Nikola Anne Mehlhorns „Salzflut.“ Nach deren abgehackten Stil und permanent wertender und abwertender Haltung empfand ich die ausformulierten, ruhig auch mal längeren, dabei aber immer sehr klaren Sätze von Meyerhoff als eine Wohltat. Auch gefiel es mir sehr, dass der Text überhaupt nicht so gewollt bedeutungsschwanger ist, dabei aber immer sehr wohl Tiefe hat. Der Blick auf das Erzählte bleibt gänzlich ohne Bewertung und so kann Meyerhoff absurde Vorkommnisse oder Charaktere erzählen, ohne dass diese dabei bloßgestellt werden. Das ist alles sehr schön gemacht. Ich freue mich schon auf den zweiten Teil, den ich mir gleich in der Bibliothek bestellen werde, wenn ich nach Berlin zurückkomme. Ich erkläre Joachim Meyerhoff hiermit für meine Begriffe zum ersten heißen Bewerbsanwärter.

tddl 2013 [autoren und juroren].

Es ist bald wieder soweit, der Bachmannpreis naht. Hier eine Übersicht, welche Jurorin welche Autorin eingeladen hat [Ausprobieren des generischen Femininums].

~

Larissa Boehning: Meike Feßmann
Hannah Dübgen: Juri Steiner
Roman Ehrlich: Paul Jandl
Verena Güntner: Paul Jandl
Heinz Helle: Daniela Strigl
Nadine Kegele: Burkhard Spinnen
Benjamin Maack: Hubert Winkels
Nikola Anne Mehlhorn: Juri Steiner
Joachim Meyerhoff: Hildegard E. Keller
Anousch Müller: Meike Feßmann
Katja Petrowskaja: Hildegard E. Keller
Zé do Rock: Burkhard Spinnen
Philipp Schönthaler: Hubert Winkels
Cordula Simon: Daniela Strigl

~

#tddl13

Ich habe mir sechs Bücher aus der Berliner Bibliothek mit nach Prag genommen, wo ich meine Zeit gerade mit einer Gruppe alternder Blumenkinder verbringe, denn meine Reisegruppe besteht komplett aus Berkeley-Alumni. Als ich heute eine Dame fragte, wie es ihr gehe, sagte sie: „I feel a little discombombulated today.“ Das ist doch mal eine onomatopoetische Antwort. „I feel a little discombombulated today,“ das sage ich demnächst auch mal. Bisher habe ich nur ein Buch für den Bewerb gelesen, nämlich den kleinen Band „Salzflut“ von Nikola Anne Mehlhorn, eingeladen vom neuen Jury-Mitglied Juri Steiner. Leider hat mir „Salzflut“ gar nicht gefallen, mehr dazu vielleicht später noch.

far from the tree.

Ich lese gerade Far from the Tree von Andrew Solomon. Auf 962 Seiten porträtiert Solomon Familien mit Kindern, die auf die eine oder andere Weise anders sind als ihre Eltern. Die Prämisse des Buches ist, dass Kinder und Eltern in vielerlei Hinsicht ähnliche Erfahrungsgrundlagen haben, vertikale Identitäten, wie Solomon es nennt, und dass sich Veränderungen ergeben, wenn es entscheidende Bereiche gibt, in denen das Wesen sehr unterschiedlich ist, horizontale Identitäten. Das sind im Buch zum Beispiel Gehörlosigkeit, Kleinwüchsigkeit, Down-Syndrom, Autismus, Schizophrenie, Schwerstmehrfachbehinderung, Wunderkinder, Kind nach Vergewaltigung, Transsexualität.

Was für ein Aufwand dahinter stecken muss, all diese Themen zu recherchieren und Familien kennen zu lernen. Solomon umgeht viele Fallen, zum Beispiel sprachlicher Art. Er versteht die Diskurse rund um die Behindertenrechtsbewegung, er hat sich wirklich da rein begeben. Es gibt viel Positives über das Buch zu sagen, aber es gibt auch ein paar Probleme. Jessa Crispin hat geschrieben, dass sie über die Mütter nicht hinwegkommt. Sie seien ihr zu wenig ambivalent, und das geht mir genauso.

Andererseits ist genau das auch ein Problem, das ich beim Schreiben meines eigenen Buches habe. Es ist wahnsinnig schwierig, Ambivalenz auszudrücken, ohne respektlos gegenüber dem Kind zu sein. Mein Agent sagte mir mal, dass die Schwierigkeiten mehr Platz bekommen sollten, weil ich doch im Exposé ausdrücklich sage, ich wolle über beide Seiten schreiben. Das stimmt, aber es ist heikel, weil ich das Schwierige nicht John anlasten möchte. Ich glaube, ich habe in der Zwischenzeit einen Weg gefunden, aber das hat gedauert, und ob es wirklich gelungen ist, kann ich natürlich auch nicht beurteilen.

Es gibt anscheinend, wenn man über horizontale Identitäten nachdenkt, so etwas wie typische Fallstricke, oder typische blinde Flecken. Nicht ohne Grund gibt es bestimmte Narrative, wie die verzweifelte Betroffenheitsliteratur oder umgekehrt die Heile-Welt-Erfolgsgeschichte. Ohne Ambivalenz ist es deutlich einfacher.  

Einen weiteren Punkt, den Jessa nennt, habe ich auch so empfunden: dass Solomon in seiner eigenen Geschichte (seine horizontale Identität ist, dass er schwul ist) Details zu sehr aufbläst, zum Beispiel, dass er als kleiner Junge einen pinkfarbenen Luftballon haben wollte, aber die Mutter ihn dazu überredete, einen blauen zu nehmen. Als er es das erste Mal erzählte, fand ich das interessant. Das Problem ist, dass er das Beispiel immer wieder bringt. Irgendwann denkt man sich: „Get over the balloon, already“, aber das ist natürlich unfair. Offensichtlich ist es ihm so wichtig, dass er es wiederholt erzählt. Das Problem ist ein Hang zur Überbetonung, dem man, glaube ich, ganz leicht erliegt. Zumindest habe ich auch das bei mir selbst bemerkt. Überbetonung wird irgendwann eher kontraproduktiv. Wenn man ständig auf der Andersheit rumreitet, dann erschwert das eine Akzeptanz eher, als es sie erleichtert. Man vergrößert damit ja auch einen imaginären Graben.

Noch ein blinder Fleck, der mir bei mir aufgefallen ist, ist, dass John leicht zu blass bleibt. Weil er nicht spricht und ich nicht weiß, was er denkt und fühlt, ist es schwierig. Ich kann und will ihm nichts in den Mund oder in den Kopf legen, ich kann nur von außen betrachten, meine Beobachtung schildern, versuchen zu verstehen. Das ist manchmal etwas mühsam, glaube ich. Das Problem war am Anfang sehr groß, ich glaube, so langsam bekomme ich das besser in den Griff.

Erstaunliche Dinge ergeben sich beim Schreiben, es gibt so viele unerwartete Aspekte, die tatsächlich auch zurückreflektieren auf meine Wahrnehmung unseres Lebens. Das Buchprojekt hat sich über die Zeit, fünf Jahre arbeite ich nun schon daran, immer wieder verändert. Zwei Jahre lang habe ich fast nur recherchiert und gelesen, und dann dachte ich, ich hätte einen ziemlich guten Überblick über den Autismusdiskurs und habe alles mögliche dazu aufgeschrieben, aber dann funktionierte das irgendwie nicht. Es war erstens mal viel zu akademisch (wahrscheinlich, weil ich dem Schreiben an der Uni noch zu nah war) und außerdem war es mehr oder weniger eine Zusammenfassung des Diskurses. Das war so ein bisschen meh.

Es fehlte auch deutlich das Persönliche, das wurde mir mit der Zeit immer klarer. Ich hatte das alles ja nicht grundlos recherchiert und gelesen und geschrieben, sondern weil es mich zutiefst betrifft. Ich dachte immer mehr, dass es eigentlich feige ist, sich hinter einer totalen Sachperspektive zu verstecken, als behandele man das jetzt mal eben alles ganz distanziert, wissenschaftlich oder journalistisch. Das war es ja nicht. Also schmiss ich alles über den Haufen und nahm das Persönliche rein, und dann stieß ich auf ganz viele Probleme. Wie schnell das nach Jammerei klingt, oder nach Eigenlobhudelei, wie öde viele Themen sind (ich sage nur: Schulsuche), wie schnell man Wertungen vornimmt, wo sie gar nicht gemeint sind. „Man Wertungen vornimmt“? Auch das: wie schwer es ist, im Text ein starkes Ich zu entwickeln, ohne zu viele Ironien oder zu viel Um-den-Brei-Schleichen, weil /man/ nicht sagen möchte, was /man/ denkt. Andererseits natürlich, sobald das Ich im Text stark ist, die Gefahr, dass das in eine zu starke Betroffenheitsperspektive abrutscht.

Jetzt bin ich bei der Halbzeit der englischen Version, doktere an den sieben angeblich fertigen Kapiteln aber ständig noch rum, sobald mir wieder auffällt, wo noch ein Fallstrick liegt. Eigentlich sollte ich das mal in einer Lesegruppe vorstellen und Kritik erbitten, denn alle blinden Flecke kann ich nicht selbst finden, sonst wären sie ja keine blinden Flecke. Wenn jemand eine Idee hat, wo das mit einem englischen Text in Berlin möglich wäre, bitte gerne melden.

Im Großen und Ganzen ist das Buchprojekt mittlerweile, und gerade innerhalb der letzten vier Wochen, viel persönlicher geworden, als ich es gedacht hatte. Ich kann glücklicherweise viel von meinem alten Text einbinden, und trotzdem wird es jetzt ganz anders. Manchmal ist das toll. Manchmal aber auch eher nicht, denn es bleibt natürlich immer die Frage: will ich dies oder das wirklich erzählen. (Da geht es mir wie Caro.) Vielleicht ist es tatsächlich eine ganz gute Schicksalsfügung, dass kein Verlag daran interessiert ist. So als Selbstpublikation und Print-on-Demand ist es auch in der eigenen Wahrnehmung niedriger aufgehängt. (Immer, wenn ich zweifle, weil wir nur Absagen bekommen, sagt Scott: „Who cares, we’re doing this for us.“)

Halbherzig funktioniert es jedenfalls für mein Gefühl nicht. Ich habe kürzlich das Buch Familienstand: Alleinerziehend gelesen. Es gibt kein Ich in dem Buch, und zudem ist alles pseudonymisiert und anonymisiert. Es gibt ein paar Flüchtigkeitsfehler in diesem Prozedere, ein Sohn wird zur Tochter (S. 78), eine Kathrin V. zu Kathrin M. (S. 99), eine Mutter, die in Leipzig wohnt, wird auf Berlin bezogen (S. 105), das ist mir jeweils sofort ins Auge gefallen, weil ich innerlich so sehr damit gehadert habe, dass das so wenig echt oder aufrichtig schien. Außerdem fehlte mir sehr die persönliche Perspektive der Autorin. Natürlich verstehe ich, dass die Mütter sich nicht so exponieren möchten, ganz klar, aber was bleibt dann am Ende? Deshalb und umso mehr weiß ich es zu schätzen, dass sich im Buch von Andrew Solomon die Familien diesem Projekt mit ganzem Herzen zugewendet haben. Das kann nicht einfach gewesen sein, und das respektiere ich sehr.

dispatches from ‚tumorland.‘

Mortality is not the sustained Socratic mediation on the human condition that the title might suggest. It is, rather, made up largely of just this sort of carefully reported, drily ironic dispatches from the sick country (or “Tumorland,” as Hitchens comes to call it) — meticulously recording both the physical symptoms of rapidly encroaching decay, and the feeble human effort to assimilate them into whatever semblance of a recognizably normal life may still remain. At its heart, this slender volume is a prolonged and painful study in cognitive dissonance, as the robust, high-living and (yes) terminally witty Hitchens records the galloping dissolution of his health and consciousness — the two things that humans almost have to take for granted in order to function in any reliable fashion.“
[Chris Lehmann über Christopher Hitchens, Los Angeles Review of Books]

the chattering mind.

„But now suddenly it occurs to me that by far the main protagonist of twentieth century literature must be the chattering mind, which usually means the mind that can’t make up its mind, the mind postponing action in indecision and, if we’re lucky, poetry.“ [#

the internet has been amazing for book talk.

„The Internet has been amazing for book talk. There is more of it, and at a higher quality, than perhaps at any other moment, certainly in my lifetime. Dinosaurs love to lament the lost space in newspaper book reviews; a few years ago, the National Book Critics Circle fought, what seemed to me, a self-serving campaign to save the book review, by which a handful of people really wanted to save their right to sell the same lame 450-word book report to a handful of regional dailies. You didn’t have to bother reading the book to write many of those reviews, and as a one-time daily books editor myself, who once assigned reviews to some of those active in this debate, it was clear that many critics did not. Now we have the Rumpus and the Awl and the Millions and the Morning News and Maud Newton and Bookslut and the Nervous Breakdown and Full-Stop and the Los Angeles Review of Books and HTMLgiant and you get the idea. Professional freelancers didn’t save the book review – the battle was won by the Internet and people who love reading. The culture is richer for it. Twitter’s a useful tool for keeping track of the idea explosion.“ [#]

aura.

Richard Farrell in einem schönen Text über epileptische Anfälle: „In those weird seconds, as the aura passed from something subtle to something more sinister, everything that was happening, every detail, every sight, sound and smell, seemed to have happened before in the exact same order and sequence. I became intensely aware of things: the trees, the angle of sun, the curvature of the road, the crisp blueness of the sky, bluer than I’d ever seen it. The road bent around to the right and a guard rail separated it from a low wash filled with reeds. I felt like I knew what was waiting beyond the curve, even beneath the reeds. The world became hyper-real, an intensely emotional feeling, not of the brain or body but, please pardon the over-amped language, of the soul.“ [#]

(Wie sagt man eigentlich zu creative nonfiction auf Deutsch? Wenn man bedenkt, was für ein tolles Genre das ist, sollte man doch auch einen Begriff auf Deutsch dafür haben.)

Interview mit Richard Farrell: „Having two young kids at home makes the concept of a writing space seem romantic.“ [#]

e-books can’t burn.

„The literary experience does not lie in any one moment of perception, or any physical contact with a material object (even less in the “possession” of handsome masterpieces lined up on our bookshelves), but in the movement of the mind through a sequence of words from beginning to end. More than any other art form it is pure mental material, as close as one can get to thought itself. Memorized, a poem is as surely a piece of literature in our minds as it is on the page. If we say the words in sequence, even silently without opening our mouths, then we have had a literary experience—perhaps even a more intense one than a reading from the page. It’s true that our owning the object—War and Peace or Moby Dick—and organizing these and other classics according to chronology and nation of origin will give us an illusion of control: as if we had now “acquired” and “digested” and “placed” a piece of culture. Perhaps that is what people are attached to. But in fact we all know that once the sequence of words is over and the book closed what actually remains in our possession is very difficult, wonderfully difficult to pin down, a richness (or sometimes irritation) that has nothing to do with the heavy block of paper on our shelves.“ [#]

(Schöner Text von Tim Parks, interessant auch der Gedanke, dass e-books das Browsen weniger ermöglichen als Bücher, irgendwie ja entgegen der Intuition.)

Posts navigation

1 2 3 4 5 6 8 9 10
Scroll to top