liebe.

Scott hat für das, was die verschiedenen Unterstützer unseres Kickstarter-Projekts bekommen, eine Datei erstellt: PDF’s, Taschenbücher und Fotos; mit entsprechenden Adressen und E-Mail-Adressen. Er hat die Datei auf unserem Desktop love genannt.

Buchstapel

Mittlerweile sind die Bücherkisten eingetroffen und heute haben wir die ersten 57 Bücher verschickt. [From Berlin with love.]

unser buch ist da.

Cover Tomorrow Can Wait

Unser Buch ist jetzt bei amazon als Taschenbuch, als Kindle und auch bei CreateSpace zu haben.

Taschenbuch: 272 Seiten
Verlag: Munchkin Bunchkin Books; Auflage: 1 (4. Juni 2013)
Sprache: Englisch
ISBN-10: 0615829880
ISBN-13: 978-0615829883

Das war am Ende nochmal ganz schön stressig und einiges hat mit der Formatierung dennoch nicht ganz geklappt (Kopfzeile startet z.B. zu früh). Anscheinend stimmten meine Cover-Maße nicht, obwohl ich sie nach Handbuch angelegt hatte, jedenfalls wurde das Cover-Maß angepasst und dabei ist hinten der Text zu nah an den Rand gerutscht. Das werde ich dann alles in einer zweiten Auflage bei Gelegenheit noch verbessern. Ich kannte mich bei so vielen Sachen nicht aus, beim nächsten Mal wüsste ich vieles besser, das kommt der deutschen Version dann hoffentlich zugute. 

Ich habe übrigens kein DRM für die Kindle-Version genommen, so dass das Dokument auf mehreren Geräten lesbar ist. Ich hatte die Funktion aktiviert, dass man es verleihen kann, aber das ist wohl nicht angekommen. Auch steht bei der Taschenbuchversion Scott als Herausgeber, obwohl er das Buch lektoriert hat, und die amazon-Seite fürs Taschenbuch kennt die Kindle-Seite nicht. Es gibt also neben den Formatierungsproblemen noch ein paar weitere Baustellen. Da muss ich überall mal den Kundendienst kontaktieren.

Jedoch, an sich: Es ist da, hurra!

zwischen super-nerd und gefährlichem freak.

Es kam, wie es kommen musste: meine heiße Arbeitssaison begann, bevor ich mit dem Buch fertig war. Plötzlich hatte ich drei große Sachen auf einmal zu tun, natürlich der ideale Moment für John, krank zu werden und zwei Wochen lang nicht in die Schule zu gehen. Kaum war er wieder fit, startete ich ein neues Programm in Prag.

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Eine Frau brach sich als Allererstes einen Zeh.

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Abends klopfte es an der Tür und der Hotelmanager bot mir einen Gutschein für ein Drei-Gänge-Menü im Tausch gegen meinen Fernseher. Im Zimmer eines VIP war der Fernseher defekt und es gab keine Ersatzgeräte mehr. Selbstverständlich habe ich das Tauschangebot sofort angenommen, denn ich war eh kaum im Zimmer und wenn, dann las ich Karl Ove Knausgårds Lieben, das mich ebenso in den Bann zog, wie es Sterben getan hatte. Da braucht kein Mensch einen Fernseher.

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So sahen auf den Toiletten im Hotel nahe der Lobby die Wasserhähne aus. Ich dachte mir, das sollt ihr wissen.

Art Deco Imperial Hotel

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Als ich eines Morgens zum Frühstück kam, war unser Vortragender für den Tag bereits da und sagte, dass seine Frau gerade mit Wehen ins Krankenhaus sei. Sie erwarteten Zwillinge, die Wehen seien noch ziemlich weit auseinander, wahrscheinlich könne er den Vortrag noch halten, aber ob er dabei das Handy eingeschaltet lassen könne, seine Frau wolle ihn anrufen, falls er doch schon schnell kommen müsste. Er hielt tatsächlich noch seinen Vortrag. Ich fragte ihn, ob er wisse, was sie bekommen und er sagte: „Eineiige Mädchen, wir haben es noch niemandem erzählt. Du bist die Erste, die das weiß. Das wird uns jetzt immer verbinden.“ Die Kinder wurden später am selben Tag geboren.

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Nach einer Woche brachte ich die erste Reisegruppe zurück zum Flughafen und eine Stunde später landete eine zweite. Ich setzte mich zum Warten mit Knausgård in die Ankunftshalle, mir gegenüber saßen vier blonde Frauen um die Fünfzig und redeten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Plötzlich sprach mich eine von ihnen auf Deutsch an: „Ist das die deutsche Übersetzung von Min Kamp, die Sie da lesen?“ Es stellte sich heraus, dass die vier Norwegerinnen waren und begeistert alle sechs Bücher gelesen hatten. Wir unterhielten uns mehr als eine halbe Stunde über Knausgård. Eine der Frauen sprach sehr gut Deutsch und übersetzte zwischen uns. Das war so eine tolle Begegnung, und was für ein Zufall, am Flughafen in Prag.

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Die Pilsener Urquell Brauerei:

Pilsener Urquell Brauerei

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In zwei Wochen Tschechien lernte ich ansonsten vor allem, dass es quasi unmöglich ist, tschechisch zu lernen.

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Heute war ich zu Gast bei Deutschlandradio Kultur. Kann man hier nachhören.

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Bald geht es wieder los nach Prag; dies ist mein Prager Frühling.

autismus als metapher.

Der Text als PDF: Der Autismus unserer Zeit. Zur Popularität einer Metapher

In der Besprechung von Frank Schirrmachers neuem Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ umschrieb Jakob Augstein letzte Woche mit einer zentralen Metapher Schirrmachers These, dass wir in einer Ideologie des Egoismus leben: „Eine Ideologie der Kälte und des Autismus. Eine Ideologie von Psychopathen für Psychopathen.“

Der Begriff Autismus gehört längst zum Setzbaukasten des journalistischen Wortrepertoires. Das ist nicht neu, aber aufgrund der Schärfe des obigen Zitats erneut erwähnenswert. Autismus als Metapher erfreut sich also noch immer großer Beliebtheit. Das gilt für viele Gebiete. Im Jahr 2000 gründete Bernard Guerrien zum Beispiel die Bewegung der Post-autistischen Ökonomie. Autismus wird darin im Sinne einer wirtschaftlichen Abschottung definiert, die überwunden werden muss.

Die Geografin und Architektin Maria Kaika von der University of Manchester machte 2012 in der zeitgenössischen Stadtplanung eine Autistische Architektur aus. Ikonische Wahrzeichen berühmter Architekten fügten sich nicht mehr in ein Bedeutung schaffendes Gesamtbild ein. Autistische Architektur wird definiert als eine pathologische Versunkenheit in und Beschäftigung mit sich selbst, bis zum Ausschluss der äußeren Welt.

Autismus begegnet uns heute allerorten als Metapher, ob in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Architektur, oder auch auf dem Schulhof des Colegio Andino, der Deutschen Schule in Bogotá, Kolumbien, wo mein Bruder als Lehrer arbeitet und hörte, wie sich ein Junge über einen anderen ärgerte: „¿Eres autístico?“

Doch was macht die Autismusmetapher so reizvoll?

Zwischen Vereinzelung und Vernetzung

Ich hatte jahrelang den Begriff Autismus als Google Alert abonniert. Eigentlich wollte ich mich damit über neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Laufenden halten, doch ich merkte schnell, dass stattdessen zum Großteil Autismusmetaphern in den Posteingang meiner E-Mail gespült wurden. Mit der Zeit kristallisierten sich Gebiete und Themen heraus, für die die Autismusmetapher besonders gerne benutzt wurde.

So ist heute fast alles, was mit dem Internet zu tun hat, potentiell autismusverdächtig. In einem Zeitungsartikel hieß es etwa: „Die Spielkonsole hat Hunderttausende in den Autismus getrieben.“ Andererseits verwirklichen Dienste wie Twitter, Facebook und Google+ ein permanentes Sich-miteinander-Abgleichen durch pausenlose Kommunikation. Allerdings nur virtuell.

Sind wir also isoliert oder verbunden? Die Metapher Autismus dient als Referenzgrundlage einer digitalisierten Gesellschaft, in der jeder alleine vor dem Computer sitzt, und in der dem Autismus der Spielkonsole die letztlich ebenso autismusverdächtige Eingebundenheit in virtuelle Kommunikation entgegensteht.

Nicholas Epley und Adam Waytz von der University of Chicago haben im Oktober 2011 eine Untersuchung vorgestellt, nach deren Ergebnis Menschen mit engen sozialen Kontakten dazu neigen, Personen außerhalb ihres sozialen Umfelds zu entmenschlichen. Nach ihren Untersuchungen kann das Gefühl sozialer Eingebundenheit dazu verleiten, Menschen außerhalb der Gruppe als weniger wertvoll zu betrachten.

Die Teilnehmer eines Versuches wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Die Teilnehmer der einen Gruppe füllten einen Fragebogen aus, während ein Freund zusammen mit ihnen im Raum saß. Die anderen erledigten diese Aufgabe in Anwesenheit eines Unbekannten. Beiden Gruppen wurden Fotos von elf Menschen vorgelegt, die als inhaftierte Terroristen präsentiert wurden, angeblich für die Planung der Attentate auf das World Trade Center verantwortlich. Anschließend beantworteten die Versuchsteilnehmer eine Reihe von Fragen, darunter auch, in welchem Maße sie Foltertechniken wie simuliertes Ertrinken und Elektroschocks für vertretbar hielten. Die Forscher fanden heraus, dass die Gruppe der sozial eingebundenen Personen, die den Fragebogen in Anwesenheit eines Freundes ausgefüllt hatten, die Gefangenen deutlich stärker entmenschlichten und wesentlich eher bereit waren, Verletzungen gutzuheißen.

„Enge soziale Kontakte zu anderen haben sehr positive Auswirkungen auf die eigene körperliche und geistige Gesundheit“, schrieben die Forscher. „Aber sie ersticken auch die Motivation, soziale Kontakte außerhalb der Gruppe zu knüpfen und können die empfundene Distanz zwischen uns und ihnen vergrößern.“ In der Distanz zwischen uns und ihnen symbolisieren die Autisten das Außen.

Das Kokettieren mit dem Autismus

Das alleine scheint mir aber zu kurz gedacht. Offensichtlich besteht in der Verwendung des Autismusbegriffs auch ein Wechselspiel von Anziehung und Abstoßung. Wenn man zum Beispiel die Tatsache, den Urlaub bewusst ohne Internet und Handy verbracht zu haben, damit beschreibt, dass man sich autistisch verhalten hätte, kokettiert man mit dem Bild. Autismus impliziert dann die Illusion eines wenigstens temporär non-konformen Verhaltens, welches durch die ständige Kommunikation immer seltener wird. Zumindest als ephemere Erfahrung ist der Autismus damit heute vielleicht auch gerade besonders reizvoll.

Dies ist natürlich kein neu entstandener Topos. Das Heraustreten aus der Gemeinschaft wird schließlich gerade unter Künstlern seit langem als reizvoller Gedanke zelebriert und formuliert, man denke nur an Gustave Flauberts Begriff der impassibilité, der kühlen Teilnahmslosigkeit des Dichters, oder an Paul Cézannes bewusst propagiertes Leben als Solitär. Paul Eluard schrieb: „Ich träume davon, losgelöst von allem zu sein. Aber leider besteht kaum die Aussicht, dass sich das erfüllen wird.“

Dieser Satz scheint für unsere allzeit vernetzte Zeit geradezu emblematisch. Die Beschäftigung mit dem Autismus setzt insofern eine lange künstlerische Tradition des Wechselspiels zwischen Teilhabe und Isolierung fort, ein Wechselspiel, das sich in unserem Leben im frühen 21. Jahrhundert zwischen den Polen der Vereinzelung und der Vernetzung bewegt.

Verkümmernde Persönlichkeit

Im Film The Social Network begegnet der Erfinder von Facebook, Mark Zuckerberg, dem Zuschauer als ein Computer-Nerd, der wenig Augenkontakt hält, der Sprachwendungen und Doppeldeutigkeiten nicht versteht, der alles wörtlich nimmt und selbst in harmlosen Gesprächen pedantisch auf Genauigkeiten beharrt. Dass das, was er sagt, andere verletzen könnte, versteht er nicht. Kurzum, Drehbuchautor Aaron Sorkin und Regisseur David Fincher porträtieren Zuckerberg in ihrem Film als Autisten.

Die Schriftstellerin Zadie Smith schrieb in der New York Review of Books im November 2010 über den Film und die Generation Facebook. Der Typus des „sozialen Autisten“ sei uns in der heutigen Zeit sehr augenfällig: „Wir kennen diesen Typen. Überprogrammiert, grimmig, einsam.“ Interessant ist dabei, dass es ihr gar nicht um eine tatsächliche Diagnose geht, sondern um die Zuschreibung einer Generation, deren Persönlichkeit von den oberflächlichen Möglichkeiten der Facebook-Software geprägt werde. In sozialen Netzwerken sei Verbindung das ultimative Ziel, die Qualität dieser Verbindungen spiele eine untergeordnete Rolle.

Falsch-fröhlich, pseudo-freundschaftlich, selbst-vermarktend und gekonnt unaufrichtig würden die Menschen Auskunft über sich geben, ohne dass komplexe Gefühle, Wünsche und Ängste im Profil ihren Ausdruck finden könnten, denn eine tiefere, komplexe Dimension sehe die Zuckerberg-Software nicht vor. Auf Facebook schrumpfe alles: individueller Charakter, Freundschaften, Sprache, Sensibilität. Smith beschreibt dies als transzendentale Erfahrung: wir verlieren unsere Körper und auch die komplexen Gefühle. Das von seiner Vielschichtigkeit befreite Selbst sei alles andere als frei. Unsere Persönlichkeit verflache. Der Typus des „sozialen Autisten“ erfasse diese Entwicklung in einem komprimierten Begriff.

Der Soziologe Georg Simmel beschrieb 1903 in Die Großstädte und das Geistesleben die Auswirkungen der Städte auf das Nervenleben. Während immer einseitigere Leistungen vom Individuum verlangt würden und sich die Leistungen im Speziellen steigerten, verkümmere die Persönlichkeit. Wir begegnen dieser Argumentation mehr als hundert Jahre später bei Zadie Smith und dem von ihr so genannten Typus des „sozialen Autisten“ wieder. Simmel prägte argumentativ vor, was viele heute mit Autismus assoziieren, Spezialisierung und verkümmerte Persönlichkeit, 1903 selbstverständlich noch ohne den Namen und das Konzept Autismus gedacht. Simmel sprach von Atomisierung.

Reizüberflutung

Die verkümmernde Persönlichkeit hängt wiederum unmittelbar mit einem weiteren Thema zusammen, das sowohl für unsere Zeit, als auch für den Autismus bedeutsam ist: Reizüberflutung. Der Journalist Nicholas Carr eröffnete 2008 mit dem Aufsatz Macht uns Google dumm? eine Debatte über die Reizüberflutung im Internet. Darin interpretiert Carr das Internet als einen evolutionsgeschichtlichen Wendepunkt, unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürze sich bedenklich. Ähnlich ein Jahr später Frank Schirrmachers Bedenken in Payback. Geradezu wöchentlich erscheinen nun Artikel darüber, ob das Internet und die damit unweigerlich verbundene Reizüberflutung uns verdummen oder gerade im Gegenteil unsere Denkleistungen verbessern können. Interessant für die Autismusmetapher ist, dass sich auch hier wieder Parallelen zwischen Autisten und neurotypischen Menschen auftun.

Überforderung bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken ist ein zentrales Problem für Autisten, doch dieses Problem kennen heute auch Nicht-Autisten nur zu gut. Als er das erste Mal nach New York kam, habe er sich wie ein Autist gefühlt, berichtete der Musiker Sxip Chirey im Oktober 2010 in einer Radiosendung darüber, ob der Mensch die Stadt prägt oder vielleicht umgekehrt die Stadt den Menschen. Er habe die Welt in New York wie ein autistisches Kind erlebt, das die vielen Reize, die auf es einprasseln, nicht filtern und ordnen kann. Chireys Beschreibungen der Parallelen zwischen der Wahrnehmung von Autisten und seiner eigenen ersten Wahrnehmung von New York sind ein typisches Beispiel dafür, wie der Autismus heute gerne zur Erklärung einer Überforderung herangezogen wird.

Integrationsverweigerung

Wenn man Parlamentsprotokolle auf den Begriff Autismus hin durchsucht, bekommt man seitenlange Einträge. Im Parlament ist es beliebt, den Autismus in die Nähe des Fundamentalismus zu rücken, so sagte etwa MdB Rolf Feldmann von der FDP: „Im Klartext: Die Militärs spielen weiter mit der Existenz der Menschheit und behaupten wie eh und je, sie hätten alles im Griff. Und auf diesen brandgefährlichen Autismus sollen wir unsere Sicherheit und unsere Zukunft gründen?“

Der Abgeordnete Hans von der CDU mahnte: „Zur Besonnenheit gehört, zu unterscheiden zwischen den Millionen Moslems, von denen viele hier im Westen in unserem toleranten Lebensstil eingebunden sind, und den paar tausend fanatischen Autisten, die unsere Kultur – damit meine ich die westliche und die islamische – global und total bedrohen.“

In der Politik spitzt sich der Autismus zum Gegenspieler der Demokratie schlechthin zu. Dem Autismus werden Adjektive wie ‚brandgefährlich‘ und ‚fanatisch‘ an die Seite gestellt, die die Wahrnehmung einer Gefahr noch verstärken. Der Begriff Autismus drückt die kollektive Abscheu der demokratischen Staaten gegenüber ihren Gegnern, vor allem Terroristen, aus. Die politische Metapher wird zur Variation des guten Ganzen gegen den einzelnen Abtrünnigen.

Verlust des Verantwortungsgefühls

Reinhart Lempp ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und emeritierter Professor der Universität Tübingen. In seiner Praxis im Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen bemerkte auch er Parallelen zwischen den Beeinträchtigungen einer autistischen Wahrnehmung und Wesensmerkmalen unserer Zeit. In seinem Buch Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? schrieb er über unseren täglichen Autismus, über die Kontaktstörung unserer Alltagswelt. Es kämen zwar immer mehr Menschen miteinander in Berührung, aber sie kämen nicht in psychischen Kontakt miteinander. Die Menschen nähmen sich gegenseitig nicht mehr wahr. Das Leben nebeneinander her führe zu einer zunehmenden Verantwortungslosigkeit gegenüber den Mitmenschen und somit zu einer Aufkündigung der Gemeinschaft.

Im Magazin Theater Heute schrieb die Literaturwissenschaftlerin Branka Schaller-Fornoff in einer Titelgeschichte über Belgrad und den Balkan: „Täglich und doch immer völlig unerwartet bekomme ich zu hören, wie viel besser das Leben im Sozialismus war, das vereinte Jugoslawien. Diese Demokratie, dieser Kapitalismus, sie hätten nichts Gutes gebracht. Ein Medienwissenschaftler sagt mir lakonisch, die Leute seien total autistisch geworden, ihre Mitmenschen interessierten sie nicht mehr. Er geht jetzt auch weg.“

Neben der Autismusdiagnose für den Kapitalismus spielt das Zitat auch auf das Autistische unserer zunehmend transitorischen Existenz an, auf den Autismus der Mobilität: „Er geht jetzt auch weg.“ Noch nie sind wir so oft umgezogen, weltweit, haben so oft den Arbeitplatz und die Partner gewechselt, international. Alles ist im Fluss, immer, und morgen könnte man schon ganz woanders sein. Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft sind so ungleich schwerer zu leben, so die Idee dieser Autismusmetapher.

Krankheit als Metapher

In der Metapher geht es in den verschiedensten Zusammenhängen fast immer um das Vereinzelte als Gegenbild des Gemeinsamen, ein neuralgischer Punkt unserer globalisierten, kapitalistischen und von Technik geprägten Lebens- und Arbeitswelt.

Susan Sontag beobachtete in Krankheit als Metapher, wie Tuberkulose im 19. Jahrhundert und Krebs im 20. Jahrhundert zu Syndromen wurden, die zentrale Ängste und Gefahren der Gesellschaft verdeutlichten. Dass eine bestimmte Krankheit eine kulturelle Dominanz entwickelt, ließ sich laut Susan Sontag an wissenschaftlichen Untersuchungen im 20. Jahrhundert erkennen: sie wiesen hohe Übereinstimmungswerte zwischen dem Vorkommen von Krebs und den verbreiteten, allgemeinen Beschwerden der Zeit nach. Selbst Nichtkranke gaben demnach viele gleiche Beschwerden an, die auch Krebspatienten haben. Wenn eine Krankheit eine kulturelle Bedeutung entwickelt, greift sie um sich und löst sich dabei auch von der Krankheit selbst: immer mehr Menschen erkennen sich in ihr wieder, ohne tatsächlich erkrankt zu sein.

Dies gilt heute für den Autismus. Die für die Tuberkulose und den Krebs beschriebene Invasion des Körpers hat sich heute durch Virtualität und Globalisierung zu einer Loslösung vom Körperlichen entwickelt, und während in den Fällen der Tuberkulose und des Krebs das fundamental Abschreckende die Assoziation des tatsächlichen Todes war, so ist es im Fall der Autismusmetapher die Assoziation des sozialen Todes.

Der Ausdruck des Selbst im 19. Jahrhundert (Tuberkulose) wich im 20. Jahrhundert dem Ausdruck des gefühlten Selbstverlustes (Krebs), der wiederum nun, im beginnenden 21. Jahrhundert, von einem Ausdruck des gefühlten Gemeinschaftsverlustes überschrieben wird (Autismus).

Sich einen medizinischen Begriff zunutze zu machen, um neue hermeneutische Möglichkeiten zu schaffen, ist allerdings grundsätzlich problematisch, darauf wies auch Susan Sontag immer wieder deutlich hin. In einem solchen Prozess löst sich die Metapher unweigerlich vom tatsächlichen Syndrom und schneidet es auf die eigenen Bedürfnisse zu. Dies geht so weit, dass die geschaffenen Assoziationen überhaupt nichts mehr mit dem tatsächlichen Syndrom zu tun haben.

Auswirkungen der Metaphorisierung

Der tatsächliche Autist hat im Gegensatz zum metaphorischen weder eine verkümmerte Persönlichkeit noch wendet er sich als Integrationsverweigerer bewusst von der Gemeinschaft ab. Die Abwendung erfolgt eher in umgekehrter Richtung, nämlich in dem Sinn, dass eine Gemeinschaft den Autisten ausschließt, weil er ihre sozialen Spielregeln nicht versteht.

Autisten leben nicht vereinzelt, sondern in Gemeinschaften, oft in der Familie und dort sogar oft länger als Nicht-Autisten, die meistens mit achtzehn oder neunzehn ausziehen. Autisten lernen, mit Reizüberflutung umzugehen. Was den behaupteten Verlust des Verantwortungsgefühls für unsere Mitmenschen betrifft, so lässt sich gerade an engagierten Angehörigen, Therapeuten, Lehrern, Ärzten und Pflegepersonal bestens erkennen, dass es sehr wohl noch Menschen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein gibt, welches sie nicht nur als Meinung vor sich hertragen, sondern jeden Tag leben. Die Metapher greift immer zu kurz, verzerrt und schadet.

Entfernt uns das Internet voneinander und lässt es unsere Persönlichkeit verkümmern? Können wir der Flut an Reizen nicht mehr standhalten? Löst sich die Gemeinschaft auf und verschwindet jeder einfach in seinem eigenen Leben? Macht die globalisierte Welt uns gefühl- und verantwortungslos? Zur Formulierung dieser und vieler anderer Fragen benutzen wir die Autismusmetapher, und all diese Fragen sind mit einer enormen, ja existenziellen Angst besetzt.

Egal ob zur Beschreibung wirtschaftlicher, künstlerischer, kultureller oder politischer Problemzustände unserer Zeit: indem die Metapher Autismus das Außen definiert, eignet sie sich zwar augenscheinlich zum Versuch, eine auf verschiedensten Ebenen als gefährdet wahrgenommene Idee der Gemeinschaft wieder zu stabilisieren, indem sie die Gefährdungsmomente aus ihrem eigenen Inneren in ein Außen überträgt, nämlich auf den außen stehenden Autisten. Den Preis für die Übertragung dieser Gefährdung in die Autismusmetapher aber zahlen die Autisten und auch ihre Angehörigen.

Der Autist wird rhetorisch als entfernt und verschieden dargestellt, ihm wird die dialektische Funktion des Anderen aufgebürdet, er verkörpert die Gefahr, den Ort, an den diejenigen nicht kommen wollen, die Teil der Gemeinschaft sind. Ob all diese Ängste dabei überhaupt gerechtfertigt sind, oder wie viele Anteile an typischem Kulturpessimismus in neuem Gewand in diesen Ängsten stecken, das ist dabei noch eine ganz andere Frage.

Für die Autismusmetapher gilt in jedem Fall: so prägnant sich drängende zeitgenössische Fragestellungen durch die Brille des Autismus erfassen und verarbeiten lassen, weil die Defizite und Stärken, die mit Autismus verbunden sind, mit zentralen Fragestellungen unserer Gesellschaft korrespondieren, so dringend muss nun endlich auch die Frage gestellt werden, was Autismus als Metapher für die Menschen bedeutet, die tatsächlich autistisch sind.

Ein Syndrom unter Verdacht

Noch stärker problematisiert wird die Lage durch Positionierungen zum tatsächlichen Autismus. Nicht nur als Symbol, sondern auch als Syndrom ist Autismus zunehmend verdächtig. Es ist erst zwei Monate her, dass Adam Lanza in Newtown in den USA 27 Menschen tötete. Sofort wurde in den Medien weltweit spekuliert, dass Lanza vielleicht Autist gewesen sei. Zeugenaussagen hatten auf das Asperger-Syndrom hingedeutet. Diese Spekulationen wurden ursächlich mit der Tat verbunden, sie wurden als Erklärungsversuch benutzt, die schreckliche Tat zu verstehen.

Ähnliches passierte letzten Monat nach dem Mord an Katrin Michalk in München. Eine Nachbarin meinte, der Täter sei Autist gewesen und habe eine Förderschule besucht. Die Berichterstattung zielte wieder auf einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Autismus und der Tat ab. „Psychogramm: So tickt der mutmaßliche Sendling-Mörder“ hieß es etwa in der Münchener Abendzeitung.

Vor zwei Monaten, gerade als die Stigmatisierung des Autismus durch die Newtown-Berichterstattung einen Höhepunkt erreichte, wurde eine Studie der University of Western Australia in Perth veröffentlicht. Die Forscher untersuchten die gesamte, zwischen 1955 und 1969 geborene Bevölkerung Westaustraliens, mehr als anderthalb Millionen Menschen. Sie verglichen Verhaftungen mit den Daten psychiatrischer Diagnosen und kamen zu dem Ergebnis, dass es kein erhöhtes Kriminalitätsrisiko in Bezug auf psychiatrische Probleme gibt. Während Menschen mit einer Diagnose Schizophrenie zum Beispiel häufiger verhaftet wurden als Menschen mit einer Depression, lagen die Verhaftungszahlen für Suchterkrankte über denen der Schizophrenie.

Autisten sind viel häufiger Opfer als Täter, zum Beispiel Opfer von Mobbing, in der Schule und am Arbeitsplatz. Sie sind oft von Ausgrenzung betroffen. Durch die verzerrte Berichterstattung werden sie allerdings im Gegenteil geradezu als Psychopathen dargestellt. In Bezug auf das Syndrom erfolgt eine ähnliche Instrumentalisierung wie in Bezug auf das Symbol. Dies legte auch das Zitat von Jakob Augstein nahe, der von einer Ideologie von Psychopathen für Psychopathen sprach.

Wie und wo kann ich uns als Familie mit einem autistischen Kind in einer Gesellschaft verorten, die dem Autismus in der Metapher jeden Tag negative Züge zuspricht, und die anhand des Syndroms ihre zeitgenössischen Krisen verhandelt?

Frank Schirrmacher vermeidet in seinem neuen Buch eine Vereinnahmung des Autismus. Jakob Augsteins Text allerdings zeigt, dass die Rezensenten diesen Reifegrad leider noch nicht erreicht haben.

Die Prägung des Symbols lässt bereits deutliche Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des Syndroms erkennen, wie Newtown und München leidvoll verdeutlicht haben. Es ist lange überfällig und spätestens jetzt allerhöchste Zeit, den Autismus von der negativen Vereinnahmung zu befreien.

 

Zitate

[Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens]

[Jakob Augstein: Im Zweifel links: Ohne Zweifel links]

[Post-autistische Ökonomie]

[Autistische Architektur und fortgeschrittene urbane Marginalität]

[Adam Waytz & Nicholas Epley: “Social Connection Enables Dehumanization.” In: Journal of Experimental Social Psychology, volume 48, Issue 1, January 2012, Pages 70–76. The Connection Disconnection]

[Paul Eluard, „Liebesbriefe an Gala“, dtv 1990, S. 304]

[Zadie Smith: Generation Why?]

[Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben]

[Nicholas Carr: Is Google Making us Stupid?]

[Frank Schirrmacher: Payback]

[Do we make the city or does the city make us? How we become behaviourally enmeshed in cities and how they operate almost like independent organisms.]

[MdB Feldmann: Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 13/116 vom 27.06.1996, Seite 10546]

[Abg. Hans: Landtag des Saarlandes, 12. Wahlperiode, 30. Sitzung am 26. September 2001, Gedenkworte und Erklärungen zu den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001.  Protokoll S. 1421]

[Reinhart Lempp: Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? Kösel 1996]

[Branka Schaller-Fornoff: Mehr Kampf, mehr Frust, mehr Intensität. In: Theater Heute, Januar 2012]

[Susan Sontag: Illness as metaphor]

[Cinthia Briseño: Adam Lanza. Litt der Amokläufer von Newtown am Asperger-Syndrom?]

[Nina Job: Mord an Katrin Michalk. Psychogramm: So tickt der mutmaßliche Sendling-Mörder]

[Morgan VA, Morgan F et al.: “A whole-of-population study of the prevalence and patterns of criminal offending in people with schizophrenia and other mental illness.” In: Psychol Med. 2012 Dec 13:1-12. [Epub ahead of print] Mental Illness and Crime, Yet Again]

blog hop.

Oh, ein Stöckchen. Dass es das noch gibt.

Was ist der Arbeitstitel Ihres Buchs?

Der Arbeitstitel war „Das Zeitalter des Autismus.“ So heißen noch ganz viele meiner Dateien, die sich mit den theoretischen Aspekten befassen. Das Ganze hat sich mittlerweile aber anders entwickelt. Der Titel wird nun sein: „Morgen kann warten. Unterwegs mit unserem autistischen Kind.“

Woher kam die Idee für das Buch?

Autismus ist in den letzten zehn Jahren oft Thema, zumindest in den USA, und auch die Metapher wird viel benutzt, vielleicht weil das, was wir üblicherweise mit dem Syndrom verbinden, irgendwie in unsere Zeit passt. Es gab dazu viele interessante Artikel, zum Beispiel von Steve Silberman in Wired, dass es im Silicon Valley immer mehr Autisten gäbe, um nur ein Beispiel zu nennen. Es ging, zugespitzt, um die Frage, ob unsere globalisierten, kapitalistischen und technisch geprägten Lebens- und Arbeitsbedingungen uns irgendwie zu Autisten machen. (Leben wir in einer autistischen Gesellschaft? Antwort: Eher nein.) Letztlich wird Autismus als Metapher benutzt. Ein Agent hat sich dafür interessiert, wir haben am Exposé gearbeitet, aber die Einschätzung der befragten Lektoren war, dass das vielleicht ein längerer Zeitungsartikel sein könnte, kein ganzes Buch.

Da ich Autismus von ganz unterschiedlichen Warten recherchiert hatte, hätte ich gerne so ein Buch mit verschiedenen Kapiteln gemacht, in denen eines das oben beschriebene ist, ein anderes zum Beispiel die autistische Emanzipationsbewegung neurologischer Vielfalt – neurodiversity. Da war dann aber die Meinung, dass das so speziell sei, dass es nur Leute interessiere, die mit Autismus eh zu tun haben, also: zu kleines Publikum. (Mittlerweile habe ich gelesen, dass Steve Silberman gerade genau so ein Buch schreibt, es soll irgendwann 2013 rauskommen.)

Unter welches Genre fällt Ihr Buch?

Sachbuch, aber mittlerweile mehr so ein erzählendes Sachbuch.

Wie lautet die Einsatzzusammenfassung Ihres Buches?

„Morgen kann warten“ ist eine Geschichte über Autismus und über das Leben mit einem schwer autistischen Kind.

Vielleicht noch ein zweiter Satz darüber, was es nicht ist: „Morgen kann warten“ ist keine Geschichte über Heilung und keine klassische Schicksalserzählung.

Werden Sie Ihr Buch selbst verlegen oder wird es vertreten durch einen Agenten?

Ich habe einen Agenten gefunden, der das Projekt vertritt. Allerdings haben wir keinen Verlag gefunden.

Als wir nicht weiterkamen, habe ich letztes Frühjahr das Buch auf Englisch im Selbstverlag geplant, über Kickstarter. Nun werde ich es wohl, wenn das Buch auf Englisch fertig ist, zurückübersetzen ins Deutsche und dann auch auf Deutsch selbst veröffentlichen. Ich habe gemerkt, dass ich etwas machen möchte, das anscheinend nicht viele Leute interessiert. Da kann man nichts machen. Mich interessiert es, und deshalb mache ich das nun alleine, beziehungsweise mit Scott, der meinen englischen Text lektoriert, und mit Hilfe der tollen Kickstarter-Unterstützung.

Der Agent und ich konnten eben leider keinen Verlag davon überzeugen. Oft hieß es, ich sei keine ausgewiesene Expertin, „nur Mutter.“ Es lief fast immer darauf hinaus, dass ein Verlag von einer Mutter ein emotionales Rührstück erwartet. Letzter Stand war das Exposé mit den Reisen als roter Faden, der Agent hatte es im Herbst mit auf die Buchmesse genommen.

Eine Lektorin schrieb daraufhin, das Exposé sei sehr selbstbewusst formuliert, das sei dem Thema nicht angemessen. Als ich das las, saß ich erstmal eine bis zwei Minuten sprachlos vor dem Bildschirm. Leserinnen, die sich für Schicksalsbücher interessierten, erwarteten eine andere Position. Mit anderen Worten: dass sich die Mutter ihrer Situation angemessen als Opfer präsentiert, oder wie habe ich das zu verstehen?

Ganz viele wollten den Text viel emotionaler haben, da waren wir wieder beim Rührstück. Aber nur um Klischees zu bedienen, muss ich mich nicht fünf Jahre lang hinsetzen und ein Buch recherchieren und schreiben. Ein Lektor meinte, das sei ja alles ganz interessant, aber wohl doch eher Blogniveau. Da kam dann ein bisschen der alte Dünkel auf. Ein Lektor schrieb, er fände das Thema Autismus normalerweise spannend, aber hier käme diese Faszination nicht rüber.

Natürlich werden in den Medien oft und vorzugsweise die faszinierenden Aspekte von Autismus präsentiert: Daniel Tammet oder Stephen Wiltshire oder Gilles Tréhin oder George Widener. Aber es sind eben nur 10% der Autisten, die überhaupt eine besondere Begabung haben. Es geht mir ja gerade darum, mal nicht von dieser Faszination aus zu schreiben. Aber das wird dann nicht als interessant empfunden.

Eine Lektorin meinte, da sei so vieles ganz ähnlich wie mit einem normalen Kind, das sei ja gar nicht so besonders. Auch da las ich die E-Mail und dachte: „Ja, genau, es ist ja auch vieles wie mit einem nicht behinderten Kind. Das Leben mit einem schwerbehinderten Kind hat viele Anteile, die jeder kennt, der Kinder hat.“ Es kommt also schon viel Intendiertes bei den Lektoren an, aber es wird dann jeweils als nicht interessant genug befunden.

Ein Lektor meinte, die Kombination aus Reisen und Autismus sei zu speziell. Das ist gerade der Punkt: dass die Kombination nicht unbedingt naheliegt. Ein kleiner Teil des angestrebten Perspektivwechsels.

Ich bescheinige mir selbst abschließend eine recht große Leidensfähigkeit bei der Suche nach einem Verlag, aber nach der Buchmesse im letzten Herbst habe ich dann aufgegeben. Wir hatten extra noch direkt vor der Buchmesse einen Zeitungsartikel mit Céline Lauer gemacht, aber selbst das hat nichts gebracht. Der Artikel sei ja sehr schön, hieß es, aber damit sei dann ja auch schon alles gesagt, wozu nach dem Artikel noch ein Buch?

Einerseits fand ich es sehr gut, dass ich so viel inhaltliches Feedback bekommen habe und keine 08/15 Absagen, andererseits hat es mir am Ende wenig gebracht, weil vieles ja schon richtig erkannt wurde, aber eben Absicht war, oder ein inhärentes Problem (wie, dass John zu blass blieb – das habe ich mittlerweile schon besser in den Griff bekommen). Ich hätte jemanden gebraucht, der das Vertrauen hat, dass das schon eine gute Sache ist, und der oder die das dann einfach mal macht. Leider hat es nicht sollen sein.

Wie lange haben Sie gebraucht, um den ersten Entwurf Ihres Manuskripts zu schreiben?

Angefangen habe ich mit der Idee 2007, dann habe ich aber zwei Jahre lang fast nur gelesen. Das Projekt hat sich in diesen Jahren immer wieder etwas verändert. Im Moment schreibe ich am zweitletzten Kapitel. Ich weiß nicht, ob wir den Text noch im Februar druckreif bekommen, realistisch gesehen eher nicht. Bei Kickstarter hatte ich Februar 2013 als Fertigstellung angegeben, das war sehr optimistisch kalkuliert. John war zweimal krank, Weihnachtsferien, jetzt die Winterferien nächste Woche: ich hätte da mehr Zeit einkalkulieren müssen. Nächstes Mal wüsste ich es besser.

Selbst wenn bald alle Kapitel fertig sind, haben Scott und ich noch viel Arbeit. Zum Beispiel ist es noch nicht immer überall klar, wie alt John gerade ist, der ganze Zeitverlauf muss verständlicher werden. Auch Johns Entwicklung – wann spricht er, wann spricht er wieder nicht – das sind so Sachen, die deutlicher werden müssen. Ich habe eine Liste von Kohärenzaspekten gemacht, die ich abarbeiten muss, wenn der Text an sich steht. Der Text muss dann ja auch noch von außen Korrektur gelesen werden, dazu habe ich schon eine muttersprachliche Freiberuflerin gefunden. Für das Cover bin ich noch auf der Suche nach einer Grafikerin, aber vielleicht machen wir das auch selbst mit InDesign. Je länger wir zum Schreiben brauchen, umso weniger Geld bleibt dafür, andere zu bezahlen. Ich muss noch die Endnoten und die Bibliographie ausformulieren, im Moment steht da zum Beispiel sowas wie „Autism Matrix 53“ in den Anmerkungen, haha. Auch wenn es kein wissenschaftliches Buch ist, soll es nicht zu guttenbergisch werden. Ich hätte gerne einen Index, aber dafür bleibt dann wohl wirklich keine Zeit mehr. Von April bis Oktober bin ich beruflich ausgebucht, es muss also vor April fertig werden. März sollte zu schaffen sein. Ich hoffe, dass die Kickstarter Backer nicht allzu böse sein werden, wenn es sich um einen Monat verspätet.

Welche anderen Bücher würden Sie mit Ihrem Genre vergleichen?

Ich kann nur sagen, dass mir Sachbücher gefallen, in denen Menschen mit einer persönlichen Stimme über etwas Schwieriges erzählen, das sie erlebt haben, ohne dass es dabei larmoyant wird. Mir fallen da ein: Siri Hustvedt mit Die zitternde Frau, Tim Parks mit Die Kunst stillzusitzen, und natürlich Joan Didion mit dem Jahr magischen Denkens und den Blauen Stunden. Nicht, dass ich sowas hinkriegen würde, aber das sind für mich wichtige Bücher gewesen, die sagen: Man kann und darf seine eigene Situation ernst nehmen, und man kann darüber reflektieren, ohne dass es rührselig wird. Das heißt nicht, dass es nicht auch emotional wäre. Ich glaube, das ist ein großes Missverständnis. Es soll bloß keine billige Gefühlsduselei sein, und nicht so eindimensional.

Was sonst über Ihr Buch könnte das Interesse des Lesers wecken?

Keine Ahnung, ich bin im Moment von der Verlagssuche-Erfahrung zu demotiviert, um überhaupt darüber nachzudenken. Ein Mann hat mich mal gefragt: „Warum soll das eigentlich irgendjemanden interessieren, wo Sie mit Ihrem Mann und Kind in Urlaub hinfahren, oder wie Ihr Leben ist?“

Es ist klar, dass sich dafür nicht jeder interessiert. Mich zum Beispiel aber interessiert, wo andere Leute in Urlaub hinfahren, wenn sie darüber etwas zu sagen haben, und mich interessiert auch, wie ihr Leben ist. Deshalb lese ich gerne Weblogs, oder Bücher wie die genannten. Das ist Kommunikation, da sind Menschen, die von sich erzählen und damit erst die Möglichkeit geben, dass man sie versteht. In diesem Fall: wie soll die Gesellschaft verstehen, wie vielfältig Autismus ist, wenn es darüber nur immer die gleichen drei Narrationen gibt (Heilung, Verzweiflung, Savants)?

Das geht alles aufs Webloggen zurück: dass da mal Leute waren, die an einem ehrlichen Austausch interessiert waren. Vielleicht hatte der Dünkellektor am Ende sogar Recht und das ist Blogniveau. Das wäre dann nur nicht so abschätzig konnotiert, wie er es schrieb, sondern im Gegenteil.

Möchten Sie andere Autoren für das Interview nominieren?

Alle, die ich kenne, haben den Fragebogen schon, glaube ich. Aber ich wünsche mir, wie Isa, ein Buch von Hotel Mama.

far from the tree.

Ich lese gerade Far from the Tree von Andrew Solomon. Auf 962 Seiten porträtiert Solomon Familien mit Kindern, die auf die eine oder andere Weise anders sind als ihre Eltern. Die Prämisse des Buches ist, dass Kinder und Eltern in vielerlei Hinsicht ähnliche Erfahrungsgrundlagen haben, vertikale Identitäten, wie Solomon es nennt, und dass sich Veränderungen ergeben, wenn es entscheidende Bereiche gibt, in denen das Wesen sehr unterschiedlich ist, horizontale Identitäten. Das sind im Buch zum Beispiel Gehörlosigkeit, Kleinwüchsigkeit, Down-Syndrom, Autismus, Schizophrenie, Schwerstmehrfachbehinderung, Wunderkinder, Kind nach Vergewaltigung, Transsexualität.

Was für ein Aufwand dahinter stecken muss, all diese Themen zu recherchieren und Familien kennen zu lernen. Solomon umgeht viele Fallen, zum Beispiel sprachlicher Art. Er versteht die Diskurse rund um die Behindertenrechtsbewegung, er hat sich wirklich da rein begeben. Es gibt viel Positives über das Buch zu sagen, aber es gibt auch ein paar Probleme. Jessa Crispin hat geschrieben, dass sie über die Mütter nicht hinwegkommt. Sie seien ihr zu wenig ambivalent, und das geht mir genauso.

Andererseits ist genau das auch ein Problem, das ich beim Schreiben meines eigenen Buches habe. Es ist wahnsinnig schwierig, Ambivalenz auszudrücken, ohne respektlos gegenüber dem Kind zu sein. Mein Agent sagte mir mal, dass die Schwierigkeiten mehr Platz bekommen sollten, weil ich doch im Exposé ausdrücklich sage, ich wolle über beide Seiten schreiben. Das stimmt, aber es ist heikel, weil ich das Schwierige nicht John anlasten möchte. Ich glaube, ich habe in der Zwischenzeit einen Weg gefunden, aber das hat gedauert, und ob es wirklich gelungen ist, kann ich natürlich auch nicht beurteilen.

Es gibt anscheinend, wenn man über horizontale Identitäten nachdenkt, so etwas wie typische Fallstricke, oder typische blinde Flecken. Nicht ohne Grund gibt es bestimmte Narrative, wie die verzweifelte Betroffenheitsliteratur oder umgekehrt die Heile-Welt-Erfolgsgeschichte. Ohne Ambivalenz ist es deutlich einfacher.  

Einen weiteren Punkt, den Jessa nennt, habe ich auch so empfunden: dass Solomon in seiner eigenen Geschichte (seine horizontale Identität ist, dass er schwul ist) Details zu sehr aufbläst, zum Beispiel, dass er als kleiner Junge einen pinkfarbenen Luftballon haben wollte, aber die Mutter ihn dazu überredete, einen blauen zu nehmen. Als er es das erste Mal erzählte, fand ich das interessant. Das Problem ist, dass er das Beispiel immer wieder bringt. Irgendwann denkt man sich: „Get over the balloon, already“, aber das ist natürlich unfair. Offensichtlich ist es ihm so wichtig, dass er es wiederholt erzählt. Das Problem ist ein Hang zur Überbetonung, dem man, glaube ich, ganz leicht erliegt. Zumindest habe ich auch das bei mir selbst bemerkt. Überbetonung wird irgendwann eher kontraproduktiv. Wenn man ständig auf der Andersheit rumreitet, dann erschwert das eine Akzeptanz eher, als es sie erleichtert. Man vergrößert damit ja auch einen imaginären Graben.

Noch ein blinder Fleck, der mir bei mir aufgefallen ist, ist, dass John leicht zu blass bleibt. Weil er nicht spricht und ich nicht weiß, was er denkt und fühlt, ist es schwierig. Ich kann und will ihm nichts in den Mund oder in den Kopf legen, ich kann nur von außen betrachten, meine Beobachtung schildern, versuchen zu verstehen. Das ist manchmal etwas mühsam, glaube ich. Das Problem war am Anfang sehr groß, ich glaube, so langsam bekomme ich das besser in den Griff.

Erstaunliche Dinge ergeben sich beim Schreiben, es gibt so viele unerwartete Aspekte, die tatsächlich auch zurückreflektieren auf meine Wahrnehmung unseres Lebens. Das Buchprojekt hat sich über die Zeit, fünf Jahre arbeite ich nun schon daran, immer wieder verändert. Zwei Jahre lang habe ich fast nur recherchiert und gelesen, und dann dachte ich, ich hätte einen ziemlich guten Überblick über den Autismusdiskurs und habe alles mögliche dazu aufgeschrieben, aber dann funktionierte das irgendwie nicht. Es war erstens mal viel zu akademisch (wahrscheinlich, weil ich dem Schreiben an der Uni noch zu nah war) und außerdem war es mehr oder weniger eine Zusammenfassung des Diskurses. Das war so ein bisschen meh.

Es fehlte auch deutlich das Persönliche, das wurde mir mit der Zeit immer klarer. Ich hatte das alles ja nicht grundlos recherchiert und gelesen und geschrieben, sondern weil es mich zutiefst betrifft. Ich dachte immer mehr, dass es eigentlich feige ist, sich hinter einer totalen Sachperspektive zu verstecken, als behandele man das jetzt mal eben alles ganz distanziert, wissenschaftlich oder journalistisch. Das war es ja nicht. Also schmiss ich alles über den Haufen und nahm das Persönliche rein, und dann stieß ich auf ganz viele Probleme. Wie schnell das nach Jammerei klingt, oder nach Eigenlobhudelei, wie öde viele Themen sind (ich sage nur: Schulsuche), wie schnell man Wertungen vornimmt, wo sie gar nicht gemeint sind. „Man Wertungen vornimmt“? Auch das: wie schwer es ist, im Text ein starkes Ich zu entwickeln, ohne zu viele Ironien oder zu viel Um-den-Brei-Schleichen, weil /man/ nicht sagen möchte, was /man/ denkt. Andererseits natürlich, sobald das Ich im Text stark ist, die Gefahr, dass das in eine zu starke Betroffenheitsperspektive abrutscht.

Jetzt bin ich bei der Halbzeit der englischen Version, doktere an den sieben angeblich fertigen Kapiteln aber ständig noch rum, sobald mir wieder auffällt, wo noch ein Fallstrick liegt. Eigentlich sollte ich das mal in einer Lesegruppe vorstellen und Kritik erbitten, denn alle blinden Flecke kann ich nicht selbst finden, sonst wären sie ja keine blinden Flecke. Wenn jemand eine Idee hat, wo das mit einem englischen Text in Berlin möglich wäre, bitte gerne melden.

Im Großen und Ganzen ist das Buchprojekt mittlerweile, und gerade innerhalb der letzten vier Wochen, viel persönlicher geworden, als ich es gedacht hatte. Ich kann glücklicherweise viel von meinem alten Text einbinden, und trotzdem wird es jetzt ganz anders. Manchmal ist das toll. Manchmal aber auch eher nicht, denn es bleibt natürlich immer die Frage: will ich dies oder das wirklich erzählen. (Da geht es mir wie Caro.) Vielleicht ist es tatsächlich eine ganz gute Schicksalsfügung, dass kein Verlag daran interessiert ist. So als Selbstpublikation und Print-on-Demand ist es auch in der eigenen Wahrnehmung niedriger aufgehängt. (Immer, wenn ich zweifle, weil wir nur Absagen bekommen, sagt Scott: „Who cares, we’re doing this for us.“)

Halbherzig funktioniert es jedenfalls für mein Gefühl nicht. Ich habe kürzlich das Buch Familienstand: Alleinerziehend gelesen. Es gibt kein Ich in dem Buch, und zudem ist alles pseudonymisiert und anonymisiert. Es gibt ein paar Flüchtigkeitsfehler in diesem Prozedere, ein Sohn wird zur Tochter (S. 78), eine Kathrin V. zu Kathrin M. (S. 99), eine Mutter, die in Leipzig wohnt, wird auf Berlin bezogen (S. 105), das ist mir jeweils sofort ins Auge gefallen, weil ich innerlich so sehr damit gehadert habe, dass das so wenig echt oder aufrichtig schien. Außerdem fehlte mir sehr die persönliche Perspektive der Autorin. Natürlich verstehe ich, dass die Mütter sich nicht so exponieren möchten, ganz klar, aber was bleibt dann am Ende? Deshalb und umso mehr weiß ich es zu schätzen, dass sich im Buch von Andrew Solomon die Familien diesem Projekt mit ganzem Herzen zugewendet haben. Das kann nicht einfach gewesen sein, und das respektiere ich sehr.

judging a book by its cover.

„Ich liebe Dich nicht, aber ich möchte es mal können.“ Auf dem Cover steht ansonsten nur der Name der Autorin, Tessa Korber, also denkt man erst einmal intuitiv, sie wäre das Ich. Eine Mutter, die ihr Kind nicht liebt? Aber nein, bei Bayern 2 erzählte Tessa Korber, wie es zu dem nicht als Zitat gekennzeichneten Titel kam: hier wurde ein Gespräch zwischen der Autorin und ihrem autistischen Sohn montiert. Auf die Frage der Mutter, ob er sie liebe, antwortete der Sohn: „Nein, aber ich möchte es mal können.“ So viel zum irreführenden Titel, der mit Tabubruch spielt und dabei auch deutlich auf die längst überholte, aber unterschwellig noch im öffentlichen Bewusstsein verankerte Theorie rekurriert, Autismus entstehe durch Mütter, die sich dem Kind gegenüber emotional kalt verhielten (Stichwort Kühlschrankmutter). Auf doppelte Weise spielt der Titel mit dem Bild der Mutter, die ihr Kind nicht liebt.

Das Cover dunkel, das Kind darauf nackt, verletzlich, ausgeliefert, schutzbedürftig. Das verstärkt das doppelte Spiel des Titels. Alle typischen Stereotypien im Autismus-Porträt werden erfüllt: das Kind ist alleine zu sehen, ohne Interaktion mit der Kamera. Der Gesichtsausdruck im Profil traurig, ins Leere starrend. Dem Betrachter wird der Eindruck von Einsamkeit und Zurückgezogenheit in sich selbst vermittelt, die fotografische Darstellung verstärkt gängige Stereotypien in der Wahrnehmung von Autismus.

Das ist alles so 20. Jahrhundert. Da ist mal eine Autorin, die so etabliert ist, dass ihr ein Publikumsverlag Raum für das Thema Autismus bietet, und dann kommt dabei sowas Klischeehaftes raus. Schade, eine schöne Chance vertan. „Mein Kind ist kaputt gegangen, es ist einfach zerbrochen“, oh je, im Ernst noch 2012 diese – gegenüber dem Wesen des Kindes so respektlose – Rhetorik? Bitte einmal Jim Sinclair lesen, Don’t mourn for us. Bei Ullstein lese ich folgendes Zitat der Mutter und Autorin: „Schon oft habe ich davon geträumt, mit ihm ganz fest im Arm von einem Hochhaus zu springen.“ Wtf? Offensichtlich ist die Mutter überfordert und braucht Hilfe. Leider ist ein Buch zu schreiben nicht immer die richtige Therapie. Ich hoffe, das Kind ist nicht wirklich in Gefahr.

Und dann ist da noch der Trailer: „Wenn Sie ein behindertes Kind haben, hassen Sie unendlich. Das ist tatsächlich so, Sie hassen die Gesunden, Sie hassen die, die es einfach haben und denken, Sie hätten es schwer…“ Ich will das gar nicht weiter zitieren – es ist meistens nicht schön, wenn jemand seiner Missgunst öffentlich freien Lauf lässt – ich würde mir allerdings wirklich wünschen, dass Tessa Korber nicht so pauschalisierend sprechen würde, denn sie sollte sich zumindest bewusst sein, dass sie nur für sich selbst spricht und nicht für andere Eltern behinderter Kinder. Ich habe ein behindertes Kind und hasse nicht: nicht die Gesunden, und auch nicht die, die es einfach haben, sogar nicht einmal den Kinderchor. So geht es nun wirklich nicht.

Gute Rezension im Deutschlandradio.

Und: ganz großartig: A Life Pretty Full of Love. So geht es.

autisten.

Um 15:45 Uhr heute und morgen früh um 9:00 Uhr zeigt einsfestival die Doku „Autisten“ von Wolfram Seeger. Hoffentlich kommt sie danach in die Mediathek. Sehr empfehlenswert, as in: unbedingt ansehen, bitte. Wirklich. Einen besseren Einblick kann ich mir nicht vorstellen. Es ist natürlich hier und da eine Frage, ob man von Seiten der Betreuer oder Institutionen auch anders mit bestimmten Situationen umgehen könnte, ich habe da schon auch einige Reibungspunkte, aber das ist kleinklein im Gegensatz dazu, wie unglaublich aussagekräftig dieser Film ist: die einfache Begleitung, ohne Kommentare oder Bewertungen, das ist wirklich, wirklich empfehlenswert, ich würde es direkt nochmal betonen, wenn ich es nicht schon mehrfach gesagt hätte. Tut Euch selbst einen Gefallen und seht Euch das an, das lohnt sich jenseits jeglicher Fragen um und über Autismus auch für die Einschätzung des eigenen Lebens. [#]

keep your mind set, keep you hair long.

Ein Mann beschwerte sich in der Schweiz darüber, dass die Bordsteine unterschiedlich hohe Kanten haben, das mache das Gehen so gefährlich, und ich dachte an die Frau, die auf der angeblich zu nassen Gangway in Antwerpen umgeknickt war und sich den Knöchel gebrochen hatte, und an die Frau, die nach dem Lunch im Savoy in Berlin die Treppe zur Toilette hinuntergestürzt war, weil das Geländer dort erst bei der dritten Stufe beginnt, und an all die Evaluationsbögen, in denen die Leute das Kopfsteinpflaster überall in Europa bemängeln, und fehlende Klimaanlagen (eine Zumutung, tatsächlich Hitze spüren zu müssen), und je mehr ich mit den amerikanischen Gruppen arbeite, umso mehr nehme ich wahr, wie fast all ihre Kritik darauf hinausläuft, dass sie Standardisierungen der ein oder anderen Form vermissen. Ohne Standardisierung erleben sie sofort Kontrollverlust und Unsicherheit. Die Unebenheit des Kopfsteinpflasters ist auch und vielleicht vor allem ihr philosophischer Feind.
~
Ein Mann sagte: „I’m always happy to see a McDonald’s. Whenever I see a McDonald’s while traveling, I know that civilization has arrived to this place.“
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Das hört sich jetzt viel schlimmer an, als es war, denn es war tatsächlich toll in der Schweiz, und die Reisegruppe war sehr, sehr nett. Zum Abschied haben sie mir sogar einen iPod Touch geschenkt, mit dem ich nun begeistert fotografiere, Videos aufnehme, Mails checke – und Musik höre.
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Ich weiß jetzt etwas, das ich als Flachlandkind vorher nicht wusste. Oben am Gornergrat habe ich zum ersten Mal den Ruf der Berge gehört, auch wenn man ihn gar nicht hören kann. Ein wortloses Wissen.
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Fast dachte ich, wir sollten in die Schweiz ziehen, aber dann fuhr ich zwei Stunden lang mit dem Fahrrad durch Berlin, eine gerade erst zusammengestellte Compilation im neuen iPod auf dem Ohr, kaufte in der Oranienstraße Tickets für Mina Tindle im Festsaal Kreuzberg und dachte mir: „Who am I kidding?“
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Zuhause: John möchte am liebsten den ganzen Tag auf dem Sofa rumlungern, entweder Chips oder Eis essen und dabei Musik hören beziehungsweise Youtube-Videos ansehen. A teenager is in da house, pünktlich zum 12. Geburtstag nächste Woche.
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Gestern Elternabend in der Schule, alleiniges Thema die Kürzungen. Logopädie und Ergotherapie gibt es jetzt nur noch auf Rezept, die Kosten sind also zum Gesundheitswesen verlagert worden und bald lesen wir dann, wieviel mehr Geld die Krankenkassen für Therapien ausgeben und wundern uns (nicht). Die Musiktherapie wurde gestrichen, die können die Eltern nun selbst bezahlen, wenn sie denn möchten/ können. 4,5 Lehrerstellen sind weg und auch hier wundern wir uns (nicht), wie das zu den Pressemitteilungen passt, das Land Brandenburg habe 800 neue Stellen geschaffen, denn bei dem, was dem Bürger als Einstellungen verkauft wird, handelt es sich in Wirklichkeit nur um Entfristungen, also darum, dass Lehrer, die sowieso schon da waren, feste Verträge bekommen haben. Die übliche Augenwischerei. Neue Lehrer gibt es nicht, und bei den freien Schulen hat man die Anzahl sogar großzügig gekürzt. Warum? Weil die Lehrer für die Inklusion gebraucht werden, die man kostenneutral umsetzen will. Aus dem gleichen Grund soll zum Jahr 2014 die Beschulungszeit um drei Jahre gekürzt werden. Bisher gab es so genannte Werkstufen, die die jungen Erwachsenen zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren besuchen konnten, ab 2014 ist mit achtzehn Schluss. Dann verlassen statt normalerweise circa fünfzehn auf einen Schlag 51 Schüler die Schule. Werkstatt- und Förderplätze gibt es für diesen Ansturm nicht, im Gegenteil: die Werkstattplätze sollen noch gedeckelt werden. Eltern, deren Kind rund um das Jahr 2014 achtzehn wird, können sich schon mal drauf einstellen, dass es für den jungen Mann oder die junge Frau keinen Platz gibt außer im Hotel Mama, die dann wieder aufhören kann zu arbeiten. Aber so werden natürlich auch wieder Lehrerstellen in den Sonderschulen frei, die man für die kostenneutrale Inklusion braucht. Das ist alles politisch so gewollt. Es war von Anfang an klar, dass die Schwächsten und am schwersten Beeinträchtigten am meisten drunter leiden werden, aber das interessiert keinen. Mich interessiert es jetzt auch nicht mehr, ich gewinne am Wochenende einfach im Lotto und baue John irgendwo ganz weit draußen ein Haus, das seinen Bedürfnissen entspricht. Or what?

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