why are we ambitious about autism?

Oh, auf der Suche nach möglichen Ansprechpartnern für unser Kickstarter-Projekt bin ich auf ein tolles Video gestoßen: Ambitious About Autism.

Wir sind nicht die Einzigen mit dieser Supermarktsituation, und überhaupt alles: alles so ähnlich.
„And the one thing that families like ours need more than anything else is understanding and compassion instead of judgement.“

Unbedingt ansehen, bitte.

the magic wheelchair.

John geht es gerade nicht so gut, er flippt oft aus, laut und aggressiv, wir sind gemeinsam mit der Schule und allen Beteiligten auf Ursachensuche. Zweimal hat er auf dem Spielplatz verzweifelt geweint. Er saß jeweils auf der Schaukel und beobachtete Kinder beim Spielen, und plötzlich flossen die Tränen in Strömen, wir boten ihm an, nach Hause zu gehen, aber das wollte er nicht, er wollte auf der Schaukel sitzen bleiben und weiter den anderen Kindern zusehen. John nimmt seine Umwelt jetzt viel stärker wahr, und ich glaube, dieser eigentlich positive Entwicklungsschritt bereitet ihm Schmerzen, denn dadurch merkt er nun auch, wie sehr er ein Außenseiter ist, und er versteht nicht, was und wie die „normalen“ Kinder spielen. Verstecken, Fangen, Fußball, er versteht die Zusammenhänge nicht, die Interaktion. Aber er will es beobachten. Ich glaube, er versucht zu verstehen, wie sie das machen, aber dann versteht er es doch wieder nicht, und dann kommen die Tränen. Aber John hat ja völlig Recht: weglaufen nützt nichts. Er muss sich dem stellen, auch wenn es schmerzt. Er wird immer anders sein und er wird einen Weg finden müssen, mit sich, seinem Anderssein und seiner Umwelt zurechtzukommen. Wie mutig er wirklich ist. Wir versuchen so gut wie möglich, ihn zu unterstützen und zu ermutigen (statt mit ihm zu weinen, was man natürlich sofort tun möchte, wenn man hilflos daneben steht).

Wir können ihm diese Aufgabe und diesen Schmerz leider nicht nehmen, das ist vielleicht das Schwierigste. Wir können ihm nur zeigen, dass wir immer für ihn da sind, und ich glaube, das weiß er auch und spürt er auch, aber leider ist es nicht mehr wirklich genug. Er wird bald 12 Jahre alt. Mama und Papa, schön und gut, aber seine Orientierung geht nun deutlich über uns hinaus. In seiner Klasse kommt er mit den anderen Kindern sehr gut zurecht, sie mögen ihn auch sehr, aber John interessiert sich jetzt für „normale“ Kinder und wie sie miteinander spielen. Einmal habe ich auf dem Spielplatz in Neukölln zwei sehr nette türkische Mädchen getroffen und sie gefragt, ob sie mit John auf eine große Schaukel gehen würden. Das haben sie gerne gemacht und John hat sich total gefreut. Vielleicht sollten wir noch einmal einen Anlauf nehmen für die gemischte Sportgruppe der behinderten und nicht-behinderten Kinder. Vor Jahren hatten wir es schonmal probiert, aber damals hat es John noch gar nicht interessiert. Vielleicht ist es nun an der Zeit dafür.

Jedenfalls denke ich, dieser Schmerz von John, der auch unserer ist, könnte vielleicht ein Grund sein, warum er immer wieder ausflippt. Es wäre so schön, wenn er bei der Kommunikation ein paar Fortschritte machen würde – nicht, weil es eine Erwartungshaltung von mir ist, sondern weil es ihm selbst so helfen würde. Aber leider kommen wir weder mit Bildern, noch mit Gebärden, noch mit wiederholten Worten so richtig weiter im Moment, im Grunde sind wir in einer Warteschleife, und geben einfach von Tag zu Tag unser Bestes, one day at a time. Manchmal ist es eben schwer, für ihn, für uns, und dann hilft es aber eben auch gerade gar nicht, wenn man ständig abwertend angestarrt wird.

Wenigstens Letzteres haben wir einmal überwunden. Wir fuhren zu Ikea, John war schon im Auto genervt und wir befürchteten einen baldigen Ausbruch. Da sahen wir einen dieser Ikea-Rollstühle. John wird wahnsinnig gerne herumkutschiert, wir könnten ihn also in den Rollstuhl setzen und in Ruhe einkaufen, dachten wir, weil er wahrscheinlich gut gelaunt wäre, solange wir ihn herumfahren. Wir zeigten also seinen Behindertenausweis vor, hinterlegten einen Personalausweis und schoben los, und tatsächlich war John schlagartig gut gelaunt. Er machte seine glucksenden Ich-bin-glücklich-Geräusche, inklusive seinem signature dance, dem bereits seit 2006 praktizierten rudernden Sitztanz. Völlig unerwartet begegnete uns eine ganz andere Welt, in der es lauter lächelnde Leute gab. Wohin wir auch schoben, überall freundliche Menschen, Leute traten vorausschauend zur Seite, ließen uns im Restaurant sogar in der Schlange vor, es war einfach unfassbar. Wie oft schon habe ich mit John an Supermarktkassen angestanden und er flippte total aus, biss sich in die Hand, alle starrten uns an, aber keiner ließ uns vor – und nun, da John glücklich glucksend dasaß, wir völlig entspannt, wollte uns eine Frau unbedingt vorlassen.

Noch nie ist mir so klar gewesen, wie viel Mitgefühl körperlichen Behinderungen im Gegensatz zu geistigen Behinderungen entgegengebracht wird. Wir sind es schon so gewohnt, ablehnend, sogar angewidert angestarrt zu werden, man stumpft ja auch ab mit der Zeit und hält das für normal. So richtig bewusst geworden ist mir die Tragweite des Ganzen deshalb erst, als wir mit John in der Rollstuhlwelt unterwegs waren. Wenn wir eine Horrorszene im Supermarkt haben, dann denken die Leute vielleicht, wir seien unfähig, das Kind gescheit zu erziehen, ganz anders mit dem Rollstuhl, da vermittelt sich die Behinderung schon im ersten Anblick – und in dem Moment ist dann die geistige Behinderung plötzlich auch okay, anscheinend braucht sie nur einen deutlich sichtbaren Signifikanten. Es freut mich für die Menschen mit Körperbehinderungen, dass sie schon so viel deutlicher ein Teil der Gesellschaft sind, aber meine Güte, was für ein weiter Weg im Gegensatz dazu noch vor uns liegt, was geistige Behinderungen betrifft. Inklusion, das ist leider viel mehr als abgesenkte Bordsteine.

(Ansonsten hat sich John übrigens in Claudia Kleinert verliebt: wenn sie in der ARD oder auf rbb das Wetter ansagt, geht John zum Fernseher und gibt ihrem Mund auf dem Bildschirm einen Kuss.)

mama be good.

Wie schön:

„Disability opened doors for me and my son because it opened my mind.  I saw choices where I’d seen none before.  That other path, that typical path, was set in stone: best schools, best extracurricular, best arts program, best courses, best grades, best university, best job. I couldn’t see that all these „bests“ were my anxiety, my trying to control the chaos of life, the ways I was narrowing the experiences life can offer because I was too afraid. Disability made me stop and say, Why am I so afraid?  Life’s chaos will happen, no matter how tight we think our grip is, no matter how much we try to control our lives and our children’s, no matter how much we scrub our bathroom floors. Disability showed me I had two choices: I could learn to be comfortable with the chaos.  Or I could lead a life of anxiety.  I realized how disabled I had been in my life by my fear.  That’s disability.  That’s not the kind of life I want for my child.

And that’s when I saw all the choices.  That education didn’t mean school.  That learning didn’t mean listening passively to a teacher.  That play is more important than tying shoes.  That an emotional foundation, not skill sets, was the first priority for children.  That tickling a child’s foot for fun is fundamentally different from moving a child’s foot for therapy – and that children can feel the difference in their brains. My job as a parent is the same as any other parent’s, non-disabled or disabled child.  My job is to love, comfort, nurture, soothe, play, and talk.  My job is to feed my child’s curiosity by exposing him to the world, people, music, machines, animals, nature.  My job is to allow him to try things so he can find something he loves to do. My job is to allow him to feel, to really feel how wonderful he is just the way he is right now and that he doesn’t need to be fixed.“ [#]

erleben.

„Soweit meine Erinnerung zurückreicht, hat mir die Intensität des Lebens schon immer Schmerzen bereitet. Ich habe sehr früh verstanden, dass ich in einer Kultur lebe, die Trennung und Abnabelung trainiert. Doch selbst als erwachsene Frau hat alles um mich herum eine Persönlichkeit, von Brombeerblättern bis hin zu Biegungen des Baches, alles um mich herum sind Resonanzen, erweiterte Bilder von mir selbst. Meine Welt ist ein Ort, an dem die Menschen gleichzeitig zu schön und zu schrecklich anzusehen sind, ihre Münder sprechen Worte, die ich manchmal nicht höre, aber ich höre, wie ihr Herz zerbricht. Ich frage mich, wie die Welt es schafft, nicht taub zu werden vom Lärm aufgeregter Herzen und vom Getöse unvergossener Tränen und ungeweinter Freude.“

[Dawn Eddings Prince, Autistin, in: Ethos. Journal of the Society for Psychological Anthropology, Vol. 38, Issue 1, 2010.]

(Dieses Zitat habe ich in der Recherche zu meinem Autismusbuch gefunden. Nur so viel nochmal zur angeblich eigenen Welt, in der Autisten leben.)

unbehagen.

Vorgestern in zibb ein Portrait einer Familie mit zwei autistischen Kindern.

Angekündigt wird der Bericht mit den üblichen Klischees: für Eltern gehöre es zu den schönsten Momenten, ihr Kind in den Arm zu nehmen und zu kuscheln, aber die Eltern von Annika und Sebastian müssten darauf weitgehend verzichten, denn ihre Kinder „sind Autisten, das heißt, sie leben oft in ihrer eigenen Welt, die Nähe und Kommunikation kaum zulässt. Die beiden Geschwister leiden an einer angeborenen und unheilbaren Entwicklungsstörung des Gehirns.“ Stolze 26 Sekunden Intro und wir haben schon die üblichen Schlagworte gehört: eigene Welt, keine Nähe, und natürlich /leiden/ die Kinder an Autismus.

Noch in der Intro allerdings die tröstliche Nachricht an den Zuschauer: die Eltern „versuchen, das beste draus zu machen.“ Was heißt das, dass die Eltern versuchen, das beste draus zu machen? Es impliziert vor allem eine Insuffizienz der Kinder, was sowohl ignorant als auch herablassend ist. Oder würde man bei zwei nicht-behinderten Kindern auch so berichten: die Eltern versuchen, das beste draus zu machen?

Im Bericht selbst wird die Wendung der eigenen Welt dann erfolgreich totgeritten, insgesamt fünf Mal in vier Minuten begegnen wir dem Klischee von der eigenen Welt, in der die autistischen Kinder angeblich leben. Wir erfahren, beim zweiten Kind seien die Eltern „nicht mehr so tief gefallen“, als die Diagnose kam. Die Aneinanderreihung von stereotypen Wendungen aus dem Wortsetzbaukasten Autismus geht also weiter, hier mit dem gerne zitierten Mythos des Schocks, den die Diagnose bedeutete. Dieser Mythos wird in Berichten über Autismus gerne zitiert, ich kann nur sagen, dass es bei mir überhaupt nicht so war, und ich kenne auch andere Eltern autistischer Kinder, die es nicht so empfunden haben. An den Ausführungen der Mutter im Bericht merkt man, dass sie mit der Frage nach dem „tiefen Fallen“ auch nicht viel anfangen kann, sie antwortet: „Was nützt es, sich da tief fallen zu lassen, es sind unsere Kinder.“

Im weiteren Verlauf sehen wir dann plötzlich Kinder, die eigentlich ganz glücklich aussehen, und eine Familie, die glücklich wirkt. Annika sitzt auf dem Schoß des Vaters und spielt mit ihm. Wie das? Nun, wir erfahren, dass sich Annika zum Beispiel bei Musik doch durchaus öffne (diese Anspielung auf die eigene Welt habe ich oben noch nicht einmal mitgezählt), und wir sehen, dass auch Sebastian sowohl in seinem Rahmen kommuniziert als auch Spaß hat am Blättern in einem Traktorbuch. Das sind also die Kinder, von denen in der Intro gesagt wurde, aufgrund ihres Autismus müssten die Eltern weitgehend darauf verzichten, sie in den Arm zu nehmen und mit ihnen zu kuscheln? Wir sehen, wie Annika in den Armen der Mutter mit ihr durch die Küche tanzt, eine fröhliche und sehr nahe Szene. Je weiter wir in die vier Minuten und sechzehn Sekunden des Berichtes hineinkommen, umso größer wird die Diskrepanz zwischen Bild und Text.

Es lässt sich vielleicht nur dadurch erklären, dass der Bericht auf eine recht krude Weise die These zu transportieren versucht, Annika und Sebastian hätten sich vor allem auch durch eine Verhaltenstherapie aus den USA /geöffnet/. Der Vater sagt bewusst vorsichtig, er denke, die Therapien hätten dazu beigetragen. Die beiden Kinder haben Co-Therapeuten, die fünf Tage die Woche an sechs Stunden pro Tag mit ihnen zusammen sind. Das ist auch ganz verständlich, denn wir erfahren, dass beide Eltern berufstätig sind, da brauchen sie natürlich jemanden, der sich nachmittags um die Kinder kümmert.

Wissenschaftlich ist es dabei allerdings völlig unerwiesen, ob die Verhaltenstherapie einen Nutzen hat. Mein Eindruck ist, dass das Entscheidende der Kontakt an sich ist: wenn die Kinder jemanden haben, der mit ihnen intensiv in Kontakt tritt (das können Einzelfallhelfer, Pflegekräfte, von mir aus auch Co-Therapeuten genannt, sein oder auch die eigenen Eltern, ich würde es aber nicht Therapie nennen, sondern Zusammensein), entwickeln sie sich ganz natürlich weiter. Wie bei jedem anderen Kind findet Entwicklung einfach statt, im Kontakt zu anderen, und das gilt auch für autistische Kinder. Letztlich scheint es mir ebenso einfach wie groß zu sein: solange man ihnen Zeit, Geduld und Liebe schenkt, und sich das Leben gemeinsam schön macht (was etwas ganz anderes ist, als „das beste draus zu machen“), können autistische Kinder gedeihen und auch glücklich sein, gemeinsam mit uns in einer Welt.

Interessanterweise sehen wir all das in den Bildern dieses Berichtes ganz wunderbar – wenn nur der Text nicht wäre, den man in seinen Stereotypien vielleicht als autistisch bezeichnen könnte, wenn man dazu geneigt wäre, solche Metaphern zu verwenden.

you have to be there to understand.

„I visited the National Gallery of Art when I was three months pregnant with my daughter Iz, who is now thirteen. I had never been fond of abstract art, but upon walking into a room full of Rothkos — experiencing their luminous, subtle color play in person, at full scale, I wanted to fall to my knees and shout, „I’m sorry! I get it now!“

It’s like that with Leo. You have to be there, watching, intensely, in person, to understand what he’s about. If you focus only on the obvious things — not speaking much, getting easily frustrated, obsession with food — you’ll miss the little things, the sly things, the actions that reveal not just his capability but his potential.“ [#]

an später denken.

Sonntag waren wir in der Matinée, Barenboims Klavier-Zyklus in der Staatsoper im Schillertheater, Schubert. Immer noch große Barenboim-Fanin. Wenn ich das Geld hätte, würde ich zu jedem seiner Konzerte gehen, ich glaube nicht, dass ich daran ermüden könnte.

Montag Nachmittag habe ich Isas Wirsing-Quiche nachgekocht. Ich möchte immer auch mal ein Rezept von Anke nachkochen, aber Isa hatte schon wieder ein Rezept, dessen Zutaten ich gerade Zuhause hatte, einen halben Wirsing, also voilà. Lecker, sehr lecker.

Montag Abend war ich im Haus Rosemarie Reichwein der Spastikerhilfe Berlin beim Vortrag An später denken von Carola von Looz, die Betreuungsrichterin und selbst Mutter einer Tochter mit geistiger Behinderung ist.

Wenn Eltern ein Kind mit einer schweren geistigen Behinderung bekommen, leisten sie einen Schwur: „Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit es Dir gut geht. Ich werde mich um Dich sorgen, solange ich lebe. Ich werde immer für Dich da sein.“ Aber was kommt danach? Was ich vernommen habe: eine sanfte, aber deutliche Warnung, dass Eltern dazu neigen, zu feste Strukturen für ihr Kind zu planen. Zeiten ändern sich, Umstände ändern sich, Menschen ändern sich. Die Strukturen, die man plant, sollten so flexibel sein, dass sie auch mit solchen Veränderungen noch funktionieren. Am besten geeignet: Netzwerke. Sie sind offener und zugleich sicherer als eine Engführung, die beispielsweise an eine einzige Betreuungsperson gebunden ist. Verwandte, Freunde, Nachbarn, Ärzte, Therapeuten: diejenigen, die mit dem Kind bzw. dann erwachsenen Menschen mit Behinderung zu tun haben, sollten einander kennen, Kontaktdaten haben, und eine gute Meinung voneinander (wozu man selbst beitragen kann).

Das innere Leben eines Menschen bleibt weitestgehend sein Geheimnis. Das gilt im Besonderen, wenn jemand nicht sprechen kann, aber dennoch gilt auch für ihn oder sie: das Leben findet in der Seele statt, gespeist von Sinneseindrücken. Keine Regelungen, die Kinder zu Statisten in ihrem eigenen Leben machen. Nicht zu viel vom Eigenen vorgeben. Zulassen, dass sie nicht nur durch die Eltern abgeleitete Beziehungen haben.

Was macht ein erfülltes Leben aus? Viele Eltern konzentrieren sich in der Sorge um ihr schwerbehindertes Kind darauf, dass es jederzeit sicher und schmerzfrei sein soll. Für unser eigenes Leben hingegen sind das nicht die Kriterien, die ein erfülltes Leben ausmachen. Wichtiger ist uns zum Beispiel, dass wir schwierige Situationen gemeistert haben, dass wir daran gewachsen sind. Wichtiger sind uns Kontakte zu Menschen. All das gilt auch für einen Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung. Glücklichsein begründet sich nicht alleine in Schmerzfreiheit und Sicherheit.

Die erste Beerdigung, die das eigene Kind besucht, sollte idealerweise nicht die des Vaters oder der Mutter sein. Auch Trauer muss eingeübt werden.
(Methoden an die Hand geben, Trauer zu verarbeiten.)

Das Bewusstsein der eigenen Biografie ist sehr wichtig, für jeden Menschen. Ein Kind mit einer schweren geistigen Behinderung, zumal wenn es nicht spricht, kann dieses Bewusstsein aber nicht selbst durch die Zeit transportieren, und andere Bezugspersonen wechseln meistens im Laufe der Zeit. Dies ist die besondere Aufgabe der Eltern. Wir sind Zeitzeugen des Lebens unserer Kinder. Mit uns stirbt alles, was wir nicht aufgeschrieben haben beziehungsweise hinterlassen. Frau von Looz regte an, einen sogenannten Lebensordner anzulegen, in dem alles Wichtige dokumentiert wird: Umzüge, wichtige Veränderungen, Highlights im Leben, Reisen, Krankheiten etc. Wer sich das Schreiben nicht selbst zutraue, könne sich an ein Schreibbüro wenden. Fotos sind dabei natürlich auch von großer Bedeutung.
(Ich muss an den bewegenden Moment denken, als Sabine sich das Video ihrer Reise nach New York ansieht, in Ihr Name ist Sabine.)

Wichtig neben Personen sind aber auch Bilder von Orten, Zimmern, Gegenständen und Wegen. All das wird irgendwann weg sein, anders sein, aber die Bilder können es der Tochter oder dem Sohn in Erinnerung rufen.

Fotos von Ritualen der Familie. Die innigen Momente, die so wesentlich sind, und von denen man dennoch – ausgerechnet – meistens keine Abbildung hat.

Was mir dabei einfiel, und was im Vortrag nicht erwähnt wurde: Weblogs haben das natürlich alles revolutioniert. Wenn ich nur daran denke, wie lange ich schon Kristina Chew lese oder Shannon des Roches Rosa, um zwei Beispiele zu nennen: würde ich Charlie oder Leo begegnen, wenn sie 40 oder 50 Jahre alt sind, dann wüsste ich, wann sie Fahrrad fahren gelernt haben oder ihr erstes iPad bekamen, welche Apps Leo mochte und dass Charlie immer gerne Burritos aß.

Bildnis des Weblogs als Lebensordner.

Interview: My baby rides the short bus, natürlich KQED.

kommunikation.

Was mir zum time warp noch einfiel: weitgehende Nonverbalität ist natürlich nicht das gleiche wie Sprachlosigkeit. Ein Mantra für Kinder wie John, das ich in einem hilfreichen Artikel einmal gelesen habe, liegt eigentlich auf der Hand, aber ich muss es mir trotzdem immer wieder sagen, wenn eine Situation schwierig ist: Verhalten ist Sprache. Auch der Körper ist nicht nur Vehikel, sondern Sprache. Ein Kind, das nicht spricht, kann sich nur mit seinem Körper ausdrücken.

Dazu kommt eine mögliche sensorisch-motorische Verwirrung zwischen egozentrischem und allozentrischem Raum, wie der Wissenschaftler Shaun Gallagher beobachtet hat. Er hat bemerkt, dass autistische Kinder bei Imitationsversuchen den Körper des Gegenübers benutzen anstatt mit dem eigenen Körper zu imitieren.

Auf diesen Einsatz des Körpers und des Verhaltens als Sprache sollte man also nicht emotional reagieren, sondern analytisch. Gerade in Momenten, in denen man angegriffen wird, kann das schwer sein. Die Therapeutin Kristin Kaifas-Tennyson schreibt: „Die meisten Menschen denken, sie werden ganz einfach in der Lage sein, eine Situation distanziert zu betrachten. Dies ist aber häufig nicht der Fall, denn es ist ganz natürlich, dass man seine Gefühle nicht wie einen Lichtschalter ausschalten kann, besonders, wenn diese Gefühle gerade verletzt wurden.“ Deshalb muss man sich immer wieder sagen: Verhalten ist Sprache. Dann kann man versuchen, das Verhalten zu übersetzen.

Autismus als Übersetzungsaufgabe.

Ganz abgesehen davon hat John einen großen Schritt getan, indem er in der Bildkartenkommunikation fast vollständig von der Fotoebene (also reinen Abbildungen, etwa unseres Autos oder der Badewanne) auf die Symbolebene gekommen ist. Das hat den Vorteil, dass sich dann auch andere als rein gegenständliche Dinge greifen lassen, wie zum Beispiel ein Symbol für das Rausgehen.

Rausgehen

Es hat auch den Vorteil, dass die Symbole viel übergreifender einsetzbar sind: wenn der Schulbus wechselt, müssen wir kein Foto vom neuen Bus mehr machen und laminieren, das Symbol Bus bleibt gleich. Mit anderen Worten ist die Symbolebene eine erheblich abstraktere Leistung, und John kommt damit zurecht. (Was natürlich nichts daran ändert, dass es trotzdem ständig hakt, weil sich so vieles auch anhand von Symbolen statt Fotos nicht kommunizieren lässt. Dazu kommt, dass John selbst noch immer kaum aktiv auf diese Kommunikation zurückgreift, sie mit wenigen Ausnahmen eher passiv annimmt. Da ist der Nutzen begrenzt, weil er verbale Sprache, also die einfachere Variante, auch immer besser versteht. Der Schlüssel würde in der Aufhebung der Einbahnstraße liegen. Solange er selbst, wie gesagt mit einigen Ausnahmen, weder verbale noch symbolhafte Kommunikation als Ausdruck seines Wünschens und Fühlens benutzt, und er im Verhalten als Sprache verharrt, bleibt uns das zu-zu-zu?-Ratespiel erhalten.)

Ganz interessant: Cassirer über die taubstummen Helen Keller und Laura Bridgman: „Der spezifische Charakter der menschlichen Kultur und ihre intellektuellen und sittlichen Werte gehen nicht auf das Material zurück, aus dem sie besteht, sondern auf ihre Form, ihre architektonische Struktur. Und diese Form kann sich in allem möglichen Sinnesmaterial ausdrücken. Die Lautsprache ist der taktilen Sprache deutlich überlegen; aber die technischen Mängel dieser letzteren zerstören nicht ihre grundsätzliche Brauchbarkeit. Die freie Entfaltung von symbolischem Denken wird durch die Verwendung taktiler anstelle von lautlichen Zeichen nicht unterbunden.“

Verkehrserziehung

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