kaiser’s.

In der Gemüseabteilung bei Kaiser’s streiten sich eine alte Frau und ein alter Mann, beide sehen aus, als seien sie bestimmt schon 80 Jahre alt, sie schreit ihn an und flüchtet dann in die Getränkeabteilung, er humpelt traurig und verunsichert am Gehstock Richtung Ausgang. Ein Gegenbeispiel zur kürzlich gelesenen These, dass soziale Beziehungen mit dem Alter immer besser werden [#].

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Über Joan Didion und Joyce Carol Oates: For Sorrow There Is No Remedy

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Are People Nicer In Cities?

we obtain an urgent sense of now [museumsflash edition].

Zuerst haben wir uns im Martin-Gropius-Bau die Ausstellung Kompass. Zeichnungen aus dem Museum of Modern Art New York angesehen. Ein Bild, das mir sehr gefallen hat: Elizabeth Peytons Lunch (Nick).

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Der beste Titel geht an: „Love songs for assholes“

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Wo wir schon im Gropius-Bau waren, haben wir uns auch noch die Fotoausstellung Wenn der Vorhang fällt von Margarita Broich angesehen, mit einem sehr schönen Portrait von Christoph Schlingensief. Missing him.

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Wo wir schon neben der Topographie des Terrors waren, haben wir uns endlich auch einmal das neue Dokumentationszentrum von innen angesehen, das sonst immer voll von Reisegruppen und Schulklassen ist, aber letzten Freitag einigermaßen zugänglich war.

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Sonntag Museumsbesuch mit unserem Kandidaten, ein Versuch. Wir konnten uns die Ausstellung totgeschwiegen zwar nicht sehr ausführlich ansehen, aber John hat es ganz gut mitgemacht.

Kleiner Rückblick: eine Freundin und ihr Mann haben vor einiger Zeit eine Patenschaft für einen Stolperstein übernommen und ich hatte mir damals gedacht, dass ich auch gerne eine Patenschaft übernehmen würde, und zwar für ein behindertes Kind. Ich hatte der Kontaktadresse auf der Website gemailt und leider herausgefunden, dass es momentan keine unvergebenen Patenschaften für Kinder gab. Ich müsste selbst ein Kind finden, mein Kontakt empfahl mir, mit einer Schule in Kontakt zu treten, eine Klasse könne ein Forschungsprojekt unternehmen, das würde häufiger gemacht. Damit verlief sich das Ganze zunächst für mich, denn zur dafür nötigen Organisation war ich nie gekommen. Als ich nun aber das Buch Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst gelesen habe, kam ich zu der Idee zurück. In der Ausstellung haben wir ein Heft mit Stolpersteinen aus Reinickendorf gekauft und eine Frau im Museum nahm meine E-Mail-Adresse entgegen und möchte mich mit jemandem verbinden, der mir vielleicht weiterhelfen kann.

Zurück zur Ausstellung, die wirklich sehr empfehlenswert ist. Ein Junge erinnerte mich sehr an John, damals gab es noch keine Autismusdiagnosen, aber das Foto sieht sehr nach einem Autisten aus.

Der Text: „Von Geburt an hatte Joachim K. eine schwere geistige Behinderung. Das Jugendamt Kreuzberg wies ihn 1937 in die Wittenauer Heilstätten ein. Von dort wurde er im Alter von vier Jahren vorsorglich dem Hauptgesundheitsamt zur Zwangssterilisierung gemeldet. Die folgenden Jahre verbrachte der Junge in verschiedenen Heimen. Betreut wurde er von Wittenauer Ärzten, darunter Ernst Hefter, Gertrud Reuter und Gerhard Kujath. Das Jugendamt Kreuzberg als Kostenträger fragte wiederholt an, ob mit dauernder Pflegebedürftigkeit zu rechnen sei. Im Frühjahr 1942 durchlief Joachim, inzwischen vom ‚Reichsausschuss‘ erfasst, in der Fachabteilung Wiesengrund eine wochenlange Diagnosephase ohne Ergebnisse. Schließlich wurde er ins Kinderheim Marwitz zurückgeschickt. Ein halbes Jahr später lag offensichtlich die Tötungsermächtigung des ‚Reichsausschusses‘ vor. Joachim wurde erneut in die Fachabteilung aufgenommen. Zwei Tage nach seiner Wiederaufnahme starb er am 26. September 1942 ‚plötzlich‘ an einer Lungenentzündung. Joachim wurde nur 8 Jahre alt.“

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Das erinnert mich daran, dass ich auch schon lange mehr über den Runden Tisch zur angemessenen Gestaltung des T4-Gedenkortes herausfinden wollte. Die Wanderausstellung der Grauen Busse war sehr gut, es ist aber, huch, auch schon wieder erschreckende drei Jahre her, dass sie hier war.

frank o’hara.

animals

have you forgotten what we were like then
when we were still first rate
and the day came fat with an apple in its mouth
it’s no use worrying about time
but we did have a few tricks up our sleeves
and turned some sharp corners
the whole pasture looked like our meal
we didn’t need speedometers
we could manage cocktails out of ice and water
i wouldn’t want to be faster
or greener than now if you were with me O you
were the best of all my days

Weswegen? Weil es bei Coudal von Zadie Smith gesprochen wird: Poetry After the Beep

cis-börger.

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Was ich schon lange empfehlen wollte, für diejenigen, die es noch nicht kennen (ich habe kürzlich in einem Gespräch nämlich festgestellt, dass es durchaus noch Menschen gibt, die es nicht kennen): Meike Winnemuths Reiselog Vor mir die Welt.

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Zur Wertschätzung von Fleisch sagt ein einziges Werbeposter in Neukölln alles:

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Worüber ich in den letzten Tagen auch nicht hinwegkomme: In Mexiko gibt es 11 Milliardäre und 50 Millionen Menschen leben in Armut. [#]

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Kolja bloggt von der Leipziger Buchmesse. Wir reisen nicht so weit wie Meike Winnemuth und noch nicht einmal nach Leipzig, aber zu Ehren des Gastlandes der Buchmesse lese ich gerade Hamam Balkania von Vladislav Bajac. Meine Reisen finden wieder hauptsächlich in Büchern statt, wie früher als Kind.

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Die New York Times soll eine Paywall erhalten, vielleicht werde ich sie demnächst also auch in der Bibliothek lesen müssen, so wie andere Zeitungen und Zeitschriften, die nicht online sind. Etwa einmal pro Woche fahre ich zur Amerika-Gedenkbibliothek und lese, was mich interessiert und was ich online nicht lesen kann. Die AGB wird sicher auch Computer mit Zugängen zur NYT haben, dann lese ich sie eben nicht mehr täglich, sondern einmal pro Woche retrospektiv. Das ist ja das Fatale an dieser Bezahldiskussion, Paywalls lösen kein Problem, sie verlagern nur die Rezeptionsmöglichkeiten.

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Neuester Satz des Kandidaten: „Ein Cis-Börger kaufen!“ Das bedeutet Cheeseburger, gemeint ist allerdings ein Veggie Burger, nur kann John das nicht auseinanderhalten, jeder Burger ist für ihn automatisch ein Cis-Börger, auch wenn er den Veggie Burger viel lieber mag.

the power of lonely.

„Spending a certain amount of time alone, the study suggests, can make us less closed off from others and more capable of empathy — in other words, better social animals. People make this error, thinking that being alone means being lonely, and not being alone means being with other people,” Cacioppo said. “You need to be able to recharge on your own sometimes. Part of being able to connect is being available to other people, and no one can do that without a break.“ [#]

japan.

Aus meiner alten Bürogemeinschaft bekam ich gestern folgenden Hinweis, den ich gerne weitergeben möchte: eine Gruppe aus Berlin organisiert Unterkünfte für Flüchtlinge aus Japan: Open Home Project.

Tim Parks hat ein Buch über Prostataprobleme geschrieben, aber das stimmt eigentlich nicht, denn es ist auch ein Buch übers Kajakfahren (Frau Sopran!), über Meditation, über Samuel Beckett und vieles mehr.

Was mich an dem manchmal etwas lang geratenen Buch am meisten interessiert hat, waren die Beschreibungen über Meditation als geistige Disziplin jenseits der Sprache. In der Auseinandersetzung mit seinen Prostataschmerzen, für die die Schulmedizin keine Erklärung finden konnte, wurde Parks in der Meditation bewusst, dass jede seiner gezielten geistigen Aktivitäten seit Jahrzehnten eine linguistische gewesen war, alle Handlungen waren mit Worten unterlegt, ja: wurden erst durch Worte erfahrbar: „Wenn ich ein Gemälde oder einen Film sah, versuchte ich sofort, seine Vorzüge und Mängel in Worte zu fassen. Mein Gehirn spuckte eine Rezension aus, einen kritischen Aufsatz. Mein Hauptvergnügen an Filmen und Gemälden bestand genau in dieser verbalen Umsetzung danach. Sogar währenddessen. […] Alles musste durch die Sprache gelebt werden, sonst wurde es nicht richtig gelebt; das ging so weit, dass ich ein Bild oder einen Film (oder auch ein Fußballspiel) gar nicht wirklich gesehen hatte, ehe ich nicht in Worten darüber nachgedacht oder besser noch gesprochen oder am allerbesten geschrieben hatte. […] Dann besaß ich das Geschehene. […] Eine Folge dieses ganzen Geschwätzes war, dass ich mir nie vorstellen konnte, dass es harte geistige Arbeit gab, die ohne Worte auskam, Arbeit sogar, bei der Worte ein Hindernis darstellen können.“ (191f.)

Später führt er das Problem, das ihm dadurch entstanden ist, näher aus: „Die Sprache baut Dome, und dann weitere Dome obendrauf, während die ersten verfallen. Weil Worte nie still sind. Der Anfang eines Satzes weist nach vorne, das Ende verlangt, dass man sich des Anfangs gewahr ist. Ein Absatz führt zum anderen und eine Seite zur nächsten. […] Beim Tippen eilen meine Gedanken meinen Fingern voraus. Werden vorangetrieben. Sind nie im Jetzt. Nie im Moment verankert. […] Man verliert den Zugriff auf die Dinge, wie sie sind. Aber dieses zweite Leben ist zwanghaft. Man kann es nicht lassen. Eine wirbelnde Wortmaschine erhebt sich von der schweren Oberfläche aus Erde, Zement oder Haut. Geist und Körper trennen sich. Man ist plötzlich auf dem Blatt heimischer als auf dem Pflaster, im Netz heimischer als auf der Straße. Der Geist wird zum Ich. Der Körper ist nur Vehikel.“ (232f.)

Kein Wunder, dass ihn diese Überlegungen von Aristoteles („Es kommt nicht darauf an zu lernen, sondern ein Gefühl zu erleben und sich in einen bestimmten Zustand zu begeben“, 268) bis zu Becketts Trilogie Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose führen („Alles Schreiben ist eine Sünde wider die Sprachlosigkeit, hat Beckett gesagt“, 305).

In der Meditation gelingt es Parks schließlich, die Trennung von Geist und Körper – und auch seine Schmerzen – zu überwinden, schön geschildert in einer Szene am Frühstückstisch nach einigen Tagen im Retreat: „Alles war ganz es selbst, gab Anlass sowohl zum Staunen als auch zur Gleichgültigkeit. Verstreute Krümel, verschüttete Milch. Ich starrte alles an. Wie bei einem Cézanne war jeder Gegenstand befreit vom Geflecht menschlicher Interpretation. Eine Tasse neben einer Melonenspalte. Ganz sie selbst. Ich benutze jetzt die Worte – Tasse, Melone – aber damals war mein Geist wortlos. Die Tasse, die Melone waren Dinge ohne Worte, standen nicht in einem Zusammenhang, waren nicht Teil eines Satzes oder einer Geschichte. Und es gab keine Distanz zwischen uns. Ich war in der Tasse, ich war klebrig von der Melone.“ (324)

Am meisten hat mich daran verblüfft, dass die Erfahrungen geradewegs in Beschreibungen führen, wie man sie auch von Autisten liest: die Aufhebung der Trennung zwischen sich und der Welt, die unmittelbare Erfahrung der Dinge, die permanente – dabei aber wortlose – Kommunikation der Sinne mit allem, was ist: Geräusche, Licht, Farben, Gerüche, Texturen, Gegenstände, Menschen; die Menschen aber immer nur ein Teil des Ganzen. Die schwierige oder unmögliche Verortung des Selbst in diesem Getümmel der Wahrnehmung, beim Autisten als Problem angesprochen, wird bei Parks zur Lösung eines Problems. Erstaunlich, ganz erstaunlich.

„Aber während die Worte und die Gedanken sich aus dem Kopf verflüchtigen, wird das Ich schwächer. Es gibt keine Geschichte, die es nährt. Wenn die Wörter verschwinden, ist es gleichgültig, ob man in Verona oder in Varanasi ist. Ob es Abend oder Morgen ist, ob man jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich ist, in der Stille, im Dunkeln, in der Ruhe, nicht so wichtig. Ebenso wie Geister, Engel oder Götter ist das ‚Ich’, so stellt sich heraus, eine Einbildung, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Es braucht die Sprache, um zu überleben. Die Wörter erzeugen Bedeutung, die Bedeutung Absicht, die Absicht Geschichte. Aber hier gibt es für eine kurze Weile keine Geschichte, keine Erzählung, keine Täuschung. Hier gibt es Stille und Hinnahme; die Wonne eines Raums, der nicht mit Bedeutung gefüllt werden muss. Wenn das Bewusstsein achtsam ist, den Leib, den Atem, das Blut ganz wahrnimmt, erlaubt es dem ‚Ich’, sich davonzuschleichen.“ (362f.)

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