cis-börger.

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Was ich schon lange empfehlen wollte, für diejenigen, die es noch nicht kennen (ich habe kürzlich in einem Gespräch nämlich festgestellt, dass es durchaus noch Menschen gibt, die es nicht kennen): Meike Winnemuths Reiselog Vor mir die Welt.

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Zur Wertschätzung von Fleisch sagt ein einziges Werbeposter in Neukölln alles:

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Worüber ich in den letzten Tagen auch nicht hinwegkomme: In Mexiko gibt es 11 Milliardäre und 50 Millionen Menschen leben in Armut. [#]

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Kolja bloggt von der Leipziger Buchmesse. Wir reisen nicht so weit wie Meike Winnemuth und noch nicht einmal nach Leipzig, aber zu Ehren des Gastlandes der Buchmesse lese ich gerade Hamam Balkania von Vladislav Bajac. Meine Reisen finden wieder hauptsächlich in Büchern statt, wie früher als Kind.

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Die New York Times soll eine Paywall erhalten, vielleicht werde ich sie demnächst also auch in der Bibliothek lesen müssen, so wie andere Zeitungen und Zeitschriften, die nicht online sind. Etwa einmal pro Woche fahre ich zur Amerika-Gedenkbibliothek und lese, was mich interessiert und was ich online nicht lesen kann. Die AGB wird sicher auch Computer mit Zugängen zur NYT haben, dann lese ich sie eben nicht mehr täglich, sondern einmal pro Woche retrospektiv. Das ist ja das Fatale an dieser Bezahldiskussion, Paywalls lösen kein Problem, sie verlagern nur die Rezeptionsmöglichkeiten.

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Neuester Satz des Kandidaten: „Ein Cis-Börger kaufen!“ Das bedeutet Cheeseburger, gemeint ist allerdings ein Veggie Burger, nur kann John das nicht auseinanderhalten, jeder Burger ist für ihn automatisch ein Cis-Börger, auch wenn er den Veggie Burger viel lieber mag.

Tim Parks hat ein Buch über Prostataprobleme geschrieben, aber das stimmt eigentlich nicht, denn es ist auch ein Buch übers Kajakfahren (Frau Sopran!), über Meditation, über Samuel Beckett und vieles mehr.

Was mich an dem manchmal etwas lang geratenen Buch am meisten interessiert hat, waren die Beschreibungen über Meditation als geistige Disziplin jenseits der Sprache. In der Auseinandersetzung mit seinen Prostataschmerzen, für die die Schulmedizin keine Erklärung finden konnte, wurde Parks in der Meditation bewusst, dass jede seiner gezielten geistigen Aktivitäten seit Jahrzehnten eine linguistische gewesen war, alle Handlungen waren mit Worten unterlegt, ja: wurden erst durch Worte erfahrbar: „Wenn ich ein Gemälde oder einen Film sah, versuchte ich sofort, seine Vorzüge und Mängel in Worte zu fassen. Mein Gehirn spuckte eine Rezension aus, einen kritischen Aufsatz. Mein Hauptvergnügen an Filmen und Gemälden bestand genau in dieser verbalen Umsetzung danach. Sogar währenddessen. […] Alles musste durch die Sprache gelebt werden, sonst wurde es nicht richtig gelebt; das ging so weit, dass ich ein Bild oder einen Film (oder auch ein Fußballspiel) gar nicht wirklich gesehen hatte, ehe ich nicht in Worten darüber nachgedacht oder besser noch gesprochen oder am allerbesten geschrieben hatte. […] Dann besaß ich das Geschehene. […] Eine Folge dieses ganzen Geschwätzes war, dass ich mir nie vorstellen konnte, dass es harte geistige Arbeit gab, die ohne Worte auskam, Arbeit sogar, bei der Worte ein Hindernis darstellen können.“ (191f.)

Später führt er das Problem, das ihm dadurch entstanden ist, näher aus: „Die Sprache baut Dome, und dann weitere Dome obendrauf, während die ersten verfallen. Weil Worte nie still sind. Der Anfang eines Satzes weist nach vorne, das Ende verlangt, dass man sich des Anfangs gewahr ist. Ein Absatz führt zum anderen und eine Seite zur nächsten. […] Beim Tippen eilen meine Gedanken meinen Fingern voraus. Werden vorangetrieben. Sind nie im Jetzt. Nie im Moment verankert. […] Man verliert den Zugriff auf die Dinge, wie sie sind. Aber dieses zweite Leben ist zwanghaft. Man kann es nicht lassen. Eine wirbelnde Wortmaschine erhebt sich von der schweren Oberfläche aus Erde, Zement oder Haut. Geist und Körper trennen sich. Man ist plötzlich auf dem Blatt heimischer als auf dem Pflaster, im Netz heimischer als auf der Straße. Der Geist wird zum Ich. Der Körper ist nur Vehikel.“ (232f.)

Kein Wunder, dass ihn diese Überlegungen von Aristoteles („Es kommt nicht darauf an zu lernen, sondern ein Gefühl zu erleben und sich in einen bestimmten Zustand zu begeben“, 268) bis zu Becketts Trilogie Molloy, Malone stirbt und Der Namenlose führen („Alles Schreiben ist eine Sünde wider die Sprachlosigkeit, hat Beckett gesagt“, 305).

In der Meditation gelingt es Parks schließlich, die Trennung von Geist und Körper – und auch seine Schmerzen – zu überwinden, schön geschildert in einer Szene am Frühstückstisch nach einigen Tagen im Retreat: „Alles war ganz es selbst, gab Anlass sowohl zum Staunen als auch zur Gleichgültigkeit. Verstreute Krümel, verschüttete Milch. Ich starrte alles an. Wie bei einem Cézanne war jeder Gegenstand befreit vom Geflecht menschlicher Interpretation. Eine Tasse neben einer Melonenspalte. Ganz sie selbst. Ich benutze jetzt die Worte – Tasse, Melone – aber damals war mein Geist wortlos. Die Tasse, die Melone waren Dinge ohne Worte, standen nicht in einem Zusammenhang, waren nicht Teil eines Satzes oder einer Geschichte. Und es gab keine Distanz zwischen uns. Ich war in der Tasse, ich war klebrig von der Melone.“ (324)

Am meisten hat mich daran verblüfft, dass die Erfahrungen geradewegs in Beschreibungen führen, wie man sie auch von Autisten liest: die Aufhebung der Trennung zwischen sich und der Welt, die unmittelbare Erfahrung der Dinge, die permanente – dabei aber wortlose – Kommunikation der Sinne mit allem, was ist: Geräusche, Licht, Farben, Gerüche, Texturen, Gegenstände, Menschen; die Menschen aber immer nur ein Teil des Ganzen. Die schwierige oder unmögliche Verortung des Selbst in diesem Getümmel der Wahrnehmung, beim Autisten als Problem angesprochen, wird bei Parks zur Lösung eines Problems. Erstaunlich, ganz erstaunlich.

„Aber während die Worte und die Gedanken sich aus dem Kopf verflüchtigen, wird das Ich schwächer. Es gibt keine Geschichte, die es nährt. Wenn die Wörter verschwinden, ist es gleichgültig, ob man in Verona oder in Varanasi ist. Ob es Abend oder Morgen ist, ob man jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich ist, in der Stille, im Dunkeln, in der Ruhe, nicht so wichtig. Ebenso wie Geister, Engel oder Götter ist das ‚Ich’, so stellt sich heraus, eine Einbildung, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Es braucht die Sprache, um zu überleben. Die Wörter erzeugen Bedeutung, die Bedeutung Absicht, die Absicht Geschichte. Aber hier gibt es für eine kurze Weile keine Geschichte, keine Erzählung, keine Täuschung. Hier gibt es Stille und Hinnahme; die Wonne eines Raums, der nicht mit Bedeutung gefüllt werden muss. Wenn das Bewusstsein achtsam ist, den Leib, den Atem, das Blut ganz wahrnimmt, erlaubt es dem ‚Ich’, sich davonzuschleichen.“ (362f.)

kiss each other clean.

Valentinstag, Schmalentinstag, egal, trotzdem gefreut.

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moms with apps.

Was für eine tolle Zeit, in der wir leben, eine Zeit, in der es sowas gibt wie Moms with Apps, das beschreibt unsere Zeit vielleicht fast schon hinreichend.

Am meisten begeistert mich, dass es eine prima Liste von Apps für autistische Kinder gibt. Immer wieder muss ich daran denken, was mir eine Frau aus einer amerikanischen Reisegruppe sagte: „You are so lucky to live in this day and age. I have a child with a severe disability and it was very difficult to raise her, living in a small town during the Fifties, all alone, without access to information or help. Today, you have the internet! Everywhere!“

Ja, heute haben wir das Internet (danke!) und wir haben Moms with Apps (thanks!). Yeah.

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Erst habe ich gar nicht bemerkt, wie gut die neue Iron & Wine wirklich ist.

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der kommandospiegel.

John spricht in letzter Zeit immer mehr, um nicht zu sagen unablässig. Ein sehr großer Teil ist reine Echolalie, da bekommen wir nun den verdienten Kommandospiegel vorgehalten: „Hör auf“, „Nein“, „Jetzt ist aber Schluss“, „Ins Bett gehen“, „Komm weiter“, „Setz Dich richtig hin.“ Als ich mich gerade ernsthaft fragte, ob bei John wirklich nur das ankommt, lief er durch den Flur und rief: „Johnny, süßer Spatz.“

Einige Sätze kommen aus der Schule, zum Beispiel „Jetzt erst genug gegessen.“ Aus der Schule kommt auch die Erwähnung des Mitschülers Konrad, der der alten Mitschülerin Owens den Rang abgelaufen hat. Früher nahmen wir Owens überallhin mit: „Owens! Geh da runter!“, ob am Strand in der Normandie oder auf dem Diamond Hill in Irland, Owens war immer dabei, heute aber ruft John den ganzen Tag: „Konrad! Kooon-raad!“

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Dann merkte ich, dass ich Phil Selways tolles Album Familial verpasst habe, zum Glück hat es nun seinen Weg zu mir gefunden.

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Brötchen mit Tsatsiki

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Habe mir eben die letzte Sendung Druckfrisch angesehen. Denis Scheck findet Giovanni di Lorenzos und Axel Hackes Wofür stehst Du? gut: „Auf welchen Polen man seinen moralischen Kompass ausrichtet, wodurch man Werte gewinnt“, diese Fragen beantworteten sie „kompetent und unprätentiös. Leichte, aber keineswegs seichte Lebenshilfe, Respekt.“ Ich mag die beiden Autoren, besonders Giovanni di Lorenzo, und ich fand das Buch zwar auch okay, aber Lebenshilfe? Vielleicht für privilegierte Menschen, die ein bisschen ihr schlechtes Gewissen pflegen möchten. Mir kam das Projekt am Ende etwas unzusammenhängend vor, als habe man Textstücke und Meinungen, die man schon immer mal veröffentlichen wollte, in ein Buch gepackt, das dann aber vor allem entlarvt, wie privilegiert die beiden Autoren sind. Di Lorenzo zitiert Treffen mit einflussreichen Politikern und großen Wirtschaftsbossen, erzählt Anekdoten, etwa wie Bedürfnisse und Krankheiten kreiert werden, um Produkte und Medikamente verkaufen zu können, das kennt man alles schon lange, Di Lorenzo steht geradezu ungläubig davor und scheint davon geschockt zu sein. Liest der Mann denn kein Internet? Die Ausrichtung des moralischen Kompasses und die Wertegewinnung ereignen sich in einer derart saturierten Wirklichkeit, dass sie nach meinem Gefühl leider eher in Belanglosigkeit als in Lebenshilfe münden. Phänomenologisch ist es ganz interessant, wie zwei höchst reflektierte Menschen sich Moral und Werte aus einem solchen Schutzraum her konstruieren, aber man möchte ihnen raten, mal sechs Monate von Hartz IV zu leben, in einer entsprechenden Wohnung und ohne Arbeit, und dabei am besten noch rund um die Uhr einen Demenzkranken pflegen. Der Erkenntnisgewinn, den sie daraus ziehen würden, der würde mich wirklich interessieren, und zwar viel mehr als Gespräche mit Politikern und Wirtschaftsbossen. But that’s just me.

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erst eis, dann schokolade.

Neben der Echolalie spricht John zunehmend zielgerichtet und deutlich mit dem Willen zur Kommunikation. Vorletzten Sonntag auf dem Flohmarkt am Mauerpark bekam er am Eingang eine heiße Waffel mit Puderzucker, dann liefen wir über den Markt, und als wir fast am Ende waren, zog John uns zurück und sagte: „Kuchen, Kuchen, Kuchen.“ Er zog und sagte dabei so lange „Kuchen“, bis wir wieder vor dem Waffelstand standen.

Am selben Tag fuhren wir im Auto an einer Tankstelle mit einem Langnese-Schild vorbei und John verkündete von hinten laut und deutlich: „Eis kaufen gehen!“ Das wurde als Belohnung natürlich sofort umgesetzt.

In der Schule wird viel mit Erst-Dann-Karten gearbeitet, es soll den Kindern dadurch deutlich werden, dass sie nach einer erledigten Aufgabe eine Belohnung bekommen, um so die Motivation zur Kooperation zu erhöhen, etwa: „Erst Arbeitsstation, dann Schaukeln.“ John hat dieses System kurzerhand für sich selbst angepasst und nun ruft er oft: „Erst Eis, dann Schokolade!“ (Kluges Kerlchen, diese ganze Verhaltenstherapie muss man mit ihren eigenen Waffen schlagen.)

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War eigentlich schonmal jemand in einem Gitarrenladen, ohne dass darin mindestens ein Poser herumsaß, der gar nicht wirklich eine neue Gitarre ausprobiert, sondern ganz offensichtlich nur den Effekt seiner Künste auf die anderen Kunden sucht? Scott und ich haben gestern beim Kauf einer neuen Gig Bag festgestellt, dass wir das weder in Chicago noch in Berlin jemals erlebt haben, einen Aufenthalt im Gitarrenladen ohne Poser.

freedom.

„Now that we know that the world is filled with opinionated, neurotic busybodies and compromised idealists just like us, our contempt springs to the surface so easily. We resent recognizing bits of ourselves in so many others, seeing how much more effectively (and photogenically!) these people put their ideals into action, through their daily yoga classes and lucrative yet admirable jobs as environmental lawyers, through the whimsical crafts and organic layer cakes they make with their creative, adorable children, through the two-week vacations they take in Maui or the Wakefield dressers they refinish for junior’s bedroom. Instead of bringing us together, the Internet shows us that we not only aren’t remotely unique, but everyone else out there is pursuing the same lifelong dreams and embracing the same hobbies with far more focus, style and energy than we could ever hope to muster.“ [#]

tddl 2010 [der zweite tag].

Bachmannpreis und gleichzeitig WM, das überfordert mich, zudem gestern noch hohe Pflegeintensität des Kindes (besser keine Details). Darum vom zweiten Tag nur ein paar kurze Einschätzungen: Thomas Ballhausens Text hatte viel Ähnlichkeit mit den „Unversöhnten“, ist doch wirklich sinnvoll, wenn man sich auf den Bewerb gut vorbereitet, auch wenn Bart Spinnen meinte, man solle vorher nichts lesen.

Der Ballhausen-Text hat mir nicht besonders gefallen, aber noch viel weniger der darauf folgende von Max Scharnigg. Aleks Scholz hatte einen sehr guten Text, am zweiten Tag der einzige Kandidat für einen Preis. Judith Zanders sehr düsterer Text kann eigentlich gar nicht beurteilt werden, weil es ein Romanauszug ist, den man eigenständig nicht beurteilen kann. Oft ist es etwas ungünstig, wenn Autoren Romanauszüge mitbringen, das funktioniert eben wirklich nur, wenn der Auszug für sich verständlich ist. In diesem Fall war das nicht so, da hat sich Judith Zander keinen Gefallen getan und Hildegard Keller kein gutes Händchen in der Auswahl bewiesen. Der Text ist in Du-Perspektive geschrieben, man weiß nicht, warum bzw. wer der Erzähler ist, außerdem zu viel Präteritum und Konjunktiv, letzteres entsteht aber natürlich durch die umständliche Perspektive. Als letztes las dann Josef Kleindienst eine formal wie inhaltlich schlechte Geschichte.

Nach zwei Tagen und zehn Autoren gibt es meines Erachtens erst drei Preis-Kandidaten: Elmiger, Scholz und Mezger (auch wenn ich an dem Mezgertext nach nochmaligem Lesen so einiges gefunden habe, was lektoriert gehört, aber trotzdem noch gut). Da muss noch was kommen am dritten Tag, sonst hat man nicht genügend Autoren für all die Preise. Aber es kommen ja noch zwei Autoren, die als Favoriten gemunkelt werden: Peter Wawerzinek und Verena Rossbacher.

tddl 2010 [der erste tag].

Klagenfurt, Bachmannpreis 2010, es ist so weit.

Erster Text des Bewerbs: Sabrina Janesch, Katzenberge.

Wir befinden uns in Schlesien. Männer sehen sich blinzelnd um, vom Staub verschmutzte Haare wirken grau, knochige Schultern, dampfende Erde, fremder Geruch von Beton, jemand meldet sich mit leiser Stimme, ein anderer streckt seine Nase in die Luft.

Vom Wiesenschaumkraut übersäte Felder. Konturen von Menschen in der Ferne verschmelzen fast mit dem Hintergrund. Hüte sitzen auf den Köpfen wie hässliche Tierchen, Rufe füllen jeden Winkel der Siedlung und der Felder, bis in den Wald, in die Flur und bis hinauf in den Himmel. Es wird an Toren gerüttelt, sich brüllend und schnaufend den Eingängen der Häuser genähert.

Einer hört sein Blut in den Ohren rauschen, sein Herz schlägt gegen den Brustkasten, er umschließt die Klinke mit seiner Hand, fühlt die Kühle des Metalls. Hinter der Pforte lauert ein Brombeerstrauch. Ein Fenster ist sperrangelweit geöffnet, Schilf wiegt sich, Balken ächzen. Auch nachdem es ihm gelungen ist, das verzogene Holzfenster zu verriegeln, kann er kein Auge zumachen, mit fahrigen Händen streicht er sich über den Kopf.

Unter seinen Füßen quieken die Dielen, als sei er auf ein lebendiges Tier getreten. Dann die Erkenntnis: Herr Dietrich hat sich mit Hut und Krawatte aufgehängt. Mit einem dumpfen Laut fällt die Leiche zu Boden.

Prädikat: der neue Juror Hubert Winkels stellt die ebenso bittere wie treffendste Diagnose: Literatur aus dem Setzkasten.

Streitbare Praxis, an die mich der Text erinnert: auf dem Oktoberfest in Chicago hing im Zelt neben den Flaggen von Niedersachen und anderen Bundesländern auch die Flagge von Schlesien.

Zweiter Text: Volker H. Altwasser, Letzte Fischer.

Dass der Offizier die Seekarte „versonnen“ betrachtet, okay. Zu viele Ausrufezeichen: geschenkt. Ein deplatziertes „rekapitulierte Rösch“, naja. Bin nach Wie ich vom Ausschneiden loskam milde gestimmt. Ein Schiff vor Somalia, Giftmüll der italienischen Mafia, Piraten, Kurznasenseefledermäuse, das ist doch interessant – weniger dagegen aber leider die Zuhause verbliebene Frau Mathilde.

Und dann so Sachen wie: „…und plötzlich erinnerte sich der alte Mann an seinen uralten Traum vom Meer! Das Meer war dabei, ihm seinen Traum zu erfüllen. Es wollte ihn reich machen, damit er seinen Enkel auf eine große und wichtige Schule schicken konnte!“ Ich mag es nicht, wenn ein Erzähler sich den Figuren gegenüber so überheblich zeigt („der einfache Fischer“).

In einem Kommentar auf zeit.de wird alles mögliche in den Text hinein interpretiert: die Kurznasenseefledermaus schaffe als Metapher eine „sphaerische Verbindung aus Unterbewusstem (Meer) und Bewusstem (Luft als Sphaere des Geistigen).“ Psychoanalytische Literaturkritik, wer’s mag. Natürlich ist „die Bindung zu Mathilde (Ursprung) und Freiheit auf dem Meer (Ursprungslosigkeit) ein zentrales Motiv des Textes“, aber meines Erachtens eben nicht gut ausgearbeitet, weil das zweite Moment, die Ursprungslosigkeit, auf hohem Niveau dargestellt wird, das erste Moment Mathilde aber sehr banal daherkommt, bzw. recht unklar bleibt, weil man als Leser die Mathilde gar nicht kennenlernt. Für eine aussagekräftige Gegenüberstellung müsste der Autor beide Elemente mit derselben Tiefe ausarbeiten. Mir erscheint jedenfalls klar, dass das Herz des Autoren viel mehr am Meer hängt als an Mathilde, ersteres Thema ist liebevoll erschrieben und zweiteres eher aus Pflichtgefühl dazwischen gesetzt. Im Videoporträt hat er versprochen, dass von ihm keine Liebesgeschichte zu erwarten sei – hätte er sich doch dran gehalten.

Harte Szenen des Häutens und dann wieder Kitsch, das geht alles nicht zusammen, ein etwas disparater und zwiespältiger Text, kein Preiskandidat, muss ich wohl sagen, verliert sogar nach dem Vortrag beim nochmaligen Abendlesen. Eine potentiell und in Ansätzen schöne Erzählung, aber nicht gut umgesetzt.

Dritter Text: Christopher Kloeble, Ambrosisch.

Ulrich Ditzen erzählte letzte Woche bei einer Lesung, dass sein Vater Hans Fallada immer früh ins Bett ging, gegen 22 Uhr, weil er schon um drei oder vier Uhr morgens wieder aufwachte, die Arbeit ließ ihn nicht los, er kochte sich einen Kaffee und setzte sich an den Schreibtisch, arbeitete den ganzen Tag, bis er am nächsten Abend um zehn wieder vor Erschöpfung einschlief und in den sehr frühen Morgenstunden wieder aufstand. Seine eigene Vorgabe war es, niemals weniger zu schreiben als am Tag davor, ich nehme an, so kann man sich bestens selbst zugrunde richten. Auf die Frage, ob es nicht schwierig gewesen sei, einen solch besessenen Vater gehabt zu haben, sagte Ditzen: „Everyone has their fate.“

Mein Schicksal ist es nun, dass ich bei der Lesemaschine zugesagt habe, etwas zum dritten Text des Bewerbs zu sagen, einem Auszug aus dem Roman „Ein versteckter Mensch“ von Christopher Kloeble. Ein Sohn zieht zu seinem geistig behinderten Vater, der nur noch fünf Monate zu leben hat. Zunächst sind da die verunglückten Dialoge, ich weiss ja nicht, mit welchen geistig behinderten Menschen Kloeble so zu tun hat, aber die, die ich kenne, sprechen nicht so. Dann weint der Vater natürlich Krokodilstränen, wie es sich für einen geistig Behinderten gehört, es können keine einfachen Tränen sein, nein, wie ein Kind weint er Krokodilstränen. Die den Text durchdringende Überheblichkeit ist in der Sprache angelegt, ärgerlich und bevormundend, am Ende müssen wir dann auch noch das Selbstmitleid des Protagonisten ertragen, der mit seinem geistig behinderten Vater hadert. „Albert erwiderte seinen Blick und wünschte sich einmal mehr, er hätte Fred einfach eine Frage stellen und Fred sie ihm einfach beantworten können, ein stinknormales Gespräch, das wünschte er sich, bei dem Fred seine Worte so verstand wie Albert sie meinte.“ Das ist dann ein bisschen wie Jean-Louis Fournier auf Valium.

„Schweigen drang durch die Tür“, heißt es gegen Ende, und ich wünschte mir, Schweigen wäre durch den Text gedrungen. Ich bin sicher, der Autor hat es gut gemeint, aber manchmal ist genau das bekanntlich das Gegenteil von gut.

Bewusstseinserweiterndes Bild: „Im selben Moment gab der Hahn des Nachbarn sein gekrächztes Kikeriki zum Besten.“

Ratlose Frage: Warum war die Jury so gnädig mit dem Text?

Vierter und fünfter Text: Daniel Mezger und Dorothee Elmiger, zwei Kandidaten für einen Preis.

Leider jetzt keine Zeit mehr für eine ausführlichere Stellungnahme zu den beiden Texten des Nachmittags. Daniel Mezger las einen wirklich guten Text, den die Jury allerdings teilweise nicht verstanden hat (Karin Fleischanderl nicht und vor allem Meike Feßmann gar nicht), auch Dorothee Elmiger las einen Text, der mir sehr gut gefallen hat. Am Ende also zwei von fünf Texten gut, da hat man schon schlimmere erste Bewerbstage erlebt.

tddl 2010 [thomas ballhausen: die unversöhnten].

„In jede unserer Erfahrungen, so glaube ich inzwischen, ist etwas zutiefst Unreines, Verstörendes und Falsches eingeschrieben.“

Thomas Ballhausens Asterios gibt mir in den „Unversöhnten“ einen wichtigen Satz für die nächsten Bachmanntage mit auf den Weg, das finde ich in Ordnung. Ansonsten kann ich zu der Erzählung wenig sagen, das ‚Herumtasten in einer nebulösen Welt‘ hat ein bisschen was von akademisch hochgejazztem Paul Auster, im toten Briefkasten werden Aufträge hinterlegt, in der Bibliothek dient ein wahllos-intuitiv gewähltes Buch als Handbuch und Taktgeber der Auftragsbearbeitung, formal ist die Erzählung ziemlich experimentell, viele Doppelpunkte und ca. drei Kapitel pro Seite: 1.1., 1.2., 1.3. etc., ein fragmentarischer und hermetischer Text, distanziert, asketisch, sicher als anspruchsvolle Lektüre zu bezeichnen (Mythologie in ein apokalyptisches Heute versetzt), Autor und Verlag sprechen sogar selbst von „schwieriger Literatur.“

Seit Studiumsende mag ich so elitäre Texte nicht mehr besonders gern, ich sehe aber auf jeden Fall den Vergleichenden Literaturwissenschaftler am Werk und kann ein bisschen wehmütige Sympathie dafür nicht verhehlen, Oliver Kahn würde sagen: „Ich kann nicht sagen, dass es mir nicht gefällt.“ (Ich fände es gut, wenn jemand Oliver Kahn mal sagen könnte, dass er nicht so viel in Doppelverneinungen sprechen sollte, und außerdem muss nicht jeder zweite Satz mit: „Ja, wenn Du…“ beginnen. Wie lange dauert die Weltmeisterschaft noch?) Jedenfalls bin ich einigermaßen versöhnt mit Ballhausens Unversöhnten, rechne einem solchen Text aber wenig Chancen im Bewerb aus, es sei denn, die Jury sieht sich aus irgendeinem Grund gezwungen, ihre Intellektualität unter Beweis zu stellen.

Unklare Praxis: Postalische Verstreuungen
Pro: Zitate von The Smiths, The Decemberists und P.J. Harvey
Contra: Zitat von Billy Corgan und schwarzer Rollkragenpulli

tddl 2010 [volker h. altwasser: wie ich vom ausschneiden loskam].

„Mensch, kriech raus! Deine Mauken will ich nicht auf meinem Bauch.“

Fast möchte man schon auf S. 48 ein abschließendes Radisch-Urteil fällen: ein Text, in dem Mauken vorkommen, kann kein schlechter Text sein. Da der Roman aber auch jenseits der Erwähnung von Mauken sehr schön ist, liest man gerne weiter. „Hinter ihnen war das Dorf Eldena, dessen Klosterruine Caspar David Friedrich gemalt und so die Deutsche Romantik begründet hatte. Natürlich nicht in Greifswald. Ich ahnte, dass man Greifswald verlassen muss, um etwas zu verwirklichen. Muss ich Greifswald verlassen, dachte ich und sah kurz auf die Aktfotos, dann wieder auf die Zweige des Setzlings, die versuchten, die Aussicht auf den Innenhof zu verbessern.“

Das ist alles richtig gut erzählt, lakonisch und doch nah, in den Schilderungen der versoffenen Väter und Stiefväter sehr, sehr beklemmend, immer wieder unter Einbeziehung des überzeugend eingearbeiteten Ausschneidethemas. „Vielleicht musste man manchmal den Hintergrund behalten und die Figur wegwerfen“, heißt es nach einer furchtbaren Konfrontation mit dem Stiefvater. „Die Menschheit hat zwei große Feinde: den Krieg und die Sucht. Das Leben besteht aus beidem, so viel ist sicher. Ein Drittel Krieg, ein Drittel Sucht und ein Drittel von Etwas, von dem ich nichts weiß.“

Man erfährt auch detailliert, wie das Heizen der Reichsbahndirektion funktioniert und komischerweise ist selbst das interessant, ein weiterer Beweis dafür, dass einen alles interessiert, solange es nur gut erzählt ist.

Auf der Fregatte ‚Bremen‘ macht der Protagonist dem Neuankömmling Richard klar, was es heißt, Wehrpflichtiger zu sein: „Wir setzten uns in die Offene Registratur und warteten auf die Unteroffiziere und auf den Wachtmeister. Als Wehrpflichtiger erledigte ich keinen Handschlag selbständig und übernahm keinerlei Verantwortung. ‚Wehrpflichtiger zu sein‘, hatte ich zu Richard gesagt, ‚ist, Urlaub vom Leben zu haben.‘ Er verstand.“

Wegen des Spiels gestern gegen Brasilien muss ich bei Altwassers DDR heute die ganze Zeit an Nordkorea denken. Ein Freund von mir, in der DDR aufgewachsen, ist vor ein paar Jahren mit einer Reisegruppe nach Nordkorea in Urlaub gefahren, um sich anzusehen, wie so etwas heute noch geht. Nach Nordkorea kann man nur mit einer angemeldeten Gruppe reisen und vorher muss man bestimmte Sachen bezahlen, wie zum Beispiel 40 Euro oder so für einen Kranz, der an einem Denkmal für Kim Il-sung niedergelegt wird. In Pjöngjang besichtigte die Gruppe einen Park. In dem Park gingen Familien spazieren, Kinder spielten, wie man sich das von einem Park am Sonntagnachmittag vorstellt. Irgendwann wurde die Reisegruppe zum Bus zurückgebracht, der Reiseleiter sah hektisch auf die Uhr, da bemerkte mein Freund, wie sich die Menschen im Park alle an einer Stelle zusammenzogen und gemeinsam den Park verließen. Er filmte das Ganze heimlich, während er in den Bus stieg. Gespenstische Aufnahmen, es sieht so aus, als wären die Menschen für einen bestimmten Zeitraum beordert worden, der Reisegruppe ‚glückliche Familien im Park‘ vorzuspielen.

Die FAZ macht auf dem Cover von „Wie ich vom Ausschneiden loskam“ ostdeutschen Neorealismus à la „Halbe Treppe“ aus, das geht in Ordnung, ein bisschen erinnert es mich tatsächlich sogar an „Müller haut uns raus“, aber solche Vergleiche sind ja sinnlos. Man muss dazu bei 25 Grad in der Sonne auch gar nicht mehr viel schreiben, da kann man besser einfach genüsslich den Rest zu Ende lesen.

Prädikat: Mein erster Lichtblick der diesjährigen Bachmannvorbereitung. Wenn der Text für den Bewerb nur annähernd so unterhaltsam und gut geschrieben ist wie dieser Roman, wird Volker Harry Altwasser einen der Preise mit nach Hause nehmen, so weit würde ich mich aus dem Fenster lehnen, wenn ich nicht eh schon auf der Terrasse säße. Allerdings habe ich ja auch erst Rossbacher und Schmidt als Vergleichsgrundlage.

hans fallada auf englisch.

Hans Fallada wird gerade in den USA wiederentdeckt, in der New York Times kann man zum Beispiel einen Auszug aus der englischen Übersetzung von „Jeder stirbt für sich allein“ lesen. Übermorgen gibt es die zweite Bookslut-Lesung, wieder gemeinsam mit Dialogue Berlin veranstaltet, Gast dieses Mal Falladas Sohn Ulrich Ditzen. Jessa Crispin wird mit ihm über seinen Vater sprechen.

Eckdaten: 17. Juni, 19:30-21:30 Uhr im Direktorenhaus, Am Krögel 2, 10179 Berlin, Eintritt: 3 Euro. Hier die Ankündigung auf Englisch, da das Ganze auch auf Englisch stattfinden wird:

„Dialogue Berlin and Bookslut.com collaborate to present an exclusive evening to discuss the life and work of Hans Fallada. The writer lived a life as fascinating as any of the characters in his remarkable novels, of which Alone in Berlin, first published in English in 2009, became a surprise literary hit. Unlike other prominent writers including Thomas Mann and Herman Hesse, Fallada decided not to leave Germany during World War II, and he was eventually institutionalised in a hospital for the criminally insane after refusing to join the Nazi Party. The Gestapo ordered him to write a work of anti-Semitic propaganda, but instead, while in hospital, he wrote his masterpiece The Drinker, using a dense code that was not fully deciphered until after his death. Fallada managed to outlive his captors by convincing them he was working on his assignment, but after the war he descended into alcohol and morphine addiction. It was during this time that a friend presented him with the Gestapo file of a couple arrested for distributing anti-Nazi propaganda across Berlin during the war. That couple’s story is retold in Alone in Berlin, a recently rediscovered classic of German literature, and the work that Primo Levi called ‘the greatest book ever written about German resistance to the Nazis’. Fallada died before the book saw publication. Ulrich Ditzen, Fallada’s son — who was 16 when his father died — will be discussing his father’s life and work with Jessa Crispin, editor of Bookslut.com.“

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