tddl 2010 [iris schmidt: die rückkehr zum zauberberg. erzählungen].

Wir haben: einen kurzen Stalking-Fall (Lutz verfolgt Monika), noch einen kurzen Stalking-Fall (Frau Hoffmann und der fremde Mann), Impressionen aus einem Zug („Und der Zug fährt schnell, viel zu schnell, er fährt hinein in die Nacht und reißt die Fahrgäste in seinem Innersten mit sich fort“), Herrn Meier, der ein Preisausschreiben gewinnt, Herrn Robinson, der an einer Lähmung ungeklärter Ursache stirbt, Hannah, die die Scheidung von Martin mit Hilfe von Freundin Claudia verkraftet, die Schwestern Marie und Silvie, die gemeinsam zur Kur fahren („Maries Augen funkelten freudig“) und in der ersten Geschichte den längsten der Stalking-Fälle, eine alternde Jungfer, die einem Kind nachstellt und das verborgene Talent dieses – wie sich herausstellt – zutiefst einsamen Kindes entdeckt, dessen Mutter den ganzen Tag arbeitet.

‚Unfähige, weil arbeitende Mütter‘ sind nun wirklich ein Topos, den die Welt nicht braucht. Das ist so reaktionär: die böse Mutter geht arbeiten, das Kind vereinsamt und stürzt am Ende aus dem Fenster. Wenn Frauen so über Frauen schreiben, dann brauchen sie keine anderen Feinde mehr.

Diese Erzählung deutet allerdings auf ein Problem hin: die häufig mangelnde Qualität der Texte von Frauen im Bewerb (Ausnahme: Kathrin Passig), ein Problem nicht nur im deutschsprachigen Raum, ich übersetze mal kurz, was Jessa Crispin mit Blick auf den Orange Prize in ihrer neuesten Smart-Set-Kolumne Plotting Along schrieb:

„Es hat bisher nur zwei Generationen von Frauen gegeben, die mit eingeschränkten Barrieren aufgewachsen sind, und ich sage bewusst ‚mit eingeschränkten Barrieren‘ und nicht ‚ohne Barrieren‘. Zwei Generationen von Frauen, die ihre Fruchtbarkeit kontrollieren konnten, arbeiten, ein hohes Bildungsniveau erreichen, tatsächlich ihr Leben planen und gestalten. Natürlich gab es immer schon Ausnahmen, aber finanzielle Abhängigkeit, Angst vor Vergeltung und sozialer Ausgrenzung sowie ein fehlendes Unterstützungssystem erlaubten nur den ganz mutigen und konfrontativen Frauen ein unabhängiges Leben, oder man musste eben einfach nur Glück gehabt haben. Darum gibt es Romane von Edith Wharton, damit wir das verstehen.“

„Weil Frauen also wenige Vorfahren haben, an denen sich sie orientieren könnten, sind sie immer noch dabei herauszufinden, wie sie ihr Leben gestalten sollen, was sie am glücklichsten macht, ob sie sich am traditionellen Weg der Männer orientieren sollen oder ob es andere Wege des Lebens für sie gibt. Schriftstellerinnen sind auf der Suche nach dem Platz, den eine Frau in der Welt einnehmen kann, und Leserinnen kaufen aus genau diesem Grund ihre Bücher. […] Es gibt in der Fiktion immer noch große Lücken weiblicher Erfahrung zu füllen. Das kann Schriftstellerinnen eine Inspiration sein, wie man zum Beispiel an ‚The Room and the Chair‘ von Lorraine Adams sieht. Der Roman ist voll von aggressiven, verrückten, nuttigen, heldenhaften, unterdrückten weiblichen Jagdfliegerinnen, Reporterinnen, Ehefrauen und minderjährigen Prostituierten.“

Lorraine Adams mit ihren tollen weiblichen Charakteren ist heute immer noch eher eine Ausnahme, in den Romanen und Texten von Frauen finden sich zu großen Teilen traditionelle Rollenbilder, oder noch schlimmer, wie in diesem Erzählband von Iris Schmidt in der ersten Erzählung „Der Junge mit den schwarzen Augen“: wenn die Tradition gebrochen wird, indem die Mutter arbeiten geht, wird sie prompt dafür bestraft und das Kind stirbt.

Die Texte in dem Erzählband haben alle etwas sehr Didaktisches, da liegt man beim Lesen plötzlich wieder in den Achtzigern im Garten der Eltern und muss Peter Bichsel für den Deutschunterricht lesen, nur dass es schlechter als Peter Bichsel ist, phlegmatisch und trist wie Bichsel, aber dabei noch so gewollt, bedeutungsschwanger und moralisierend. Zugute halten kann man den Erzählungen nur, dass sie ein wahrer Jungbrunnen sind, indem sie einen so intensiv zurücktragen in eine verlorene Zeit. (Aber will man das überhaupt?)

Wenn man von den letzten zwanzig Jahren spricht, dann gewöhnlich von der Veränderung des Ostens, das liegt natürlich auch nahe, aber wenn man diesen Erzählband liest, wird einem bewusst, dass sich auch der Westen sehr verändert hat: diese Bundesrepublik, in der wir in den Siebzigern und Achtzigern im Westen groß geworden sind, die gibt es auch nicht mehr. Das Verstörende an dem Erzählband ist nur, dass er 1997 erschienen ist und nicht 1987 oder 1977. Erstaunlich, wie sehr die Erzählungen sieben Jahre nach der Wiedervereinigung noch „alte Bundesrepublik Westdeutschland“ atmen. Dreizehn Jahre später darf man hoffentlich auf etwas anderes beim Bewerb hoffen (es war das einzige Buch, das die AGB von Iris Schmidt hatte).

Verena Rossbacher und Iris Schmidt sind ein denkbar größter Gegensatz. Mir war das eine zu albern und das andere zu altbacken, vielleicht auch ein Indiz für das, was Jessa schreibt: Frauen sind noch auf der Suche.

tddl 2010 [verena rossbacher: verlangen nach drachen].

Es ist natürlich überhaupt nicht Verena Rossbachers Schuld, wenn ich Satzzeichen zum Lesen brauche, das muss ich vorausschicken. Es ist meine eigene Schuld, wenn ich neben dem Lesen das Kind bade und darum dem Auseinanderhalten von Fließtext und Dialog keine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann. Das kann man Verena Rossbacher nicht anlasten, aber generell finde ich es als Leserin schon schön, wenn mir ein Autor ein bisschen hilft.

Nundenn, ich habe dann gestern weitergelesen, als das Kind im Bett war, „Verlangen nach Drachen“ heißt Rossbachers Roman. Er wird bevölkert von lauter kauzigen Typen, so ein ganz kleines bisschen muss man an Herrn Lehmann denken, liegt auf der Hand bei der ersten Szene, die in einem Lokal spielt, dessen Besitzer die Tür offen lässt, aber alle Gäste wegschickt, nur sind die Charaktere bei Sven Regener ja gerade nicht wirklich kauzig, oder nur so ein kleines bisschen, die bleiben einem dabei immer sehr vertraut, und diese Balance stellt sich in „Verlangen nach Drachen“ überhaupt nicht ein. Soll sie wohl auch nicht, denn es ist von „Originalen“ und „Unikaten“ die Rede, der Text geht bewusst ins Absurde, der Protagonist wechselt ständig seine Identität, einmal hat er acht Klaviere auseinander genommen, um „den fehlenden Ergänzungston zu finden, der die Verstimmung wieder zum Einklang mit den Schöpfungsharmonien bringen soll.“ Da hieß er noch Prohaska, später Roth und dann Grün.

Im Klappentext heißt es über die Charaktere des Buches: „Alle faszinieren durch Eigensinn, ausgefallene Interessen und charakterliche Unausgewogenheiten. Verena Rossbacher fesselt den Leser mit einer Geschichte, die um Liebe, Entwicklung und Verwandlung kreist, und mit ihrer Fähigkeit, die Figuren durch ihre Sprache kenntlich werden zu lassen.“ (Im Original-Klappentext alles in Großbuchstaben.)  Mich hat das leider nicht gefesselt, bis zum „Steinesammler, Floristen und Universalautodidakten Lenau“, der im Klappentext angekündigt wird, habe ich es nicht mehr gebracht. Aufgabe nach ca. 60 Seiten, tut mir leid.

Unklare Praxis: „Grün wachelte mit der Zeitung.“

Offene Frage: Im Katalog der Amerika-Gedenk-Bibliothek, in der ich meine zehn vorbereitenden Bachmannbücher ausgeliehen habe, finden sich unter Iris Schmidt auch die Bücher „Kräuter, Gewürze und Heilpflanzen“ und das „Lexikon der Heilpflanzen“: Ob das dieselbe Iris Schmidt ist?

tddl 2010 [juroren und autoren].

Meike Feßmann: Volker Altwasser und Peter Wawerzinek
Karin Fleischanderl: Thomas Ballhausen und Josef Kleindienst
Paul Jandl: Dorothee Elmiger und Christian Fries
Hildegard E. Keller: Iris Schmidt und Judith Zander
Burkhard Spinnen: Daniel Mezger und Verena Rossbacher
Alain Claude Sulzer: Christopher Kloeble und Sabrina Janesch
Hubert Winkels: Max Scharnigg und Aleks Scholz

das zimmer und der stuhl. (die redaktion und der vorsitzende.)

Lorraine Adams war elf Jahre lang Reporterin bei der Washington Post und wurde mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. 2004 erschien ihr erster Roman „Harbor“, nun der zweite Roman „The Room and the Chair.“ Letzten Freitag stellte sie das neue Buch im Café Hilde in Berlin vor, veranstaltet von Dialogue Berlin und Bookslut (die erste Bookslut-Lesung in Berlin!).

In „The Room and the Chair“ geht es im weitesten Sinne darum, wie in den USA in Bezug auf die Konflikte im Mittleren Osten Wirklichkeit erzeugt wird und darüber sprach Lorraine Adams auch letzten Freitag. Adams hat das Geschäft des Journalismus und das der Politik in Washington lange genug von innen kennengelernt, um mit viel Wissen darüber berichten zu können. Sie verhehlte nicht, dass einer der Charaktere im Buch Bob Woodward ist. Nachdem Woodward (Watergate) immer bekannter geworden war, interviewte er vor allem Prominente und prominente Politiker, und dieser Wechsel dient als Beispiel für eine generelle Verschiebung im Journalismus, die Adams höchst kritisch beobachtet, und die sie letztlich auch dazu führte, den Journalismus aufzugeben. Was passiert, wenn nicht mehr die Menschen in der U-Bahn, sondern nur noch die in den Limousinen gehört werden? Es bildet sich eine eigene Welt, abgekapselt, die bald auch ihre eigene Realität erzeugt. Dass es im Irak keine Massenvernichtungswaffen gab, hätten in Washington viele Menschen sehr früh gewusst, aber es gelangte nie auf eine nennenswerte Titelseite: warum? Adams spürt all diesen Themen nach, und zwar auf eine sehr, sehr berührende Art. Ich habe lange nicht mehr eine so anregende Lesung besucht (die zu großen Teilen aber auch eher ein Gespräch war) und ich habe auch schon eine ganze Weile keinen Roman gelesen, der mich so berührt hat. Der Hinweis auf DeLillo im Klappentext ist durchaus gerechtfertigt. [Hier bitte noch viel Schwärmerei einfügen, für die ich gerade keine Zeit mehr habe.]

Ihr Lebensgefährte ist übrigens Richard Price, der unter vielen anderen Drehbüchern auch an „The Wire“ mitgeschrieben hat und dessen neuer Roman „Lush Life“ nicht nur Obama gefiel, sondern auch im Sommer beim S. Fischer Verlag in deutscher Übersetzung erscheint. Fragt sich nur, wann endlich Lorraine Adams übersetzt wird?

Bin ich ganz schön froh, dass Jessa von Chicago nach Berlin gezogen ist und nun die Bookslut Readings hierher gebracht hat, und Katy habe ich bei der Lesung auch noch gesehen.

Lorraine Adams bei Twitter [#]

Rezension in der New York Times [#]

Rezension im Bookforum [#]

Rezension in der Washington Post [#]

Rezension in der L.A. Times [#]

Interview mit Lorraine Adams im Wall Street Journal [#]

Gespräch zwischen Lorraine Adams und Jessa Crispin in Berlin [#]

tddl 2010 [die autoren].

Es ist wieder soweit. Bevor auch noch der Bachmannpreis von Stefan Raab und Lena Meyer-Landrut aufgemischt wird, wurden schnell die Autoren für dieses Jahr benannt.

Zunächst einmal muss man die Jury für ihre taktische Leistung beglückwünschen, die Basiskoordinaten Alter, Geschlecht, Nationalität und Herkunft so gerecht wie wohl nur irgend möglich in ihrer Auswahl zu repräsentieren.

Alter:
3 in den Zwanzigern
7 in den Dreißigern
2 in den Vierzigern
2 in den Fünfzigern

Geschlecht:
9 Männer
5 Frauen

Nationalität:
3 Österreich
2 Schweiz
9 Deutschland

Herkunft der deutschen Autoren:
5 aus dem Westen
4 aus dem Osten

Bei den weicheren Verteilungskategorien ergeben sich wie immer nicht zu umgehende Ungleichgewichtungen, so eine Überrepräsentation von Berlin bei den aktuellen Wohnorten:
5 Berlin
2 Wien
1 Rostock
1 Zürich
1 Münster
1 Cottbus
1 Düsseldorf
1 Dublin
1 München

5 der diesjährigen Autorinnen und Autoren waren am Literaturinstitut Leipzig, 1 am Schweizerischen Literaturinstitut. Während im Vorjahr noch 6 Journalisten dabei waren, sind es dieses Jahr nur 4, von denen 3 den Journalismus zudem mehr oder weniger nebenher zu machen scheinen (Janesch, Scholz und Wawerzinek). Der Journalismus ist bei der Auswahl dieses Jahr also deutlich abgestiegen, während das Literaturinstitut wieder an Bedeutung gewinnt.

7 Autorinnen und Autoren scheinen – nach den Informationen auf der Bachmmanpreis-Website zu urteilen – als freie Künstler überleben zu können (Altwasser, Janesch, Kloeble, Mezger, Rossbacher, Wawerzinek, Zander), diese Rate ist wesentlich höher als letztes Jahr, als dies nur 3 waren.

Die anderen Berufe dieses Jahr:  1 Kulturwissenschaftler der Uni Wien (Ballhausen), 1 Studentin (Elminger), 1 Schauspieler und Regisseur (Fries), 1 Deutschlektor (Kleindienst), 1 Journalist (Scharnigg), 1 Sozialpädagogin (Schmidt), 1 Astronom (Scholz).

Außerdem ist eine Entwicklung in szenisch-dramatische Richtung zu beobachten, 5 Autorinnen und Autoren haben dieses Jahr eine Affinität zu Theater, Film und Schauspielerei (Fries, Kleindienst, Kloeble, Mezger, Rossbacher).

Der Trend geht also weg vom Journalistischen (Ausnahme: Scharnigg), hin zum formal-ästhetisch geprägten Hauptberuf. Ich hoffe, dass dies nicht den Anteil unlesbarer Texte erhöht. Was mir außerdem ein bisschen Sorgen bereitet, ist die Quote von Preisen und Stipendien: 13 von 14 Autorinnen und Autoren haben diverse Förderpreise und Stipendien erhalten (Ausnahme: Scholz).

Bei Volker Altwasser heißt es, er habe unter anderem in Langenthal, München, Visby und Schöppingen Stipendien erhalten. Sabrina Janesch war in Danzig, Stuttgart und Berlin. Judith Zander war in Sachsen, Ahrenshoop, Lübeck und Landsdorf. Hoffentlich haben die Autoren alle „Wie man den Bachmannpreis gewinnt“ gelesen, besonders die Passage über das Sekundärgeschreibe und den Literaturbetrieb. Literaturpreise, Aufenthaltsstipendien und Lesereisen bergen große Gefahren: „Das Autorsein führt dazu, dass der Autor sonst nicht mehr viel erlebt, also schreibt er genau darüber. […] Wir lesen die ewig ähnlichen Geschichten über ewig ähnliche Hotels, und immer ist es so einsam.“ (Angela Leinen: Wie man den Bachmannpreis gewinnt, S. 38)

Einsam ist es in den Texten, weil die Autorinnen und Autoren ihrem sozialen Umfeld entzogen werden. Die ständige Verschickung von Autoren erinnert an die Tuberkulose-Erkrankungen im 19. Jahrhundert, auch dort brachte die Verschickung an Kurorte einen Prozess der Isolation mit sich, die Erkrankten wurden ihrem Umfeld und ihren Routinen entzogen, lebten an fremden Orten, abgeschieden von ihren Familien, in einer Art Exil, und die isolierenden Lebensumstände leisteten dekorativen, manchmal geradezu lyrischen Assoziationen einer romantischen Weltsicht Vorschub, nicht zuletzt darum wurde die Tuberkulose von Thomas Mann bis H.D. Thoreau in der Literatur ästhetisiert. Weil sich die Medizin der erfolgreichen Behandlung der Tuberkulose erdreistete, muss man die Erkrankung heute durch Aufenthaltsstipendien ersetzen.

Stadtschreibertum ist also die Tuberkulose des 21. Jahrhunderts. Man sollte dieses Konzept überdenken, und Autorinnen und Autoren vielleicht auch mal ermöglichen, feste Beziehungen zu führen, Kinder zu bekommen und lauter Dinge zu tun, die nicht mal so eben zwischen Ahrenshoop und Schöppingen passen, zumal sich daraus potentiell auch Inhalte ergeben könnten, die wir nicht schon zur Genüge seit dem 19. Jahrhundert kennen.

A propos in der Gegenwart angekommen, sehr löblich: 6 von 14 Autoren haben eine Website, das ist eine Verdopplung gegenüber 3 von 14 im letzten Jahr.

Volker Altwasser [#]
Sabrina Janesch [#]
Christopher Kloeble [#]
Daniel Mezger [#]
Aleks Scholz [#]
Peter Wawerzinek [#]

Katalog kommunikativer Knackpunkte: Christian Fries, „verbrachte ein paar wesentliche Jahre in Wien.“

Mehr Infos zu den Autoren auch bei Sopranisse [#]

dialogue berlin.

Heute Abend liest Lorraine Adams aus ihrem Buch „The Room and the Chair“, ab 19:30 Uhr im Café Hilde in der Metzer Str. 22. [#] Geh ick hin, wa.

wo fahren wir hin, papa?

„Eltern von Kindern mit unbefristetem Schwerbehindertenausweis hatten lange Zeit Anspruch auf eine Steuerplakette fürs Auto. 1991 wurde sie jedoch abgeschafft, sodass es seitdem keinen Anreiz mehr gibt, behinderte Kinder zu bekommen.“

Bei so einer Fußnote auf den ersten Seiten eines Buches muss man natürlich schmunzeln. Jean-Louis Fournier, Vater zweier behinderter Kinder, hat ein Buch geschrieben, um sich alles Ungesagte von der Seele zu schreiben, vielleicht auch seine Schuldgefühle, wie er im Vorwort erklärt. Er schreibt für seine Söhne: „Damit ich euch sagen kann, wie sehr ich bedaure, dass wir nicht gemeinsam glücklich waren, und vielleicht auch, damit ihr mir verzeiht, dass ihr mir so missraten seid.“ Das Interessante an dem Buch ist, um das schon einmal vorneweg zu sagen, dass am Ende alles exakt auf diese Einleitung zurückfällt, ob beabsichtigt oder unfreiwillig.

Fournier versucht ganz offensichtlich, einen anderen Zugang zum Schreiben über seine behinderten Kinder zu bekommen, als üblicherweise erwartet. Seine Sätze möchten kein Mitleid, zynisch analysieren sie etwa den Umgang der Gesellschaft mit behinderten Kindern und deren Angehörigen: „Wer im Leben Pech gehabt hat, muss den Umständen entsprechend aussehen und ein betretenes Gesicht machen, das ist eine Frage des Anstands“, heißt es da etwa, oder: „Wer behinderte Kinder hat, muss sich obendrein noch allerhand dummes Zeug anhören.“

Lakonisch erzählt Fournier, aber fast ist es schon kein Erzählen, sondern ein Aufzählen, die kurzen Paragraphen fangen kleine Episoden ein, die für das Erleben des Vaters Fournier ebenso flüchtig wie unvergesslich sind. Zur Geburt bekam Sohn Thomas schöne Geschenke seines Patenonkels. „Als Thomas älter wurde und seine Behinderung zutage trat, bekam er nie wieder ein Geschenk von seinem Patenonkel.“ Fournier kann es dem Patenonkel nicht verübeln, schreibt er. „Er wird sich gedacht haben: ‚Die Natur hat ihm nichts geschenkt, warum sollte ich es also tun?'“ Kaum ein Satz in dem Buch, aus dem nicht dieser Zynismus tropft.

Natürlich kann das humorvoll sein, etwa wenn Fournier schreibt: „Mathieu sieht nie fern, ist auch nicht nötig, er hat’s auch so zum geistig Behinderten gebracht.“ Oder es kann, in typisch knapp formulierter Beobachtung, auch auf vieles mehr dahinter deuten: „Wenn ein Kind sich beim Essen mit Schokopudding beschmiert, lachen alle; wenn das Kind behindert ist, lacht keiner.“

Mich macht das das Buch aber auch ein bisschen traurig, nämlich an den Stellen, an denen die Kinder doch sehr herabgesetzt werden. Immer wieder heißt es zum Beispiel, sie hätten nur Stroh im Kopf. „Zwei verbeulte, sabbernde Knirpse, von denen der begabtere ständig wiederholt: ‚Wo fahren wir hin, Papa?'“ Das schießt teils über eine liebevolle Form des Zynismus hinaus. In vielen Schilderungen spiegelt sich wohl doch noch ein Rest dessen, was Fournier schon in der Einleitung schrieb: „Euch zu lieben war nicht leicht.“

Er schreibt: „Unser Familienalbum ist dünn wie eine Briefmarke. Wir haben nicht viele Fotos von den Kindern, weil es keinen Spaß macht, sie zu zeigen. Ein normales Kind fotografiert man bei jeder Gelegenheit, in jeder Haltung, aus jedem Winkel; man sieht, wie es seine erste Kerze ausbläst, die ersten Schritte macht, das erste Bad nimmt. Man betrachtet es voller Rührung. Verfolgt Schritt für Schritt seine Entwicklung. Den Verfall eines behinderten Kindes verfolgt man weniger gern.“

Das ist Fourniers bezeichnende Wahrnehmung: das Leben der Kinder als Verfall. Aus eben diesem Blickwinkel schreibt er in schon bald endlos erscheinenden Variationen all das auf, was er alles nicht mit seinen Kindern tun konnte (auf Berge steigen, Volleyball spielen, in Museen oder ins Kino gehen, Hochzeit feiern, Enkelkinder bekommen etc.) Immer wieder und wieder schleichen sich in den Zynismus diese larmoyanten Aufzählungen ein, was die Kinder alles nie konnten, welche Entwicklungen sie nie durchgemacht haben, was er nicht mit ihnen teilen konnte, und sei es auch als Positiv, als Aufzählung all dessen, was sie ihm erspart haben: er musste sich nie um Schulleistungen sorgen, um die berufliche Zukunft oder darum, dass sie eine blöde Schnepfe heiraten.

Irgendwann merkt man: Fournier denkt eigentlich nur an sich, und seine eigenen Erwartungshaltungen beäugt er nicht besonders selbstkritisch, erkennt sie letztlich nicht als falsch. Zynismus gegenüber dem eigenen Schicksal, Zynismus gegenüber der Gesellschaft und dem Leben in ihr mit behinderten Kindern, ja, aber darunter ist sein Schreiben leider überhaupt nicht so fundamental anders, im tieferen Grund ist es kaum mehr als die übliche, selbstmitleidige Jammerei eines Elternteils, das sich von seinen Kindern alles mögliche erhofft und nie bekommen hat. Gähn.

Kürzlich hat Jenny McCarthy in den USA einen Bestseller geschrieben: „Louder than words“, in dem sie von ihrem Leben mit ihrem autistischen Sohn berichtet. Das Buch kann man kaum lesen, so sehr trieft es vom Egoismus der Mutter, die partout ihre Erwartungen an ihr Kind erfüllt sehen möchte, und den Jungen darum von einer dubiosen Therapie zur nächsten zerrt. In dem Buch gibt es nur Jenny McCarthy, Jenny McCarthy und Jenny McCarthy. Von ihrem Sohn Evan hat man am Ende kein Bild, von seiner Persönlichkeit ahnt man nichts. So ist Fourniers Buch nicht, offensichtlich ist er viel klüger. Er beschreibt seine Kinder durchaus so, dass man das Gefühl hat, sie kennenzulernen. Er versucht sie auch nicht zu verändern. Aber er hat Schwierigkeiten, sie anzunehmen und so zu lieben, wie sie sind, das schreibt er und das merkt man auch. Mit ihnen zu leben kann er sich nicht vorstellen, sie lebten bald im Heim. Trotz allen schönen und auch lustigen Beobachtungen bleibt am Ende des Buches vor allem dieser Eindruck, der schon in der Einleitung vorkam: Fournier konnte mit seinen Kindern nicht glücklich sein.

Müssen die Kinder ihm, wie er in der Einleitung fragt, verzeihen, dass sie ihm so missraten sind? Vielleicht müssen sie ihm eher dafür verzeihen, dass er nicht sehen kann, dass sie nicht missraten sind. Auf Seite 6 heißt es: „Schon gut, ich höre auf zu jammern.“ Leider wird dieses Versprechen erst auf S. 156 eingelöst, mit dem Ende des Buches.

Ich frage mich, warum es Jenny McCarthy oder Jean-Louis Fournier so schwer fällt, über ihren eigenen Schatten zu springen. Auch wenn ich bei Fournier manches Mal gelacht habe, und gedacht: „Genau!“, und auch wenn ich manches ähnlich erlebt und empfunden habe wie Fournier, so kann ich mich mit seinem Buch grundsätzlich dann doch nicht identifizieren, ist doch etwas fundamental anders: ich hatte nie ein Problem damit, mein Kind so zu lieben, wie es ist. Diese Liebe ist mir nicht schwer gefallen, sondern sie war immer schon da, und wir sind gemeinsam glücklich. Der Ausgangspunkt ist zu anders, als dass ich dieses Buch rückhaltlos gut finden könnte.

Darum bei uns auch wahrlich kein Familienalbum dünn wie eine Briefmarke, und darum zu diesem Text mein aktuelles Lieblingsfoto, das so typisch ist für den Kandidaten, den wir hier am Start haben: wenn er nicht mehr laufen will, dann legt er sich halt auf die Straße, und horcht am Asphalt wie ein Indianer.

„Wir brauchten uns nicht den Kopf zu zerbrechen, was einmal aus euch werden würde, denn daran gab es schon bald keinen Zweifel mehr: nichts.“ So Fournier. Oder aber eben: alles. Das kann man so oder so sehen.

books do furnish a life.

I wrote in my journal: „I have not spoken to anyone since Monday. The radio is playing ‚Downtown‘ by Petula Clerk. I’ve been reading some Shaw — Man and Superman. I’m wearing jeans, my cable knit sweater and my Keds. I’ve made coffee and am waiting for it to cool. Let it be recorded that at this moment I am happy.“ [#]

dilemma.

„Psychopharmacology: hit or miss, hard to tune, ripe with side effects, symptom-masking, and once begun, difficult to tail off of. Medicine’s next generation would surely remember Weber’s as sadly as Weber remembered his father’s. The general level of barbarism receded, but never as quickly or completely as thought. Or maybe he was the last barbarian. Months of unnecessary suffering, because of Weber’s eyes-averted Puritanism.“

(Richard Powers: The Echo Maker. In den Roman ist das Thema Hirnforschung auf vielen Ebenen eingewoben: die verschiedenen Dimensionen und Implikationen bis tief in die Gesellschaft auf der ethischen Ebene einerseits, und bis tief in die Familien auf der persönlichen Ebene andererseits. Sehr empfehlenswerte Lektüre.)

tddl 2009 [der erste nachmittag.]

Den Nachmittag musste ich wegen des Klassenfestes gestern Abend nachholen. Leider ist die Diskussion von Christiane Neudeckers Text nicht als Stream verfügbar, die Online-Redaktion hat da fälschlicherweise ein zweites Mal den Link zum Porträt verknüpft.

Zuerst aber Bruno Preisendörfer, der „Fifty Blues“ liest. Fängt mit einem Clown an, und dann gesellt sich „der liebe Gott“ dazu. Schon auf der ersten Seite wird klar, dass es sich hier um einen sehr zynischen Text handelt, der vor lauter Zynismus ins Kindische driftet. Ein frustrierter, seine Patienten verachtender Psychotherapeut wird fünfzig Jahre alt wird, sieht sich beim Rasieren im Spiegel und macht sich dazu seine welt- und menschenverachtenden Gedanken: so der Umriss des Textes, zeitlich spielt er nur zwischen der Rasur und dem Eintreten in seine Praxis. Bevor der erste Patient eintritt, legt er noch ein Kissen zurecht und „verpasst ihm einen Handkantenschlag“ (wer macht denn heute noch so was?), dann ist der Text auch schon zu Ende.

Ich sehe durchaus, dass der Text gut gearbeitet ist, so wird anfangs das Theodizeeproblem genannt, das dann immer wieder im Text vorkommt, ohne das es noch einmal spezifisch benannt wird, es zieht sich aber angenehm subtil durch den Text. Es gibt interessant gearbeitete Beziehungen zwischen Gott und Mensch: Gott ist 50 Milliarden Jahre alt, eine Allegorie darauf, dass der Protagonist 50 wird; Gott sieht auf die Welt, dann Perspektivwechsel zu einem Astronauten, der auf die Welt sieht – auch so was webt sich durch den Text, Beziehungen Gott-Mensch, nah-fern etc. Abgesehen davon, dass es für meinen Geschmack stellenweise zu viele extreme Adjektive gibt („Die Phantasien waren keine kristallklare Quellen oder silbrige Bächlein oder begradigte Flüsse, es waren trübe Ströme“ – das ist mir zu plakativ), also abgesehen von so Kleinigkeiten finde ich den Text auch gut geschrieben. Aber, und jetzt kommt mein großes Aber: mir gefällt der Erzählton des Textes überhaupt nicht. Der Therapeut hasst seine Patienten (wie es an einer Stelle auch explizit heißt), er würde dem einen am liebsten „ins schmallippige Gesicht lachen“ (auch so eine Formulierung, die ich nicht gerade glücklich finde). Natürlich hat er nur Patienten, die geradewegs den gängigen Klischees entsprechen.

Die misanthropischen Gedanken, die sich ein miesepetriger alternder Mann beim Rasieren macht, interessieren mich überhaupt nicht. Dazu kommt, dass der Erzähler dabei auch noch einen so besserwisserischen Ton anschlägt, als würde er mit einem Kind reden. Das Theodizeeproblem wird anfangs beispielsweise erklärt: „So nennen Theologen die Frage: Wie lässt sich bei all dem Bösen ein guter Schöpfer rechtfertigen?“ Der Erzähler erklärt uns sogar, dass z.Zt. die Abkürzung für „>zur Zeit<“ ist. Man hat die ganze Zeit das Gefühl, der Erzähler spricht mit einem Achtjährigen. Ich dachte, der Autor versteckt gern Trüffeln in seinem Text, wie er im Videoporträt sagte: nun, hier wird alles erklärt, da werden noch die sieben Todsünden aufgezählt. (Und ja, ich weiß, dass genau das Methode ist.)

„Über die chinesische Mauer hatte er als Junge Bücher gelesen. Deshalb wusste er, dass man sie vom Weltraum aus sehen konnte. Das hatte ihn sofort überzeugt.“ Das mag ihn als Jungen ja überzeugt haben, aber als Erwachsener kann er ja mal goggeln, dass das eine Legende ist. Diese Legende zieht sich ausgerechnet, ungefragt und unkorrigiert, als Leitmotiv durch den Text, und erhält dadurch stetig diese Kindperspektive. Warum sagt die Jury dazu nichts?

Auch wenn er bewusst eingesetzt ist: dieser bevormundende Erzählton, die herablassende Haltung des Erzählers (ich vermute, sie soll den Zynismus verstärken), gefällt mir gar nicht. Dazu kommen ja noch so Sachen, wie die Erde als blaue Kartoffel zu bezeichnen, Gott, der sich als Couch Potatoe bezeichnet und mit der Fernbedienung durch die Zeiten zappen kann – ach nee, das ist mir alles wirklich zu albern.

Bei diesem Text geht es mir wie Mangold es vorher einmal sagte: ich fühle mich benutzt. Ich möchte beim Lesen nicht als Müllhalde für den Zynismus eines alternden Mannes herhalten. Seine Patienten laden ihre Last bei ihm ab, und er lädt seine Last beim Leser ab, gähn. Dass dieser Protagonist so an sich und dem Leben leidet, ist eine Sache. Man darf auch sehr unsympathische Protagonisten erschaffen, alles keine Frage. Aber, wenn es Literatur sein soll, bitte einen neutralen Erzähler, statt einen, der diesen Zynismus noch verstärkt. Der Autor missbraucht den Erzähler dafür, die Figur des Protagonisten deutlicher herauszuarbeiten, das finde ich literarisch fragwürdig. Warum kann er den gewünschten Effekt nicht an der Figur selbst herausarbeiten, warum braucht er einen dummen Protagonisten /und/ einen dummen Erzähler?

In einer Passage heißt es: „Vor dem Tod sind alle gleich, sagten sie. Sie drückten sich ungenau aus. Was sie meinten war: Nach dem Tod sind alle gleich.“ Das ist doch Quatsch: das Vor ist in dieser Redewendung nicht zeitlich benutzt, sondern räumlich, und es heißt genau das, was es sagt: Vor dem Tod sind alle gleich, und eben nicht /nach/ dem Tod. Versteht das nur der Protagonist nicht, oder auch der Erzähler nicht: das weiß man ja nun nicht, wenn es keine Distanz zwischen ihnen gibt. Mir gefällt das nicht.

Christiane Neudecker las dann den Text „Wo viel Licht ist.“ Ich war vorher skeptisch, weil mir der Erzählungsband „In der Stille ein Klang“ ja nicht so gefallen hatte. Umso schöner, im Bewerb dann so angenehm überrascht zu werden. Wie bei Preisendörfer ist es ein schön gearbeiteter Text, mit dem Leitmotiv des Lichtes, das sich in vielen guten Variationen virtuell, architektonisch, metaphorisch durch den Text zieht. Die in Hongkong spielende Geschichte und die Thematik des Schattens haben eine Doppelbödigkeit, weil alles zu einer Frau in Deutschland in Beziehung steht, von der sich der männliche Protagonist vor seiner Abreise nicht mehr verabschieden konnte. Die ganze Erzählung ist sehr schön angelegt, etwa bei der Hälfte erfolgt der erste große Einbruch: der Schatten der Hand verselbständigt sich zum ersten Mal. Nun ahnt man, wohin die Reise geht, aber trotzdem schafft es die Autorin, den Schwebezustand vor dem antizipierten Zusammenbruch noch seitenlang zu halten und zu entwickeln, bevor das erwartete „Blackout“ am Ende kommt. Das ist einfach wirklich gut erzählt, spannend, aber dennoch auch formal ansprechend und gut gearbeitet. Mir gefällt auch diese Mischung aus „Tim Thaler“ und dem „Lost in translation“-artigen Topos der asiatischen Großstadt. Meiner Meinung nach der beste Text des ersten Tages.

Mein Ranking des ersten Tages:

Christiane Neudecker
Karsten Krampitz
Bruno Preisendörfer
Lorenz Langenegger
Philipp Weiss

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