gedanken zu aids und covid-19.

Seit Monaten werden wir jetzt zwischen Hysterie und Leugnen hin- und hergeworfen. Es ist anstrengend und entsprechend scheint auch jeder von Ermüdung zu sprechen, aber wie kommen wir da wieder raus? Dazu lese ich erstaunlich wenig.

Die Situation ist für uns alle neu, eine solche Pandemie haben wir noch nicht erlebt. Wir haben uns das alle nicht gewünscht. Am einfachsten wäre, man könnte einen oder mehrere Schuldige ausmachen, ihnen das Problem anheften und es damit zumindest auf eine Art von sich selbst fernhalten. Doch keiner ist unmittelbar Schuld, wir haben es mit einer Verkettung vieler Faktoren zu tun, die uns an diesen Punkt geführt haben.

Alle tapsen so ein bisschen im Dunkeln herum, die Politik reagiert auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens, wobei die Reaktion gefühlt eigentlich immer schon ein bisschen zu spät kommt. Dennoch ist Deutschland in der Pandemiebekämpfung bisher ziemlich erfolgreich, im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Die Unzufriedenheit ist trotzdem groß. Es begegnet uns das alte Problem: Man kann es nie allen Recht machen.

Alle sind gleichzeitig aus dem rückblickend ziemlich ideal scheinenden Vorher hinausgefallen und jeder fühlt sich nach dem Fall im Gemenge der neuen Lage erstmal tendenziell zu kurz gekommen. So treiben wir uns gegenseitig durch den Käfig, in dem wir doch gemeinsam sitzen. Als Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategie scheint mir das nicht gerade optimal.

Ich wundere mich, dass in den Medien nicht viel mehr danach gesucht wird, wie es in ähnlichen Situationen war, und ob man daraus nicht vielleicht etwas lernen könnte. Ja, es gab Artikel über die Pest und die Spanische Grippe, aber diese Katastrophen sind historisch. Ich frage mich vielmehr, warum man nicht nach etwas guckt, was in unseren eigenen Erfahrungshorizont fällt: die Erfahrungen mit der Ausbreitung von Aids. In der Hoffnung, meine eigene innere Unruhe besser zu verstehen und vielleicht auch etwas zu befrieden, habe ich mich ein bisschen näher damit beschäftigt.

Natürlich gibt es grundlegende Unterschiede. Die Übertragung des SARS-CoV-2-Coronavirus durch Aerosole und Schmierinfektionen bedeutet viel breitere Übertragungswege als die Übertragung des HI-Virus über Sperma und Blut. Aids wurde relativ schnell als „Krankheit der anderen“ angesehen, da die zentralen Risikogruppen (schwule Männer, Drogenabhängige, Bluter) als Randgruppen wahrgenommen wurden. Covid-19 hingegen ist eindeutig ein Problem der Mehrheitsgesellschaft.

Die Unterschiede sind offensichtlich, aber ich habe mich gefragt, ob es nicht trotzdem auch viele Gemeinsamkeiten gibt. Mir hat die Beschäftigung damit geholfen, deshalb schreibe ich das hier einfach mal auf.

Ganz ähnlich wie bei den ersten an Covid-19 Erkrankten wusste auch bei Aids, zuerst 1982 erkannt, zu Beginn niemand, um was für eine Krankheit es sich überhaupt handelt. Die Übertragungswege der Infektion waren unklar, es gab keine Therapieformen. Was ich über die große Unsicherheit und das Ohnmachtsgefühl dieser ersten Zeit gelesen habe, finde ich durchaus mit unserer Situation zu Beginn des Jahres 2020 vergleichbar.

Im empfehlenswerten Buch „Die Kapsel“ von Martin Reichert, erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, beschreibt das Jan Feddersen so: „Aids, das hat einem wirklich den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war wie eine Lähmung.“ Wie ein Damoklesschwert schwebte die Todesangst über dem Alltag.

1982 war ich erst zehn Jahre alt und kann mich daher nicht an diese unmittelbaren Anfänge erinnern. In unserer Kinderwelt kam das Thema nicht vor. Meine Erinnerung setzt etwa 1986 ein, als ich 14 war und auf den Schulfluren darüber diskutiert wurde, ob man durch Küssen Aids bekommen kann. Erwachsene zu fragen, das kam natürlich nicht in Frage. Das maßgebliche Informationsorgan war die BRAVO. Der Konsens der Diskussionen war, dass das laut dem, was man so hörte und las, keine Gefahr darstellen sollte. Ganz sicher war man sich allerdings nicht.

Heute weiß ich, dass schon seit 1984 offiziell anerkannt war, dass die Krankheit von einem Virus ausgelöst wird, das sich vorwiegend über Sperma und Blut verbreitet. 1985 wurde der erste HIV-Antikörpertest zugelassen.

Drei Jahre lebte die ganze Welt schon mit dem Virus und in großer Unsicherheit, da kam erst der erste Antikörpertest heraus. Und ob Kondome wirklich schützen, war zu dieser Zeit sogar auch noch ungewiss. Wenn ich darüber nachdenke, setzt es meine eigene innere Ungeduld in ein neues Verhältnis. Es macht mir bewusst, was für hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen wir heute haben. Wir leben weniger als ein Jahr mit dem neuen Coronavirus.

Innerhalb der Schwulenbewegung prägten sich in der unsicheren Lage Konflikte aus, in öffentlich geführten Diskussionen. Einige Vertreter forderten als Reaktion Enthaltsamkeit ein, oder zumindest den Verzicht auf Promiskuität, worauf andere sich nicht einlassen wollten. Was sollte die Zielgröße sein: Null-Risiko oder Minimierung des Risikos? Wie sollte man mit der Risikobewertung umgehen?

Auch diese Fragen erinnern mich sehr an heute. Null-Risiko wäre nur mit einem totalen Shutdown machbar. Das scheint kaum machbar. Selbst der verhältnismäßig leichte Lockdown im Frühjahr, der nie mit einer Ausgangssperre einhergegangen ist, hat – in einer Freiheitsgesellschaft wie der unseren – schon zu großen Verwerfungen geführt. Wir haben gelernt, dass Null-Risiko wohl keine Option ist.

Das hat die Schwulenbewegung schon in den achtziger Jahren erfahren. 1986 schrieb der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock in seinem Buch „Aids kann schneller besiegt werden“, dass die Zielgröße Null-Risiko nur durch ein lebensfernes Abstinenz-Prinzip und Verbote zu erreichen sei, was dann aber zu Resignation und totalitären Wahngebilden führen würde.

Genau das erleben wir heute schon bei deutlich weniger ambitionierten Zielgrößen: Die Coronaleugner und Querdenker wähnen sich bereits in einem totalitären Staat, wenn sie beim Einkaufen eine Maske tragen sollen.

Rosenbrock schlug vor, stattdessen auf Verhaltensveränderungen zu setzen, zumal sich auch herauskristallisierte, dass Kondome tatsächlich schützen (ähnlich, wie sich in der aktuellen Situation herauskristallisiert hat, dass Masken tatsächlich schützen). Den Beteiligten war dabei bewusst, dass Verhaltensveränderungen vielleicht leicht klingen mögen, aber für den Menschen mit zum Schwersten gehören. Martin Reichert zitiert dazu einen treffenden Satz von Martin Dannecker: „Menschen fällt es schon schwer, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, um sich vor Karies zu schützen.“

Wissen verhaltenswirksam zu machen, das ist schwierig. Wie schafft man neue Routinen, neue Selbstverständlichkeiten? Die Politik setzte auf weitreichende Informationskampagnen. Auch etwas, das wir heute erleben, jüngst mit den neuen Werbespots der Bundesregierung über „besondere Helden“.

Interessant fand ich auch, dass die Politik damals mindestens genauso stark zwischen den Alternativen harter Maßnahmen einerseits und gemäßigter Strategie andererseits gerungen hat. (Den Showdown zwischen Peter Gauweiler und Rita Süssmuth nachzulesen, ist köstliche Lektüre.) Sollte es Ordnungsvorschriften für Infizierte geben, sollte man Zwangsuntersuchungen potentiell Infizierter anordnen können? Dass Randgruppen betroffen waren und nicht die Gesamtheit der Bevölkerung, machte es wohl etwas leichter, sich für die gemäßigte Strategie zu entscheiden. Auch pragmatische Gründe sprachen dafür: Was bringen Zwangstests am Ende überhaupt? Wie und von wem könnte eine ständige Kontrolle umgesetzt werden?

So setzte sich am Ende Rita Süssmuth mit dem Motto „Ratio statt Razzia“ durch. Die Sofortprogramme der Regierung zielten in drei Richtungen: Schutz der Bevölkerung gegen die Infektion, Beratung und Versorgung der Erkrankten, Verhinderung von Diskriminierung. Der Slogan „Aids geht alle an“ sollte dafür sorgen, dass durch Aufklärung eine Ausgrenzung der Betroffenen verhindert wird. Kurzum, es entstand eine Präventionsstrategie, die auf vernünftig handelnde und lernfähige Menschen setzte. 1987 waren Kondom und Aids die Worte des Jahres.

Ebenfalls 1987 gab es erste therapeutische Behandlungen. Zunächst waren die Nebenwirkungen äußerst heftig. Dadurch trat unter anderem auch das Thema Compliance in den Vordergrund: Wie genau befolgt der Patient den Medikamentenplan? Zumal die Medikamente anfangs pünktlich alle vier Stunden eingenommen werden mussten. Vieles war noch unbekannt und experimentell. Medikamente wurden überdosiert und die ersten Ansätze von Monotherapien führten zu Resistenzbildung. Erst mit der Zeit entwickelte sich die Kombinationstherapie. Vielleicht haben wir solche Turbulenzen bei der therapeutischen Behandlung von Covid-19 auch noch vor uns?

Für Aids gab es erst 1996 einen Messparameter, mit dem sich die Viruslast quantifizieren ließ, um den Erfolg einer Therapie präzise bestimmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt gab es Aids schon 14 Jahre. Beim Lesen über Aids habe ich immer wieder das Gefühl, dass wir momentan unglaublich ungeduldig sind. Die Schwulen-Community musste 14 Jahre auf Messparameter zur zuverlässigen Bestimmung der Viruslast warten, das muss man sich wirklich mal bewusst machen.

Noch etwas anderes wird mir beim Lesen über die achtziger Jahre neu klar: Es gab auch damals eine insgesamt aufgewühlte Stimmung, eine aufgeladene Atmosphäre. Neben der Bedrohung durch Aids, die anfangs noch nicht auf bestimmte Risikogruppen reduziert war, sorgte auch der Rüstungswettlauf im Kalten Krieg für Endzeitstimmung, Mitte der achtziger Jahre besonders durch die Stationierung der Pershing-Mittelstreckenraketen. Und dann kam ja 1986 auch noch Tschernobyl dazu. An die tiefe Verunsicherung und Angst, die da ausgelöst wurden, und die eine Zeitlang quasi alles andere überdeckten, habe ich noch sehr gute Erinnerungen. Ich hatte das aber bisher noch nicht zusammengedacht mit dem Kalten Krieg und Aids, und wie prägend das im Zusammenhang der verschiedenen tiefen Verunsicherungen tatsächlich war.

Martin Reichert zitiert Rita Süssmuth, die sich an eine Situation in der Stadthalle Hannover erinnert. Sie sagt: „Ich war umringt von einer Gruppe Frauen, die Angst um ihre Kinder hatten. Sie schrien, ohne Unterlass. Und ich habe dann gewartet, eine halbe Stunde lang, bis ich mit ihnen sprechen konnte. Es gibt Situationen, da versinken Menschen vor Ratlosigkeit in Angst.“

Es gab auch damals eine Stimmung von Apokalypse, es gab Dauerdebatten und Überforderung. Und auch damals prägten sich Hysterie einerseits und Leugnung andererseits aus, und auch damals nährten sich auf diesem Boden Verschwörungstheorien, zum Beispiel dass das HI-Virus 1979 von den USA als Geheimwaffe entwickelt worden war und durch Tests an Gefängnisinsassen in Umlauf geraten sei (dies stellte sich später als gezielte Desinformationskampagne des KGB heraus, an der auch die Stasi beteiligt war).

In der Unsicherheit wird der Sog des Gruppenverführerischen stärker. Im Ausnahmezustand ist es keine leichte Sache, der Sogwirkung der Extreme zu widerstehen, Ruhe zu bewahren und eine praktikable Mitte zu finden.

Aids wurde damals zu einer Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Gesellschaftspolitik. Wie gehen wir mit einer ansteckenden Krankheit um? Und wie gehen wir mit den Menschen um? Das hat die Gesellschaft damals schon bei einer deutlich kleineren Gruppe von Betroffenen und bei deutlich selektiveren Übertragungswegen vor enorme Herausforderungen gestellt. Die Herausforderung der Covid-Pandemie ist um ein Vielfaches größer: eine Schnittstelle zwischen Gesundheits-, Gesellschafts- und dieses Mal auch Wirtschaftspolitik.

Die Beschäftigung mit dem Thema Aids hat für mich einiges in ein neues Licht gerückt. Unsere Situation heute kommt mir nicht mehr so singulär vor. Mir ist bewusst geworden, wie ungeduldig wir sind und was für hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen wir haben. Ich habe ein bisschen mehr Verständnis für die Maskenverweigerer, weil mir noch klarer geworden ist, wie schwer Verhaltensveränderungen für Menschen sind. Ich schätze die Gefahr durch die Querdenkerbewegung allerdings jetzt eher größer ein, als ich es vorher getan habe. Die Mechanismen der Sogwirkung im Zusammenspiel verschiedener tiefer Unsicherheiten scheinen mir jetzt gravierender und potentiell dauerhafter, beziehungsweise schwerer wieder aufzulösen.

Ich weiß jetzt zwar auch immer noch nicht, wie wir aus der Polarisierung wieder rauskommen, aber zumindest verstehe ich das alles nun etwas besser.

3 thoughts on “gedanken zu aids und covid-19.

  1. Antworten

    […] Monika Scheele Knight hat einen sehr spannenden, aufschlussreichen Text zur aktuellen pandemischen Lage geschrieben, in dem sie an die 80er Jahre erinnert: Gedanken zu AIDS und Covid-19. […]

  2. Antworten
    Juliane - 23. November 2020

    Es gibt noch eine Gemeinsamkeit zwischen Aids und Covid-19: beide sind Zoonosen. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, er betrifft nämlich das Überspringen auf den Menschen. HIV (Aids) sprang von Schimpansen auf den Menschen über, weil Menschen Schimpansen jagten und aufaßen und SARS CoV-2 (Covid-19) von Fledermäusen, die Menschen jagten und aßen.

    Nicht die Lebendmärkte sind die Ursache, sondern dass Menschen Tiere töten, ihr Fleisch essen und so Viren, die dort endemisch und harmlos sind, weil lange angepasst, auf den Menschen übertragen wo sie, weil dort neu und nicht angepasst, tödlich wirken.

    Wären wir Vegetarier wäre das nicht passiert. Wissenschaftlicher Fakt.

    1. Antworten
      Monika - 24. November 2020

      Ich denke, dass es sich um eine komplexe Verkettung von Faktoren handelt, bei denen das Verhältnis zwischen Mensch und Tier sicher eine zentrale Rolle spielt. Lebensräume für Tiere verengen sich, die Lebensräume von Mensch und Tier rücken näher zusammen, aber auch das ganze Thema Globalisierung spielt dabei eine Rolle, und auch das exzessive Reisen rund um die Welt, das zu einer nicht aufhaltbar schnellen Verbreitung führt. Die große Frage ist, ähnlich wie beim Klimawandel, ob und wie der Mensch in der Lage sein wird, daran maßgeblich etwas zu ändern. Da greift dann wieder das Problem, dass dem Menschen schon das regelmäßige Zähneputzen schwer fällt.

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