Am Südstern

Am 4. August 2023 ist mein Buch „Am Südstern“ erschienen.

Es geht in dem Buch um die Trauer nach Johns Tod, aber genauso geht es auch um Trost. Es geht insgesamt natürlich viel um den Tod, aber ich würde sagen, es geht genauso auch um das Leben.

Ich hatte mir erhofft, damit auch in einen Austausch zu diesen Themen zu kommen, aber dafür müsste ich mich natürlich mehr darum kümmern. Die Tatsache, dass es hier gerade fast drei Monate gedauert hat, bis ich überhaupt mal dazu komme, das Buch auf meine eigene Website zu nehmen, spricht dazu wohl schon Bände. Gefühlt haben das Buch bisher vielleicht fünf Leute gelesen. Wobei es etwa 50 mal gekauft wurde, als ich das letzte Mal bei Books on Demand reingesehen habe. Was natürlich auch schon wieder Wochen her ist. Ich weiß auch nicht. Where to go from here.

Jedenfalls, wo ich überhaupt nach Jahren hier schonmal endlich überhaupt wieder schreibe, und nachdem ich im Backend erstmal tausend Aktualisierungen vornehmen musste, weil ich so lange nicht da war, ein Wunder, dass die Website überhaupt noch steht, also wo ich überhaupt schonmal wieder hier bin, kann ich ja auch mal etwas mehr schreiben.

Zum Beispiel, dass ich seit fast drei Jahren hauptberuflich und festangestellt Lehrerin bin, was ich vor der Pandemie nicht erwartet hätte. Ich hatte hier und da mit dem Gedanken an einen Quereinstieg gespielt, vor allem, wenn ich für den Bundestag mit der Wanderausstellung in Schulen unterwegs war. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, nach einer Woche in einer Schule gerade so anzukommen, die Kinder und Jugendlichen kennenzulernen, teils auch das Kollegium, vor allem aber die Schülerinnen und Schüler. Und genau in dem Moment fährt man mit der Wanderausstellung wieder weg, denn sie ist immer nur für eine Woche an einem Ort. Mir fehlte da so ein bisschen eine tiefere Beziehungsebene. Ich hatte öfter gedacht, wenn ich längere Zeit an einer Schule wäre, könnte ich ganz andere Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern aufbauen. Was ich aus der Warte meiner heutigen Erfahrungen bestätigen kann. Zu der Zeit war das aber doch immer nur ein Gedanke. Ich glaube nicht, dass daraus je etwas geworden wäre, hätte es die Covid-Pandemie nicht gegeben. Erst als alle Aufträge storniert wurden und ich recht schnell dachte, dass sich das über eine lange Zeit ziehen wird, kam ich zu diesem Gedanken zurück. Es gab in dem Moment nichts zu verlieren, alles andere stand eh still, warum also nicht in der Zwischenzeit etwas Neues ausprobieren, dachte ich. Ich könnte ja jederzeit schnell wieder zurück. Und so fing das an.

Mitte März 2020 hatte ich meine erste Coronainfektion gehabt, ich hatte eine der letzten Gruppen im Kanzleramt betreut, noch währenddessen sagte mir einer der Sicherheitsbeamten, dass ab dem nächsten Tag geschlossen werden würde. Ich betreute eine 12. Klasse aus Erding oder Freising, das weiß ich nicht mehr genau, jedenfalls kamen sie aus Bayern und gerade aus dem Skiurlaub in Österreich, ich fuhr mit ihnen im Aufzug und alles, damals hatte ja auch noch keiner Masken, die waren noch weit weg, und fünf Tage später war ich krank. PCR-Tests gab es da auch noch keine, bei der 116 117 sagte man mir, ich solle mich einfach ins Bett legen und den Krankenwagen rufen, falls ich Atemnot bekäme. Drei Wochen später war ich wieder gesund, aber dachte mir eben: Das wird dauern, bis wir als Gesellschaft das Ding in den Griff bekommen.

Ab Mai 2020 erkundigte ich mich also wegen des Quereinstiegs, im September gab ich den Wust an Bewerbungsunterlagen ab, ich musste sogar Semesterwochenstunden aus dem Studium nachweisen, das war alles ein riesiger Aufriss. Im Dezember 2020 wurde ich zu einem Casting eingeladen (so heißen diese Vorstellungsrunden in Berlin tatsächlich). Alle möglichen Bewerberinnen und Bewerber fahren in eine Schule und stellen sich einer großen Gruppe aus Schulleitungen verschiedener Schulen und Vertretern der Schulaufsichtsbehörde vor. Ich sollte zu einer Schule in Gropiusstadt fahren. Dort war ich noch nie gewesen und fand es alleine deshalb schon angenehm aufregend. Ein Schild, auf dem Casting stand, führte mich zu einer großen Aula. Ich musste erstmal lange in einer Schulbibliothek in der Nähe warten, denn alle Bewerberinnen und Bewerber gingen einzeln in die Aula, um sich dort innerhalb von 2-3 Minuten vorzustellen, das hatte etwas von Speed Dating. Es sollte ein paar Tage dauern, bis man Feedback bekommt, aber kaum war ich an dem Nachmittag wieder zu Hause angekommen, klingelte schon mein Telefon und eine Frau sagte: „Frau Scheele Knight, wir haben Sie ersteigert.“

Es war die Schule, in deren Aula das Casting stattgefunden hatte. Sechs Wochen später fing ich dort an, gleich Vollzeit, mit einem berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst. Die achtzehn Monate Referendariat fand ich furchtbar, aber ziemlich am Anfang sagte ein Freund zu mir: „Monika, Du warst doch immer ein zäher Hund, was ist los? Bist du das nicht mehr? Das kannst du doch durchstehen!“ Daran habe ich dann die ganzen achtzehn Monate gedacht: Ich muss mich auf meine Eigenschaft zäher Hund fokussieren. Ich überlebte die Agonie und schloss mit einer passablen 1,7 ab. (Ich hatte in der Zwischenzeit so einen komischen Widerstandsehrgeiz entwickelt, dass ich eine 1 vor dem Komma haben wollte. Ich dachte, ich habe bisher alle meine Abschlüsse mit einer 1 vorm Komma gemacht, was mir zwar immer egal war, aber in diesem Fall wollte ich plötzlich nicht, dass mir ausgerechnet das verhasste Referendariat da die Statistik zerstört. Völlig bescheuert und irrelevant, aber hat mich dann auch ein bisschen mit durchgetragen. Was immer hilft.)

Nun bin ich fast drei Jahre an der Schule, habe im Moment null Ambitionen zu gehen, werde bald sogar noch verbeamtet, und ich glaube, die Kinder geben mir mehr, als ich umgekehrt ihnen. Eine Aneinanderreihung von Zufällen hat mich da hin geführt, wo ich jetzt bin, und wenn ich darauf blicke, ist das auf eine Art umwerfend beeindruckend. What are the chances. Eine Form von Heilung – da komme ich im sehr langen Bogen wieder zu dem Buch zurück, in dem das alles ja noch nicht vorkommt, da das Buch im Januar 2021 endet – also eine Form von Heilung, die ich nicht erwartet habe, nicht hätte abschätzen können und die durch diese Aneinanderreihung von Zufällen irgendwie so geschieht: durch eine Pandemie, durch die Erkenntnisse aus einer frühen Infektion, durch günstige Einstiegsbedingungen wegen meiner Studienfächer, durch ein Casting, das zufällig auch noch an einer für mich genau richtigen Schule stattfand, und durch ein Ersteigertwerden von genau dieser für mich richtigen Schule. What are the chances.

gedanken zu aids und covid-19.

Seit Monaten werden wir jetzt zwischen Hysterie und Leugnen hin- und hergeworfen. Es ist anstrengend und entsprechend scheint auch jeder von Ermüdung zu sprechen, aber wie kommen wir da wieder raus? Dazu lese ich erstaunlich wenig.

Die Situation ist für uns alle neu, eine solche Pandemie haben wir noch nicht erlebt. Wir haben uns das alle nicht gewünscht. Am einfachsten wäre, man könnte einen oder mehrere Schuldige ausmachen, ihnen das Problem anheften und es damit zumindest auf eine Art von sich selbst fernhalten. Doch keiner ist unmittelbar Schuld, wir haben es mit einer Verkettung vieler Faktoren zu tun, die uns an diesen Punkt geführt haben.

Alle tapsen so ein bisschen im Dunkeln herum, die Politik reagiert auf die Entwicklung des Infektionsgeschehens, wobei die Reaktion gefühlt eigentlich immer schon ein bisschen zu spät kommt. Dennoch ist Deutschland in der Pandemiebekämpfung bisher ziemlich erfolgreich, im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Die Unzufriedenheit ist trotzdem groß. Es begegnet uns das alte Problem: Man kann es nie allen Recht machen.

Alle sind gleichzeitig aus dem rückblickend ziemlich ideal scheinenden Vorher hinausgefallen und jeder fühlt sich nach dem Fall im Gemenge der neuen Lage erstmal tendenziell zu kurz gekommen. So treiben wir uns gegenseitig durch den Käfig, in dem wir doch gemeinsam sitzen. Als Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategie scheint mir das nicht gerade optimal.

Ich wundere mich, dass in den Medien nicht viel mehr danach gesucht wird, wie es in ähnlichen Situationen war, und ob man daraus nicht vielleicht etwas lernen könnte. Ja, es gab Artikel über die Pest und die Spanische Grippe, aber diese Katastrophen sind historisch. Ich frage mich vielmehr, warum man nicht nach etwas guckt, was in unseren eigenen Erfahrungshorizont fällt: die Erfahrungen mit der Ausbreitung von Aids. In der Hoffnung, meine eigene innere Unruhe besser zu verstehen und vielleicht auch etwas zu befrieden, habe ich mich ein bisschen näher damit beschäftigt.

Natürlich gibt es grundlegende Unterschiede. Die Übertragung des SARS-CoV-2-Coronavirus durch Aerosole und Schmierinfektionen bedeutet viel breitere Übertragungswege als die Übertragung des HI-Virus über Sperma und Blut. Aids wurde relativ schnell als „Krankheit der anderen“ angesehen, da die zentralen Risikogruppen (schwule Männer, Drogenabhängige, Bluter) als Randgruppen wahrgenommen wurden. Covid-19 hingegen ist eindeutig ein Problem der Mehrheitsgesellschaft.

Die Unterschiede sind offensichtlich, aber ich habe mich gefragt, ob es nicht trotzdem auch viele Gemeinsamkeiten gibt. Mir hat die Beschäftigung damit geholfen, deshalb schreibe ich das hier einfach mal auf.

Ganz ähnlich wie bei den ersten an Covid-19 Erkrankten wusste auch bei Aids, zuerst 1982 erkannt, zu Beginn niemand, um was für eine Krankheit es sich überhaupt handelt. Die Übertragungswege der Infektion waren unklar, es gab keine Therapieformen. Was ich über die große Unsicherheit und das Ohnmachtsgefühl dieser ersten Zeit gelesen habe, finde ich durchaus mit unserer Situation zu Beginn des Jahres 2020 vergleichbar.

Im empfehlenswerten Buch „Die Kapsel“ von Martin Reichert, erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung, beschreibt das Jan Feddersen so: „Aids, das hat einem wirklich den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war wie eine Lähmung.“ Wie ein Damoklesschwert schwebte die Todesangst über dem Alltag.

1982 war ich erst zehn Jahre alt und kann mich daher nicht an diese unmittelbaren Anfänge erinnern. In unserer Kinderwelt kam das Thema nicht vor. Meine Erinnerung setzt etwa 1986 ein, als ich 14 war und auf den Schulfluren darüber diskutiert wurde, ob man durch Küssen Aids bekommen kann. Erwachsene zu fragen, das kam natürlich nicht in Frage. Das maßgebliche Informationsorgan war die BRAVO. Der Konsens der Diskussionen war, dass das laut dem, was man so hörte und las, keine Gefahr darstellen sollte. Ganz sicher war man sich allerdings nicht.

Heute weiß ich, dass schon seit 1984 offiziell anerkannt war, dass die Krankheit von einem Virus ausgelöst wird, das sich vorwiegend über Sperma und Blut verbreitet. 1985 wurde der erste HIV-Antikörpertest zugelassen.

Drei Jahre lebte die ganze Welt schon mit dem Virus und in großer Unsicherheit, da kam erst der erste Antikörpertest heraus. Und ob Kondome wirklich schützen, war zu dieser Zeit sogar auch noch ungewiss. Wenn ich darüber nachdenke, setzt es meine eigene innere Ungeduld in ein neues Verhältnis. Es macht mir bewusst, was für hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen wir heute haben. Wir leben weniger als ein Jahr mit dem neuen Coronavirus.

Innerhalb der Schwulenbewegung prägten sich in der unsicheren Lage Konflikte aus, in öffentlich geführten Diskussionen. Einige Vertreter forderten als Reaktion Enthaltsamkeit ein, oder zumindest den Verzicht auf Promiskuität, worauf andere sich nicht einlassen wollten. Was sollte die Zielgröße sein: Null-Risiko oder Minimierung des Risikos? Wie sollte man mit der Risikobewertung umgehen?

Auch diese Fragen erinnern mich sehr an heute. Null-Risiko wäre nur mit einem totalen Shutdown machbar. Das scheint kaum machbar. Selbst der verhältnismäßig leichte Lockdown im Frühjahr, der nie mit einer Ausgangssperre einhergegangen ist, hat – in einer Freiheitsgesellschaft wie der unseren – schon zu großen Verwerfungen geführt. Wir haben gelernt, dass Null-Risiko wohl keine Option ist.

Das hat die Schwulenbewegung schon in den achtziger Jahren erfahren. 1986 schrieb der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock in seinem Buch „Aids kann schneller besiegt werden“, dass die Zielgröße Null-Risiko nur durch ein lebensfernes Abstinenz-Prinzip und Verbote zu erreichen sei, was dann aber zu Resignation und totalitären Wahngebilden führen würde.

Genau das erleben wir heute schon bei deutlich weniger ambitionierten Zielgrößen: Die Coronaleugner und Querdenker wähnen sich bereits in einem totalitären Staat, wenn sie beim Einkaufen eine Maske tragen sollen.

Rosenbrock schlug vor, stattdessen auf Verhaltensveränderungen zu setzen, zumal sich auch herauskristallisierte, dass Kondome tatsächlich schützen (ähnlich, wie sich in der aktuellen Situation herauskristallisiert hat, dass Masken tatsächlich schützen). Den Beteiligten war dabei bewusst, dass Verhaltensveränderungen vielleicht leicht klingen mögen, aber für den Menschen mit zum Schwersten gehören. Martin Reichert zitiert dazu einen treffenden Satz von Martin Dannecker: „Menschen fällt es schon schwer, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, um sich vor Karies zu schützen.“

Wissen verhaltenswirksam zu machen, das ist schwierig. Wie schafft man neue Routinen, neue Selbstverständlichkeiten? Die Politik setzte auf weitreichende Informationskampagnen. Auch etwas, das wir heute erleben, jüngst mit den neuen Werbespots der Bundesregierung über „besondere Helden“.

Interessant fand ich auch, dass die Politik damals mindestens genauso stark zwischen den Alternativen harter Maßnahmen einerseits und gemäßigter Strategie andererseits gerungen hat. (Den Showdown zwischen Peter Gauweiler und Rita Süssmuth nachzulesen, ist köstliche Lektüre.) Sollte es Ordnungsvorschriften für Infizierte geben, sollte man Zwangsuntersuchungen potentiell Infizierter anordnen können? Dass Randgruppen betroffen waren und nicht die Gesamtheit der Bevölkerung, machte es wohl etwas leichter, sich für die gemäßigte Strategie zu entscheiden. Auch pragmatische Gründe sprachen dafür: Was bringen Zwangstests am Ende überhaupt? Wie und von wem könnte eine ständige Kontrolle umgesetzt werden?

So setzte sich am Ende Rita Süssmuth mit dem Motto „Ratio statt Razzia“ durch. Die Sofortprogramme der Regierung zielten in drei Richtungen: Schutz der Bevölkerung gegen die Infektion, Beratung und Versorgung der Erkrankten, Verhinderung von Diskriminierung. Der Slogan „Aids geht alle an“ sollte dafür sorgen, dass durch Aufklärung eine Ausgrenzung der Betroffenen verhindert wird. Kurzum, es entstand eine Präventionsstrategie, die auf vernünftig handelnde und lernfähige Menschen setzte. 1987 waren Kondom und Aids die Worte des Jahres.

Ebenfalls 1987 gab es erste therapeutische Behandlungen. Zunächst waren die Nebenwirkungen äußerst heftig. Dadurch trat unter anderem auch das Thema Compliance in den Vordergrund: Wie genau befolgt der Patient den Medikamentenplan? Zumal die Medikamente anfangs pünktlich alle vier Stunden eingenommen werden mussten. Vieles war noch unbekannt und experimentell. Medikamente wurden überdosiert und die ersten Ansätze von Monotherapien führten zu Resistenzbildung. Erst mit der Zeit entwickelte sich die Kombinationstherapie. Vielleicht haben wir solche Turbulenzen bei der therapeutischen Behandlung von Covid-19 auch noch vor uns?

Für Aids gab es erst 1996 einen Messparameter, mit dem sich die Viruslast quantifizieren ließ, um den Erfolg einer Therapie präzise bestimmen zu können. Zu diesem Zeitpunkt gab es Aids schon 14 Jahre. Beim Lesen über Aids habe ich immer wieder das Gefühl, dass wir momentan unglaublich ungeduldig sind. Die Schwulen-Community musste 14 Jahre auf Messparameter zur zuverlässigen Bestimmung der Viruslast warten, das muss man sich wirklich mal bewusst machen.

Noch etwas anderes wird mir beim Lesen über die achtziger Jahre neu klar: Es gab auch damals eine insgesamt aufgewühlte Stimmung, eine aufgeladene Atmosphäre. Neben der Bedrohung durch Aids, die anfangs noch nicht auf bestimmte Risikogruppen reduziert war, sorgte auch der Rüstungswettlauf im Kalten Krieg für Endzeitstimmung, Mitte der achtziger Jahre besonders durch die Stationierung der Pershing-Mittelstreckenraketen. Und dann kam ja 1986 auch noch Tschernobyl dazu. An die tiefe Verunsicherung und Angst, die da ausgelöst wurden, und die eine Zeitlang quasi alles andere überdeckten, habe ich noch sehr gute Erinnerungen. Ich hatte das aber bisher noch nicht zusammengedacht mit dem Kalten Krieg und Aids, und wie prägend das im Zusammenhang der verschiedenen tiefen Verunsicherungen tatsächlich war.

Martin Reichert zitiert Rita Süssmuth, die sich an eine Situation in der Stadthalle Hannover erinnert. Sie sagt: „Ich war umringt von einer Gruppe Frauen, die Angst um ihre Kinder hatten. Sie schrien, ohne Unterlass. Und ich habe dann gewartet, eine halbe Stunde lang, bis ich mit ihnen sprechen konnte. Es gibt Situationen, da versinken Menschen vor Ratlosigkeit in Angst.“

Es gab auch damals eine Stimmung von Apokalypse, es gab Dauerdebatten und Überforderung. Und auch damals prägten sich Hysterie einerseits und Leugnung andererseits aus, und auch damals nährten sich auf diesem Boden Verschwörungstheorien, zum Beispiel dass das HI-Virus 1979 von den USA als Geheimwaffe entwickelt worden war und durch Tests an Gefängnisinsassen in Umlauf geraten sei (dies stellte sich später als gezielte Desinformationskampagne des KGB heraus, an der auch die Stasi beteiligt war).

In der Unsicherheit wird der Sog des Gruppenverführerischen stärker. Im Ausnahmezustand ist es keine leichte Sache, der Sogwirkung der Extreme zu widerstehen, Ruhe zu bewahren und eine praktikable Mitte zu finden.

Aids wurde damals zu einer Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Gesellschaftspolitik. Wie gehen wir mit einer ansteckenden Krankheit um? Und wie gehen wir mit den Menschen um? Das hat die Gesellschaft damals schon bei einer deutlich kleineren Gruppe von Betroffenen und bei deutlich selektiveren Übertragungswegen vor enorme Herausforderungen gestellt. Die Herausforderung der Covid-Pandemie ist um ein Vielfaches größer: eine Schnittstelle zwischen Gesundheits-, Gesellschafts- und dieses Mal auch Wirtschaftspolitik.

Die Beschäftigung mit dem Thema Aids hat für mich einiges in ein neues Licht gerückt. Unsere Situation heute kommt mir nicht mehr so singulär vor. Mir ist bewusst geworden, wie ungeduldig wir sind und was für hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen wir haben. Ich habe ein bisschen mehr Verständnis für die Maskenverweigerer, weil mir noch klarer geworden ist, wie schwer Verhaltensveränderungen für Menschen sind. Ich schätze die Gefahr durch die Querdenkerbewegung allerdings jetzt eher größer ein, als ich es vorher getan habe. Die Mechanismen der Sogwirkung im Zusammenspiel verschiedener tiefer Unsicherheiten scheinen mir jetzt gravierender und potentiell dauerhafter, beziehungsweise schwerer wieder aufzulösen.

Ich weiß jetzt zwar auch immer noch nicht, wie wir aus der Polarisierung wieder rauskommen, aber zumindest verstehe ich das alles nun etwas besser.

spiel mit dem feuer.

Robert Habeck kritisierte in der Tagesschau das Klimaschutzpaket wie folgt: „Beispielsweise ist der Klimarat, der das Ganze überprüfen sollte, deutlich geschwächt worden. Der Bundestag hat nicht mehr die Möglichkeit, selber Gesetze anzuschärfen, wenn Ziele nicht erreicht sind.“

Der letzte Satz ist ziemlich nebulös. Was meint Robert Habeck damit? Der Gesetzgeber ist der Deutsche Bundestag. Kein anderes Verfassungsorgan kann in Deutschland Gesetze beschließen. Und selbstverständlich hat der Bundestag das Initiativrecht, neue Gesetze oder Änderungen bestehender Gesetze anzustoßen. Es bleibt also erstmal ein großes Fragezeichen und man kann nur spekulieren. Meint Robert Habeck vielleicht die Tatsache, dass im Bundestag die Regierungsfraktionen die Mehrheit haben und sie deshalb Vorhaben der Regierung durchbringen können, solange sich die Koalition einig ist?

Man kann sich natürlich über die Vor- und Nachteile der Gewaltenverschränkung (das Regierungsoberhaupt wird vom Parlament gewählt) streiten. In den USA, wo es diese Verschränkung nicht gibt und das Regierungsoberhaupt von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt wird, hat die Regierung nicht automatisch eine Mehrheit im Repräsentantenhaus. Das führt dann u.a. zu Phänomenen wie dem des Haushaltsboykotts, bei dem das öffentliche Leben zum Erliegen kommt und Angestellte, die keinen Lohn erhalten, nicht wissen, wovon sie ihre Miete und Lebensmittel bezahlen sollen. Das könnte bei uns nicht passieren. Jedes System hat Vor- und Nachteile, und die sollte man differenziert abwägen.

In unserem System ist es im Übrigen ja auch nicht so, als ob innerhalb der Fraktionen nicht kontrovers miteinander debattiert und gerungen würde. Der Bundestag macht eben nicht einfach alles, was die Regierung vorgibt. Ich erinnere an das Struck’sche Gesetz, dass noch kein Gesetzesentwurf so aus dem Bundestag herausgekommen ist, wie er hineingegeben wurde.

Robert Habeck weiß das alles natürlich. Aber wenn man keine differenzierte Analyse vornehmen möchte (oder dies aufgrund des Interviewzeitfensters auch nicht kann), dann sollte man sich meines Erachtens einen solchen Satz sparen. Was davon stehenbleibt und bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ankommt, ist der schlicht falsche Eindruck, der Bundestag könne selber keine Gesetze auf den Weg bringen bzw. bei Bedarf novellieren.

Natürlich braucht man dafür eine Mehrheit, aber die wird ja gerade durch die Bundestagswahlen für einen Zeitraum von vier Jahren für das Parlament mit Erst- und Zweitstimme von den Bürgerinnen und Bürgern direkt erzeugt. Man kann gerne mit dem Ergebnis der Wahlen unzufrieden sein. Robert Habeck kann sagen, dass er sich eine andere Mehrheit wünscht, und in klassischer Oppositionsarbeit Alternativen aufzeigen und den Bürgerinnen und Bürgern erklären, wie er es machen würde, wenn seine Partei Teil einer Mehrheitskoalition wäre. Aber einfach zu behaupten, der Bundestag könne keine Gesetze „anschärfen“, das ist falsch und meines Erachtens auch kontraproduktiv. Kontraproduktiv in dem Sinn, dass es negative Emotionen gegenüber der Politik schürt: das Parlament sei ineffektiv oder gar irrelevant.

Möchten wir wirklich gerade in dieser Zeit dazu beitragen, das Vertrauen in die Arbeit und Funktionsweise unserer Demokratie zu erschüttern? Genau das scheint mir momentan leider verstärkt und an vielen Stellen zu geschehen, zudem von Menschen, von denen ich es nicht erwartet hätte. So twitterte Igor Levit: „Frage an die Community: warum nochmal ist die GroKo noch da? Was ist ihre Existenzgrundlage, ihre Daseinsberechtigung?“

Ich möchte dagegen fragen: Im Ernst? Die Existenzgrundlage der GroKo sind die letzten Bundestagswahlen. Von einem zweifelhaften Begriff wie Daseinsberechtigung schonmal ganz zu schweigen. Und was soll denn die Alternative zu unserer parlamentarischen Demokratie sein? Ohne das aufzuzeigen, bleibt ein solcher Tweet pure Agitation.

Bei dieser Stimmungslage wunderte es mich dann auch kaum noch, im ZEIT-Podcast mit Rezo zu hören, wie er sagt: „Überhaupt erstmal Monate zu brauchen für so ein Klimapaket, das hätte ich dir in zwei Wochen geschafft, also ohne Scheiß. Also really, ich glaub, ich hätt den Job viel besser gemacht als die Leute. Ich glaub, die worken nicht genug.“

Ich schätze das im Wesentlichen als Dunning-Kruger-Effekt ein. Zumindest erschließt sich aus den Sätzen ein Mangel an politischen Grundkenntnissen, die eigentlich jeder Schüler und jede Schülerin im Sozialkundeunterricht lernt. Bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen werden viele Personen und Institutionen beteiligt, es werden unterschiedlichste Experten angehört, es wird eine Vielfalt von gegensätzlichen Aspekten bedacht und abgewogen, es werden Konsequenzen antizipiert und eingeschätzt, für über 80 Millionen Menschen in diesem Land. Wer überhaupt mal irgendwo in der Politik gearbeitet hat, weiß, wieviel Zeit und Energie das kostet, und was das für eine Detailarbeit ist. Diejenigen, die auf Bundesebene diese Verantwortung tragen, haben eine 60-Stunden-Woche oder mehr. Dass sie „nicht genug worken“ ist eine absurde, in ihrer Fehleinschätzung eklatant ignorante Aussage.

Warum mir das Sorgen bereitet: Die hier zitierten Sätze von Rezo, wie auch von Igor Levit und Robert Habeck, tragen meines Erachtens zu einem Demokratieverdruss bei, der letztlich Kräfte stärken könnte, die sie eigentlich nicht unterstützen. Die Sätze enthalten im Kern Ressentiments, die ich sonst vorwiegend von Gesprächen mit AfD-Anhängern kenne. Ich wünschte mir, wir könnten im öffentlichen Diskurs rhetorisch wieder etwas abrüsten. Dies sind drei Beispiele aus einer einzigen Woche. Ich finde, es ist höchste Zeit, zu sachlichen und differenzierten Diskussionen zurückzukehren.

for whatever it’s worth [2018].

Ich habe nachgezählt, weil mir das Jahr nach so viel Wegsein vorkam, und tatsächlich, im letzten Jahr war ich an 182 Tagen nicht Zuhause, also ziemlich genau die Hälfte des Jahres. Die krasseste Zeit war zwischen September und November, mit 19 Flügen innerhalb von 79 Tagen. Das war zum größten Teil Arbeit, aber auch ein Urlaub mit drei Tagen Stopover in Island (wie toll ist denn bitte die Blaue Lagune, und diese Landschaft, da muss ich unbedingt nochmal länger hin) auf dem Weg in die USA.

Island
Island
Geysir Strokkur

In Chicago haben wir viele unserer alten Orte wieder besucht, mit Erinnerungen an Johns Geburt und seine ersten Lebensjahre dort. Ein unglaublicher Moment war, ein Foto von John zu sehen, das im Stadtteil Roscoe Village immer noch über der Kasse eines Späti hängt. Der Besitzer hatte damals viele Jahre lang, bei uns muss es etwa 2002 gewesen sein, Fotos der Kinder aus dem Viertel gesammelt, und sie hängen alle immer noch da. Der Besitzer ist auch noch da und erzählte uns, dass viele der Kinder mittlerweile eigene Kinder haben und mit ihnen in den Laden kommen, um ihnen die Babyfotos von sich zu zeigen. Er konnte kaum glauben, dass eines dieser Kinder nun schon gestorben ist. Ich musste natürlich sofort weinen, aber trotzdem war es sehr schön, mit dem Kioskbesitzer zu sprechen.

Chicago - Reflection in the Bean
John als Baby in Roscoe Village

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Wenn etwas zu Ende geht, ist das automatisch die Aufforderung, sich auf etwas Neues einzulassen. Damit hadere ich immer noch, denn dazu notwendig ist das Eingeständnis, dass wir uns nur wenig wirklich aussuchen können, und gerade nicht die wichtigen Dinge im Leben, wie den Zeitpunkt eines Todes. Theoretisch weiß man das natürlich, praktisch ist es aber schwer auszuhalten. Unabhängig davon, ob man etwas wollte oder nicht, muss man akzeptieren, wie es gekommen ist. Die damit einhergehende Veränderung ist eine Aufforderung, zunächst die des puren Weiterlebens, und dann die des neuen Gestaltens. Wir sind wohl immer noch in der ersten Phase.

Gefühlt hat sich am Stillstand der letzten bald drei Jahre wenig geändert. Die Seele ist in der Trauer immer noch schockgefroren, wobei ich mich im letzten Jahr immer wieder gefragt habe, was das eigentlich ist, die Seele. Ich habe einiges darüber gelesen, bin aber nicht viel weiter gekommen damit. Platon sagt, die Seele sei „das, was sich von selbst bewegt.“ Das immerhin finde ich plausibel. (Aristoteles ist schon wieder ganz anderer Meinung und von da an wird es nur unübersichtlicher. Gerade habe ich Knausgårds Im Sommer gelesen und er schreibt ja auch immer wieder über die Seele, allerdings auch ratlos. Ich lasse die Frage stehen, auf Wiedervorlage am Ende dieses neuen Jahres.)

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Ich bin so viel gereist, weil das meine beruflichen Tätigkeiten nun einmal fast alle mit sich bringen, Reiseleitungen in Deutschland und international sowie mobile Öffentlichkeitsarbeit über das ganze Bundesgebiet verteilt. Reisen geleitet habe ich im letzten Jahr neben Deutschland in Tschechien, Dänemark, Norwegen, der Schweiz, Südafrika, Botswana und Simbabwe. In Deutschland habe ich in zehn Bundesländern gearbeitet: Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Bayern.

Fun fact ja auch: Wenn man genug unterwegs ist, ist man fast nicht mehr da. Das Verschwinden als Teil des Reisens. Ich glaube aber nicht, dass das wirklich im Vordergrund steht. Wenn überhaupt, glaube ich eher, dass ich im Moment unterwegs einen besseren Ausdruck für das finde, was mich beschäftigt, und das ist vor allem das Unveränderliche in der Verwandlung, die ewige Schönheit der Welt, die Natur. Sie lehrt einen am besten diese Lektion, wie wenig wir Menschen zu bestimmen haben, wie klein wir sind.

Wenn ich in der Schweiz auf dem Schilthorn stehe und das Alpenpanorama sehe, oder in Utah das erstaunliche Farbenspektrum der Felsen, eingebettet in die unüberschaubare Weite der Landschaft, wenn ich in Südafrika durch den Busch gehe und wir in unserer kleinen Gruppe versuchen, die Spuren zu lesen, deren Art und Ausdruck so fern vom Menschlichen sind, im Wissen, dass ein Leopard wohl keine Mühe hätte, uns zu erlegen, dann wird es einem klar und deutlich nicht nur vor Augen geführt, sondern wirklich erfahrbar gemacht, dass es eine absolute Anmaßung wäre zu glauben, man hätte hier irgendwas zu bestimmen oder auszuwählen.

Grosse Scheidegg
Eiger, Mönch und Jungfrau
Monument Valley
Delicate Arch - Arches National Park
Am Chobe River
Thornybush
Fahrt durch den Sognefjord

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Ansonsten, eher grundsätzlich gesprochen, gehört es wohl auch zur Trauer, dass man sich nirgendwo wiederfindet. Nicht drinnen und nicht draußen, nicht bei anderen, nicht bei sich selbst. Mehr als in den Vorjahren nehme ich den absurden Gegensatz wahr, in dem Scott und ich uns im Verhältnis zum äußeren Geschehen befinden. Jeden Tag werden Nichtigkeiten dramatisiert, das große Aufmerksamkeitsgerangel mit dem Tempo und dem schrillen Ton, den es mit sich bringt. Wir demgegenüber haben tatsächlich das vielleicht Dramatischste erlebt und sind im Kern der Stille gelandet. Es ist so ein Gegensatz.

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Andererseits: Was alles auf einen einströmt, scheint noch intensiver, noch überwältigender, wenn man selbst so leer ist. Es gehört zu meinem Beruf, mit Menschen zu sprechen, die frustriert und unzufrieden sind (nicht nur, aber auch). Schulklassen zu unterrichten oder mit Menschen zu reden, die eine ähnliche Einstellung haben, das ist verhältnismäßig leicht. Deshalb sind es gerade die anderen Gespräche, die eine Herausforderung darstellen, und die mich am meisten innerlich beschäftigen. Ich habe mir im vergangenen Jahr verstärkt Gedanken dazu gemacht, wie man in ein gutes Gespräch miteinander kommen kann, auch wenn man ganz unterschiedlicher Meinung ist, und auch wenn das Gegenüber sich dem zunächst verschließt. Ich habe viel dazu gelesen, habe alte Unterlagen von Weiterbildungen herausgeholt und nochmal durchgearbeitet, und in meinen Gesprächen bewusst daran gearbeitet.

Ein für mich schöner Moment in diesem Sinn war im August ein schwieriges Gespräch mit einem älteren, wütenden Mann im Allgäu, der zunächst nur Dampf ablassen und all seinen Frust bei mir abladen wollte, und mit dem es mir dann aber doch gelungen ist, die Kurve in ein echtes Gespräch zu bekommen, und obwohl wir am Ende immer noch ganz unterschiedlicher Meinung waren, hatte er sich im Verlauf andere Perspektiven angehört, wozu er anfangs nicht bereit gewesen war. Sein aggressiver Auftakt an der Grenze zum Rassismus hatte sich in deutlich mildere und respektvollere Töne verwandelt, nicht nur mir gegenüber, sondern auch in der Sicht auf andere Menschen.

Ich weiß, dass ich in einem einzelnen Gespräch keine Meinungen ändern kann, das wäre naiv zu glauben, und bei einigen lohnt sich tatsächlich auch gar kein Gespräch mehr, den Unterschied muss man lernen zu erkennen, aber grundsätzlich geht es mir um den Umgang, und darum, das Gegenüber als Menschen mit eigenen Sorgen und Wünschen wahrzunehmen, gegenseitig, und allein dadurch hebt sich manchmal (im Idealfall) schon dieser gnadenlose, giftige Ton auf. Das funktioniert oft nicht, aber ich arbeite daran und bin der Meinung, das in den letzten Jahren immer besser hinzubekommen, immerhin.

Nachdem der Mann sich verabschiedet hatte, dachte ich mir, dass es ein gutes Gespräch war, über das wir wahrscheinlich beide noch nachdenken würden. Tatsächlich kam der Mann später noch einmal zurück, bedankte sich für das Gespräch und schenkte mir eine Edelweißblume. Das fand ich doch ermutigend für meine Arbeit, for whatever it’s worth.

Edelweiß

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Wir fahren, wenn wir in Berlin sind, immer noch jeden Tag zum Friedhof, weiterhin ein sehr wichtiger Ort für uns. Bald werden es drei Jahre sein, dass wir dort praktisch Zuhause sind. Scott hat sich bei der Dürre des letzten Jahres nicht nur um Johns Grab, sondern um die ganze Umgebung mit gekümmert. Er hat jeden Tag eine dreiviertel Stunde mit Wässern verbracht und rund um uns alle Pflanzen am Leben erhalten.

Johns Grab

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Im Frühjahr habe ich mit einer neuen freiberuflichen Tätigkeit in Berlin begonnen (Besucherbetreuung im Kanzleramt) und zum 1. August habe ich beim Bundestag nach einer wie immer aufregenden Prüfung einen neuen Rahmenvertrag für vier Jahre bekommen.

Lernen für die Prüfung

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Und auf eine Art ist ja jedes Jahr auch unveränderlich. Hier meine unvollständige Liste:

  • Frohes neues Jahr!
  • Neujahrsspaziergang
  • Vielleicht wird nun doch alles anders, erstmal weg mit der ganzen Weihnachtsdeko
  • Schnee!
  • ibes, ja oder nein?
  • Der Januar zieht sich ganz schön, hoffentlich ist bald Februar
  • Endlich Berlinale!
  • Mittendrin oder spätestens anschließend: grippaler Infekt
  • Boah, diese Kälte, dieses Grau, der Februar zieht sich aber auch ganz schön
  • Neue Staffel Let’s Dance
  • Diskussion über Zeitumstellung
  • Zu Ostern: Diskussion über Traditionshasen und Tanzverbot
  • Diskussionserschöpfung und Verlagerung auf Metaebene
  • Hat Anne Will immer noch Pause?
  • Jemanden in den April schicken
  • Stimmung dreht sich langsam: „Frühling lässt sein blaues Band…“
  • Fenster putzen
  • Jetzt geht es bergauf
  • Keller ausmisten
  • Baumarkt: Gartencenter (pflanzen aber erst nach der Kalten Sophie!)
  • Aprilwetter versus endlich wieder Grillen
  • Karneval der Kulturen (aus diesem Anlass: Friedhof einmal im Jahr geschlossen)
  • Steuererklärung
  • Pfingstspaziergang, Muttertag, Himmelfahrt, Vatertag
  • Zu viele Feiertage im Mai, man kommt zu nichts
  • Erdbeeren
  • Spargel
  • Rhabarber (aber nur bis Mitte Juni!)
  • Der Juni geht eigentlich, nur zu viel Arbeit
  • Sommerferien
  • Irgendwo, wo man hingefahren oder hingeflogen ist, ist es wirklich schön
  • Jetzt ist es aber zu heiß
  • Wespenstich, Biergarten, Sommerloch
  • Endlich alle zurück aus dem Urlaub, endlich wieder Alltag, neuer Tatort!
  • Ständig mit Leuten treffen, weil man sich ja so lange nicht gesehen hat
  • Huch, schon Herbst?
  • Erste Euphorie (Goldener Oktober)
  • Es sich drinnen gemütlich machen (Ikea)
  • Lecker Kürbiszeit!
  • Diskussion über Zeitumstellung und Halloween vs. Reformationstag
  • Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag, Volkstrauertag
  • Stimmung: „Wer jetzt allein ist…“
  • Kurzes Aufatmen: Thanksgiving
  • Grünkohl (aber erst nach dem ersten Frost!)
  • Adventskalender und Adventskranz, endlich wieder Weihnachtsdeko
  • Weihnachtsmärkte, Last Christmas, Glühwein
  • Diskussion: Darf man noch frohe Weihnachten wünschen?
  • Tannenbaum und Rouladen
  • Unschlüssige Zeit zwischen den Jahren
  • Was macht ihr an Silvester?
  • Ignorieren, aber trotzdem Raclette
  • Bloß keine guten Vorsätze, einself11!!
  • Puh, wieder ein Jahr geschafft
  • Und dann von vorn

Joker (jedes Jahr, Überraschungseffekt nur durch unklaren Zeitpunkt)

  • Mindestens ein Datenschutzskandal
  • Weiteres Aushöhlen der Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedsland, aber ohne Konsequenzen wegen Einstimmigkeitsregel im Europäischen Rat
  • Irgendjemand hat auf irgendeinem Produkt das Wort Halal entdeckt
  • Diskussion über Vollverschleierung
  • Verfall der Rechtschreibung
  • Das Internet ruiniert unsere Kinder
  • Das Internet ruiniert uns alle

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Interessant aber natürlich eigentlich nur, wie dieses wiederkehrende Gerüst dennoch jedes Jahr angefüllt ist mit einer jeweils unvergleichlichen Mischung aus Liebe, Enttäuschungen, Freuden, Schmerzen, Fort- und Rückschritten, Verlust und Erleichterung. Von letzterer hätte ich mir mehr gewünscht, dazu bleibt die Hoffnung auf 2019.

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Auf dem Friedhof

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Mehr Fotos auf Flickr (habe einen neuen Account eröffnet, da der alte schon fast 1000 Fotos hatte und das ist ja nun die neue Cutoff-Marke):

Elbe-Touren von Prag nach Berlin auf dem Schiff [#]

Schweiz [#]

Dänemark & Norwegen [#]

Südafrika, Simbabwe & Botswana [#]

Island [#]

USA [#]

das buch der unruhe.

»Es sind weniger die natürlichen Dinge, die mich so berühren, so stark empfinden lassen, als vielmehr die Anordnung der Straßen, die Schilder und Aufschriften, die Menschen in ihrer Kleidung und ihren Worten, ihrem Tun, die Zeitungen, die Logik, die allem innewohnt. Oder die Tatsache, daß Straßen angeordnet sind, es Schilder, Aufschriften, ein bestimmtes Tun, Menschen und eine Gesellschaft gibt, und alles zusammenfindet, bekannten Wegen folgt und neue erschließt.«

[Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Herausgegeben von Richard Zenith, Ü: Inés Koebel, Zürich 2003; S. 253]

97 wochen.

Irgendwie muss dieses Weblog auch im Jahr 2018 ankommen, also nun. Wir haben ein Bild gekauft, das ist die große Nachricht zu Beginn des Jahres. Ein Bild der Künstlerin Katia Kelm, von der ich auf Anhieb 3-10 weitere Bilder kaufen könnte, weil mir so viele ihrer Bilder so sehr gefallen. Unser Bild heißt „Der Aufstieg.“ Schon als Katia es das erste Mal auf Instagram gepostet hatte, noch unfertig, habe ich mich sofort in dieses Bild verliebt. Nun also haben wir es gekauft und es hängt in unserem Wohnzimmer, wo es sich so schnell und geschmeidig eingelebt hat, dass es schon nach einer Stunde so war, als wäre das Bild schon immer da gewesen.

In gewisser Weise vervollständigt es uns, nachdem wir letztes Jahr den Grabstein für Johns Grab gekauft haben. Seitdem freuen wir uns praktisch jeden Tag darüber, dass wir den Stein gekauft haben. Auf dem Friedhof haben wir also den Stein und Zuhause jetzt das Bild. Nun haben wir an beiden Orten, die für uns Zuhause sind, einen John-Anker. Ich kann gar nicht so genau sagen, warum mich das Bild so anspricht, vielleicht, weil es dem Tod etwas Leichtes zufügt, definitiv etwas Überraschendes, oder weil es der offensichtlichen Schwere auch eine gewisse Normalität zugesteht, jedenfalls finde ich darin ganz vieles wieder, was mich bewegt und auch, was mir unerwartet begegnet ist in der Trauer. Das ist alles noch nicht zuende gedacht, ich denke ständig andere Sachen, wenn ich das Bild ansehe.

Vielleicht gerade weil Johns plötzlicher und unerwarteter Tod so brutal und in jedem Sinne schwer war, haben wir das Bedürfnis, ihm mit Ruhe und einer Form von Leichtigkeit zu begegnen. An Johns Grab zu sitzen hat etwas Sanftes, das Gegenteil dessen, was passiert ist. Nur dort auf dem Friedhof, am Grab, ist alles ganz klar. Wir haben nichts in der Hand als das. Wir können die Radikalität des Todes nur durch das Gegenteil aufzufangen versuchen. Ruhe und Geduld.

Wissenschaftler sagen, Trauernde brauchen Resilienz. Ich mag das Wort nicht. Hinter dem Fremdwort versteckt man das eigentliche Wort, Widerstandsfähigkeit, und im Widerstand schwingt ein kämpferischer, antagonistischer Unterton mit, der mir unpassend scheint. Ich sage lieber: Ruhe und Geduld. Nicht etwa zu verwechseln mit Gelassenheit oder Zufriedenheit. Ich weiß nicht, wohin mit mir ohne John. Selbstverständlich bin ich weder gelassen noch zufrieden. Aber ich bin ruhig und geduldig. Ich weiß, im Moment muss ich nur ertragen. Ich habe keine andere Aufgabe, denn diese ist schon riesig genug. Die ultimative Ambivalenz auszuhalten zwischen Liebe und Tod.

Vor kurzem bin ich über ein Zitat von Thomas Mann gestolpert: „Beherrscht dich ein Gedanke, so findest du ihn überall ausgedrückt, du riechst ihn sogar im Wind.“ In der Trauer entsteht da eine Leerstelle, weil eine sichtbare Referenz fehlt. Ist man schwanger, sieht man plötzlich überall Schwangere, Kinderwagen und Kleinkinder. Wir beziehen die Welt auf uns, deuten sie auf uns zu, das weiß man alles. Aber den Tod sieht man nicht. Als verwaiste Mutter kann ich keine anderen verwaisten Mütter sehen, es sei denn natürlich ich begebe mich explizit in eine Trauergruppe, die aber schon wieder eine abgeschiedene Welt darstellt. Im Alltag fehlen die sichtbaren Anhaltspunkte und so schwebt man weitgehend referenzlos durch die Gegend, kann seine Gefühle nicht ständig hier und da im Umfeld andocken.

Trauer wird in der Gesellschaft eine Außenseiterstellung zugesprochen. Jemand ist in Trauer: Wenn das gesagt wird, schwingt mit, der- oder diejenige sei im Grunde momentan nicht ganz zurechnungsfähig. Das mag für die ersten Monate tatsächlich durchaus gelten, aber irgendwann ist man wieder zurechnungsfähig, geht arbeiten und beim Griechen um die Ecke essen, lebt ein von außen vielleicht nahezu normal scheinendes Leben. Dann wird angenommen, die Trauer sei vorbei. Mitnichten, sie ist immer noch da, groß und unüberwindbar. Sie hat sich ins Leben integriert, aber das heißt eben nicht, dass sie vorüber ist oder jemals vorüber sein wird. Dieser Sarg wird, wie im Bild, immer wieder aufspringen.

Der einzige andere Gefühlszustand, dem man noch am ehesten zuschreibt, er mache temporär unzurechnungsfähig, ist das Verliebtsein. Trauer ist dem Verliebtsein überhaupt sehr ähnlich, denn Trauer ist pure Liebe zu dem Menschen, der gestorben ist. Und wie die Liebe im Glücksfall bleibt, so auch die Trauer. Wie die Liebe sich nach der ersten Aufregung in das Leben integriert, so die Trauer. Ich weiß nicht, warum mich diese Erkenntnis überrascht hat. Aus der heutigen Warte kommt mir das wie eine Selbstverständlichkeit vor. Ich hatte das vorher einfach nicht begriffen, weil man immer von den Trauerphasen hört und liest und allgemein angenommen wird, es gebe so etwas wie ein Trauerjahr usw. Ich habe einfach in meinem Umfeld und in meinen Lektüren nicht mitbekommen, dass die Trauer so ist: dass sie ein Teil des Lebens werden kann, dass sie bleibt und dass das nicht schlimm ist, weil sie nämlich der letzte Teil der Liebe ist, wenn man diese ganz zu Ende zu gehen gezwungen ist. Dieser letzte Teil bleibt, wie all die anderen davor, er gehört dazu. Trauer ist kein Außenseiter, sondern wie die Liebe (und als Teil der Liebe) mitten unter uns. So wie der Tod mitten unter uns ist, was wir ja aber heutzutage auch eher verdrängen.

Als wir letzten Oktober meine Eltern und meinen Bruder besucht haben, waren wir in der landesgeschichtlichen Ausstellung im Schloss Oldenburg. In einem Raum kann man die Kleider ansehen, die Graf Anton Günther im Sarg getragen hat. Gestorben im Juni 1667, fand die Beerdigung erst vier Monate später statt. Dazu wurde sein Leichnam in einen Sarg gebettet, der nach oben hin am Kopfende ein Sichtfenster hatte, zunächst damit sich das Volk von ihm verabschieden konnte, aber danach wurde er im Keller der Lambertikirche auf einem Hochaltar ausgestellt und die Besucher konnten durch das Fenster den Prozess der Verwesung verfolgen. Laut Informationstafel besuchte 1753 der Cousin von Gotthold Ephraim Lessing, Christlob Mylius, Oldenburg und schrieb: „Ich stieg auch hinunter in das gräfliche Begräbniß unter dem Altare, wo ich diesen Grafen, wiewohl sehr verweset, noch im Sarge liegen sah.“

Mehr als 80 Jahre nach dem Tod konnte man also immer noch den Prozess der Verwesung mitverfolgen. Auf der Informationstafel steht, dass der Sarg schließlich 1937 geöffnet wurde. Nur die Kleidung war noch erhalten. Heute sehen wir uns nicht nur gar keine Verwesung mehr an, heute wollen wir von Tod und Trauer allgemein möglichst wenig reden und wissen. Nicht, dass ich durch das Sichtfenster eines 80 Jahre alten Sarges sehen möchte, aber ein bisschen zu weit getrieben haben wir es mit der Verdrängung meiner Meinung nach schon.

Da stimme ich Caitlin Doughty zu, deren Buch Fragen Sie Ihren Bestatter ich kürzlich gelesen habe. In dem Buch geht es um viele Dinge, die spezifisch amerikanisch sind (zum Beispiel um das sinnlose Einbalsamieren), und insofern lässt sich der Bestseller nur bedingt nach Deutschland übertragen. Aber der Grundbotschaft, dem Tod offener und neugieriger zu begegnen, stimme ich vollends zu. In den letzten Tagen haben wir uns auch einige ihrer Videos auf Youtube angesehen: Ask a mortician.

Ich schreibe das hier alles auch auf, weil ich gerne ein Buch über den Tod schreiben würde, das mehr auf die Gegebenheiten in Deutschland zugeschnitten ist und die Perspektive der Trauer stärker berücksichtigt, die bei Doughty wegen ihrer professionellen Perspektive nahezu ganz fehlt. Die Frage ist allerdings, ob das überhaupt jemanden interessieren würde.

was ist interessant?

Hunsrück, Taunus und Eifel. Alles, was diese Regionen für mich in den frühen Neunzigern während meines Grundstudiums in Mainz bedeuteten, war: langweilig. Das ging nicht nur mir so, sondern vielen anderen um mich herum auch. Wenn man jemanden kennen lernte, der oder die dort herkam – was an der Universität in Mainz häufig vorkam – war daran ausschließlich interessant, wie jemand es geschafft hatte, da herauszukommen. Ich hatte eine Mitbewohnerin, die so oft wie möglich nach Hause aufs Land fuhr. Unter uns anderen galt sie dadurch schon als Exotin.

Uns interessierten Studentenpartys, Theater und Lesungen. Und wenn Mainz zu klein wurde, fuhren wir nach Frankfurt, zum Beispiel in die Schirn. Es ist nicht so, dass wir die Natur um uns herum gar nicht wahrnahmen. Ich erinnere mich zum Beispiel noch daran, wie wir in die Obsthänge fuhren und das Auto eines Freundes mit Kirschen bewarfen, was uns aus einem mir heute nicht mehr ersichtlichen Grund viel Spaß machte. Danach fuhren wir wieder zurück in die Stadt und lernten, wie hartnäckig Kirschfarbe auf Autolack ist. Ich kann mich nicht erinnern, derweil wirklich bemerkt zu haben, wie schön es in der Umgebung ist.

Schlemmerwanderung Oppenheim

Schlemmerwanderung Oppenheim

Schlemmerwanderung Oppenheim

25 Jahre später habe ich letzte Woche beim zentralen Fest zum Tag der Deutschen Einheit in Mainz gearbeitet. Am Tag davor trafen wir Freunde in Oppenheim und gingen zusammen auf die sogenannte Schlemmerwanderung, durch die Weinberge mit verschiedenen Stationen an Essensangeboten und Weinen. „Wie schön es hier ist!“, dachte ich die ganze Zeit. Und: „Warum habe ich das früher eigentlich nicht bemerkt? Warum hat mich das nicht interessiert?“

In den letzten Jahren habe ich das immer wieder gedacht. An der Saarschleife zum Beispiel, in Unterfranken, am Niederrhein, in Nordfriesland und im Bayerischen Wald, aber auch in Bulgarien und natürlich in der Schweiz.

Bulgarien

Belogradtschik

Abstieg zurück nach Zermatt

Riffelsee mit Blick aufs Matterhorn

Genfersee

Rothornbahn

Halbinsel Eiderstedt

Wenn ich eine Weltreise machen würde, wäre sie früher vermutlich in alle möglichen großen Städte gegangen. Heute würde ich zum Great Barrier Reef fahren, nach Alaska, zum Goldenen Felsen in Myanmar, mit dem Zug durch die Rockies, nach Machu Picchu, ins Okavango-Delta und noch einmal in die Serengeti. Ich bin aber auch zufrieden, die Bäume und die Eichhörnchen auf dem Friedhof anzusehen. Das Gute an der Natur ist ihr einfaches Sosein. Es liegt etwas sehr Tröstliches darin.

(Mehr Bilder auf Flickr.)

75 wochen.

Fünf Ampeln sind es zwischen unserer Wohnung und dem Alten Luisenstädtischen Friedhof. Wenn wir in Berlin sind, fahren wir noch immer jeden Tag dorthin, am liebsten mit dem Fahrrad.

Johns Grabstein

Lange konnten wir uns nicht entscheiden, was für einen Stein wir auf Johns Grab haben möchten. Ich tendierte eher zu einer Naturstele, aber dann kam alles anders. Als Scott nämlich diesen Stein entdeckte, ein Unikat aus Muschelkalkstein, sagte er spontan: „Der sieht aus, als habe John mit Fingerfarbe drauf gemalt.“ Nachdem wir diese Vorstellung erstmal im Kopf hatten, brauchten wir nicht mehr weiter zu gucken.

Das Aufstellen des Steins war ganz schön aufregend. Dieser Moment, als wir das erste Mal davor standen, den eingemeißelten Namen sahen, das hatte noch einmal so etwas Endgültiges, besonders natürlich auch die Daten. Und die Fotofliese, die extra in Bayern gebrannt worden ist, sie hat 100 Jahre Garantie (wir werden es nicht überprüfen können). Es ist schlimm, den Namen des eigenen Kindes mitsamt Geburts- und Sterbedatum in einen Stein eingemeißelt zu sehen. Ein weiterer Schritt des Abschließens und gleichzeitig des Übergebens an die Ewigkeit. Da braucht man schon wieder ein paar Wochen, um sich davon zu erholen, zumal auch noch dazukam, dass die Krankenkasse Johns geliebtes Dreirad abgeholt hat. Der Moment, als es auf der Ladefläche festgezurrt wurde, wird mir auch in Erinnerung bleiben. Manchmal kommt mir die Zeit vor wie ein Puzzle aus Endmomenten. Wir sind aber sehr froh über unseren Stein.

Im März brach unser zweites Jahr auf dem Friedhof an. Wir kennen nun schon die Blüte des Magnolienbaums im Frühling, die Rhythmen der Pflanzen. Der kleine Rosenbusch, den wir letztes Jahr im Frühling gepflanzt haben, ist in seinem zweiten Jahr deutlich kräftiger und größer geworden. Er hat den Winter gut überstanden. Scott mausert sich zum Gärtner, er liest ständig über Pflanzen, hat dem neuen Rosenbusch eine Clematis an die Seite gepflanzt. Den Friedhof könnten wir eigentlich schon als unseren Zweitwohnsitz eintragen lassen.

Magnolie

Unsere Rosen im zweiten Jahr

Neben uns ist plötzlich der Sohn von Ilse, Johns Grabnachbarin, aufgetaucht. Wir hatten ihn noch nie getroffen, er war der einzige Nachbar, den wir noch nicht kannten. Er hat das Grab seiner Mutter neu gestaltet und wollte erst den Ginkgo herausnehmen. Er ist der Meinung, Bäume brauchen immer mindestens ein Exemplar der gleichen Sorte in Sichtweite, um sich wohl zu fühlen. Als wir ihm sagten, dass es in der Nähe aber doch noch einen Ginkgo gebe, war er ganz aufgeregt. Scott lief mit ihm hin und zeigte den kleinen Baum. Da kam er zurück und sagte: „Nun steht es fest, der Ginkgo bleibt. Er hat ja einen Kollegen, jetzt muss er bleiben.“ Wir freuen uns drüber.

Ich wollte einfach mal wieder was schreiben. Ich habe immer das Gefühl, es gibt nichts zu sagen. Fast anderthalb Jahre seit Johns Tod, das scheint irgendwie lang, aber für uns ist es ganz kurz. Wir haben uns innerlich nicht bewegt, wir stehen immer noch ratlos in der Ecke, wir kommen aus dem puren Aushalten-Modus nicht raus, denn der ist schon schwer genug zu bewältigen. Das Einzige, was mich effektiv und zugleich wohltuend ablenkt, ist die Arbeit. Je mehr ich arbeite, desto besser, und deshalb arbeite ich gerne und viel.

Johns Grab

Choose between numbness and pain
While looking at the beauty of roses and stones

Das muss ich oft denken, wenn wir da sitzen. Mal sehen, ob sich da irgendwann noch irgendwas bewegt. Wir haben es nicht eilig, wir haben alle Zeit der Welt.

israel & palästina [fünfter und letzter teil: jerusalem].

Vier Tage waren wir in Jerusalem und sind von morgens bis abends gelaufen, gelaufen, gelaufen. Haben so vieles gesehen, aber in vier Tagen natürlich dennoch nicht alles. Wir wohnten in einer Airbnb-Wohnung in der Nähe des schönen Mahane-Yehuda-Marktes. Da die Wohnungsbesitzerin den Mietern nicht zutraut, eine koschere Küche zu bewältigen, hat sie die Wohnung zu einer vegetarischen Unterkunft erklärt. Wenn kein Fleisch erlaubt ist, muss man sich um die Trennung zu Milchprodukten keine Sorgen machen. Das Ganze kam mir etwas übertrieben vor. Wenn man eine Wohnung vermietet, die ansonsten auch von niemandem dauerhaft zum Leben benutzt wird, eine ganz klassische Ferienwohnung also, dann könnte man es den Gästen doch auch selbst überlassen, was und wie sie darin kochen.

Nicht in Jerusalem. Nein, in dieser Stadt wird alles zum Kampfgebiet, das merkten wir schnell. Eine Stadt, die komplett aufgeladen ist, religiös hochgerüstet, und zwar von allen Beteiligten, christlich, jüdisch oder muslimisch, zudem manchmal noch geteilt zwischen Mann und Frau. Nervös, argwöhnisch, die eigene Religion offensiv zur Schau stellend, als Selbstbehauptung, aber auch als Demonstration und Protest gegen die anderen, und mitten in dieser absurden Stimmung wird man auch noch permanent bedrängt (Taxifahrer, Verkäufer).

Altstadt Jerusalem

Klagemauer

 

Orthodoxes Viertel Jerusalem

Via Dolorosa

Grabeskirche

Nirgendwo vermisst man Tel Aviv so sehr wie in Jerusalem. Meine Kollegin hatte uns vorgewarnt: „Tel Aviv plays, Jerusalem prays.“ Aber so heftig hatten wir es uns nicht vorgestellt. Als Abschluss unserer Reise kulminierte hier noch einmal alles: die ganzen Probleme, die Widersprüche, das Gefühl der tiefen Beklommenheit aufgrund der ausweglosen Lage. Nach zwei Wochen im Land hatte sich diese Ausweglosigkeit eher deutlicher gezeigt, als irgendwie abgemildert. Und nun Jerusalem, eine Zumutung für die Sinne und den Verstand (was ja nicht automatisch etwas Schlechtes sein muss).

Grabeskirche

Grabeskirche. Scott und ich standen lange im Eingang, in der Nähe des Salbungssteins. Immer neue Menschen knieten am Stein nieder und beteten. Je länger man dort stand, umso bedrückender wurde es. Man kann sich das nicht vorstellen: ein unablässiger Strom von Menschen aus aller Welt. Wirklich von überall her kommen sie zu diesem Stein, beten und weinen und reiben Devotionalien darauf. Glück sieht man dort keines, nur Kummer.

Salbungsstein in der Grabeskirche

Salbungsstein in der Grabeskirche

Salbungsstein in der Grabeskirche

Ich dachte mir: „So ist das, die Menschen aus der ganzen Welt tragen ihre Sorgen zu diesem Stein. Hier ist der Ort, an dem es nichts gibt als Schmerz.“ Und mit hier ist dann nicht mehr der Stein gemeint, sondern die Welt an sich. Es kommt einem dort wirklich so vor. Uns konnte es recht sein, denn für uns gibt es auch nichts mehr, was nicht von unserer Trauer dominiert würde. Aber das Persönliche, Individuelle spielt dort eigentlich keine Rolle, das ist eine universale Dimension, an der man da teilnimmt, alleine schon durch die Beobachtung.

Abends im Internet eine Dokumentation über Jerusalem gefunden und darin den besten Satz gehört: „Silence is the mutual language of all religions.“

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