ihr lieben, ich habe das kind nicht geschrumpft.

Wir gehen einkaufen, John ist ungeduldig. Ich erkläre, dass wir etwas einkaufen müssen, wenn er essen möchte und Hunger hat er doch, also müssen wir einkaufen. Er jammert und schlägt sich irgendwann mit der Faust ziemlich heftig auf den Kopf. Ich reagiere nicht, er macht es noch einmal, so geht es weiter. Ich ernte kritische Blicke anderer Einkaufender. Das verstehe ich, denn es ist eine ungewöhnliche Situation, aber nun ist es so: Ich weiß genau, wenn ich jetzt auf John reagiere, dann wird er sich merken, dass das Schlagen auf den Kopf eine Wirkung erzielt, und er wird dieses Wissen auf lange Zeit einsetzen.

Eine Mutter aus meiner Elterngruppe hat einen erwachsenen autistischen Sohn, der einmal damit anfing, sich die Nase so lange zu rubbeln, bis sie blutete. Sie war schockiert, reagierte entsprechend darauf und es resultierte darin, dass ihr Sohn in Zukunft dieses Naserubbeln immer wieder einsetzte, wenn er sie ärgern oder seinen Willen durchsetzen wollte. Das massive Naserubbeln und Nasenbluten wurde – über Monate und Jahre – zu einem Riesenproblem.

Kinder suchen Reaktionen, und immer wieder wollen und müssen Grenzen ausgetestet werden. Das geht allen Eltern so. Gerade letzte Woche beobachtete ich in unserem Lidl einen Vater mit seiner etwa dreijährigen Tochter. Anfangs schoben sie friedlich an uns vorbei, dann fing sie an, ihren Vater zu sticheln und wollte dies und das haben, was er nicht einkaufen wollte. Er sah aus, als käme er gerade von der Arbeit. Das Mädchen schien voll fokussiert, der Vater eher müde.

Sie ahnte ihre Chance, drängelte immer weiter, aber er hielt erfolgreich dagegen. Gerade dachte ich, dass das ja beeindruckend gut für ihn funktioniere, als das Mädchen den Vater bat, sie aus dem Wagen zu heben, sie wolle selber laufen. Er hob sie heraus und prompt legte sie einiges an Drängeln und Jammern nach. Sie rannte wild herum und hatte nun wesentlich mehr Möglichkeiten, Druck auf den Vater auszuüben. Als ich sie kurze Zeit später wieder sah, schimpfte der Vater mit der Tochter: „Es reicht jetzt wirklich!“ Er versuchte, sie gegen ihren Willen zurück in den Einkaufswagen zu setzen. Sie weinte und schrie, zog ihre Beine erst an den Körper, strampelte dann mit ihnen, keine Chance für den Sitz im Einkaufswagen. Dem Vater war das Ganze sichtlich unangenehm und es blieb ihm nur noch, die Tochter auf dem einen Arm zu tragen, mit der anderen Hand den Wagen zu schieben und seinen Einkauf möglichst schnell zu beenden. Er wirkte nun richtig müde.

Wenn Scott in so eine Situation zwischen John und mir von außen hereinkommt, sagt er manchmal: „He plays you like a fiddle.“ Das Mädchen im Lidl war auch eine wahre Geigenvirtuosin. Kinder scheinen fast einen siebten Sinn zu haben, wie – und vor allem auch wann – sie bei ihren Eltern welche Knöpfe drücken müssen. Mit einem schwer autistischen und geistig behinderten Kind, Teenager oder auch Erwachsenem ist das alles „nur“ in einer extremen Weise ausgeprägt. Uns geht es doch so ähnlich. Mein Problem ist nur nicht, dass ich mein Kind nicht mehr in den Einkaufswagen zurückbekomme, sondern dass John sich vielleicht ernsthaft verletzen kann, wenn er sich mit Wucht auf den Kopf schlägt. Aber es geht einfach nicht, dass ich jedem Druck immer nachgebe, denn so kann man erstens die einfachsten Dinge im Leben nicht mehr bewältigen und zweitens hilft es John nicht weiter, weil es gefährliche Verhaltensweisen „belohnt“ und damit verstärkt. Wenn ich darauf reagiere, dass John sich mit der Faust auf den Kopf schlägt, wird er das immer wieder tun, vielleicht sogar bald den Kopf gegen die Wand schlagen (wie man es manchmal von schwer betroffenen Autisten hört). Es hilft nur – auch und vor allem John selbst und seiner Gesundheit – das Ganze möglichst unaufgeregt zu ignorieren, solange es nicht zu gefährlich ist. Also gehe ich betont unbeeindruckt neben ihm her und sage höchstens mal: „Nee, das bringt nichts. Wir müssen einkaufen, und das kannst Du.“

Das fällt mir natürlich ganz schön schwer. (Ich hätte gerne diese Nerven aus Stahl. Wenn jemand erfährt, wo man die bekommt, bitte unbedingt Bescheid geben.) Die kritischen Blicke helfen leider nicht. John ist mittlerweile 1,80 m groß, aber in gewisser Weise ist er ja wie diese kleine Geigenvirtuosin im Lidl. Manchmal wünschte ich, ich könnte mich erklären, aber gerade in kritischen Situationen ist daran natürlich nicht zu denken. Vielleicht sollte ich einen Flyer entwerfen, den ich Menschen einfach in die Hand drücken kann. („Hallo, dieses Kind ist wie Ihres, nur ein bisschen extremer, also verhalte ich mich wie Sie, auch nur ein bisschen extremer.“)

[Oder ich muss mich an Wayne Szalinski wenden, um John auf die gesellschaftlich anerkannte Größe für solche Problematiken zu schrumpfen. Immerhin hatte dessen Schrumpfgerät ihm am Ende auch die Toleranz der Nachbarn eingebracht.]

menschen hautnah.

Schöne Dokumentation über einen jungen Mann mit fragilem X-Syndrom. [#]

Auch wenn Jan Etges viel selbständiger ist als John, erinnert mich das Tanzen sehr an unseren Kandidaten. Die Szene im Cabrio ist auch typisch Johnchenmann, genauso war er in unserem Cabrio seinerzeit auch. Was die Eltern sagen, verstehe ich gut: dieses Erfolgserlebnis, wenn man einen Schritt weiterkommt. Die Schritte sind bei uns noch kleiner, aber das Gefühl ist sehr ähnlich. John kann jetzt zum Beispiel Teller und Besteck von der Küche zum Esstisch und zurück tragen, das Licht im Badezimmer einschalten und (!) den Verschluss einer Wasserflasche zudrehen.

In der Küche höre ich Deutschlandfunk und das gefällt John anscheinend nicht (Sprechen statt Musik). Vorgestern kam er nämlich in die Küche, drehte ärgerlich am Regler und fand mehr zufällig einen Sender mit Musik. Darüber freute er sich, lief aber sofort wieder hinaus und ließ mich mit Hits aus den 80ern zurück. (Osterferien-Schlawiner.) Früher hat er in der Küche manchmal gejammert und ist ausgeflippt. Da er aber nie das Radio anfasste, wusste ich nicht, dass dies wahrscheinlich öfter ein Ärgernis für ihn war. Wir sehen immer mehr Initiative und Ausprobieren, was einerseits Erfolgserlebnisse für John bringt und uns gleichzeitig mehr Hinweise gibt zum Verstehen von Ursachen seiner Frustrationen.

[Trotzdem höre ich in der Küche weiter Deutschlandfunk, damit muss John leben lernen. Für die kurzen Momente, die er rein- und rausgehüpft kommt, kann ich nicht die ganze Zeit beim Kochen Hits der 80er hören. Aber immerhin können wir es ihm nun zu erklären versuchen.]

großer junge wartet lässig auf den schulbus.

John wartet auf den Schulbus 29.10.2013

John wartet auf den Schulbus 29.10.2013

Im Müllraum begegnete mir heute eine Nachbarin, die am gegenüberliegenden Ende unseres großen Innenhofs wohnt. Sie fragte mich: „Ihr Junge ist viel ruhiger geworden, oder?“ Sie meinte es nett, in dem Sinn, dass er Fortschritte macht, aber ich hatte natürlich vor allem ein schlechtes Gewissen, dass das selbst unseren entlegensten Nachbarn auffällt, was Rückschlüsse auf vorher nahelegt. [Komplimente mit Widerhaken]

13.

Zu Johns Geburtstag sind wir in die Therme Bad Saarow gefahren. John mag den Strömungskanal dort, und überhaupt den riesigen Pool, er lässt sich von drinnen nach draußen gleiten und schwimmt in alle Nischen. Das klappt sehr gut mit ihm, sie haben dort auch eine komfortable Behinderten-Umkleide, in der wir ihn gut umziehen, duschen und wieder anziehen können. Ein Ausflug nach Bad Saarow ist immer toll: nur eine Stunde entfernt von Berlin und man kann am Scharmützelsee auch schön spazieren gehen. Wir fahren so zwei- bis dreimal im Jahr hin und es entspannt unglaublich. John schien sehr zufrieden mit unserer Wahl der Geburtstagsgestaltung.

~

Johns Candy Grabber

An seinen Geschenken hatte er zunächst nicht so wahnsinnig viel Interesse, machte viele Pausen, aber am Ende hat er sich doch gefreut. Leider hatte er in der Therme wohl wieder zu viel Salzwasser getrunken und zudem zu viele Süßigkeiten gegessen, so dass er mitten in der Nacht mit Durchfall aufwachte. Die Nacht war dann sehr ruppig. „Aber was ist schon eine Party ohne Schmerzen hinterher, die Sünden wiegen schwer, doch begehen kann man nie genug.“

[Wenn es ein passendes Element of Crime-Lied zu einer Situation gibt, ist sie immer gleich viel leichter zu ertragen.]

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Ansonsten, liebes Tagesbuch, war ich letzte Woche bei der Vernissage Comics aus Berlin. Bilder einer Stadt, die ein Freund von mir kuratiert hat. Atak ist natürlich dabei und Fil und Tim Dinter. Schöne Ausstellung im Rahmen des Literaturfestivals, kann ich empfehlen.

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Außerdem hatten wir Elternabend in der Schule. Bin ich die einzige Mutter, die Elternabende gut findet? (Ich lese allerorten Elternabend-Bashings.) Ich freue mich immer sehr darauf, die Lehrer zu sehen und von ihnen zu hören, was in der Klasse los ist, was sie im neuen Schuljahr vorhaben und wie sie die Kinder erleben. Vielleicht liegt es daran, dass John nicht spricht und ich deshalb umso mehr auf die Berichte der Lehrer angewiesen bin? Alleine schon seine Klasse zu sehen und wie sie dort alles gestalten finde ich toll. Neuerdings hat jede Klasse ein Smart Board und diese Woche kommen noch iPads dazu. Das Vorhabenthema ist dieses Jahr Lebensgestaltung. John macht in der Schule momentan anscheinend gut mit, und beim anschließenden großen Elternabend in der Aula gab es auch gute Nachrichten: keine weiteren Kürzungen, sogar im Gegenteil. Die letztes Jahr von der brandenburgischen Bildungsbehörde geplante Kürzung der verlängerten Schulzeit liegt auf Eis und die Kinder dürfen bis auf Weiteres doch zwei Jahre länger in die Schule gehen.

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Gelesen habe ich Karen Blixens Jenseits von Afrika, Hemingways Die grünen Hügel Afrikas und Beryl Markhams Westwärts mit der Nacht.

[Ich ahne schon, dass ich mit zu vielen Impressionen in Afrika ankommen werde, es erinnert mich ein bisschen daran, wie ich zum ersten Mal nach New York kam und mein Kopf viel zu voll von verinnerlichten Bildern war, die man doch alle nur erstmal wieder überwinden muss, um selbst sehen zu können.]

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Dann waren wir auch noch im Kino und haben Frances Ha gesehen, was okay war, aber ich musste die ganze Zeit an Happy-Go-Lucky und In Search of a Midnight Kiss denken, beide ähnlich, aber für meinen Geschmack besser.

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Eine beschäftigte Woche mit viel abendlichem Ausgehen: nochmal ein bisschen Sommer tanken. Morgens ist es jetzt immer schon merklich dunkler, wenn Johns Schulbus um die Ecke biegt. Bald werden wir ihn wieder im Dunkeln verabschieden und empfangen, ich mag kaum dran denken.

John freut sich über ein neues Bilderbuch

john jetzt auch mit autovervollständigen-funktion.

„Möchtest Du ein…?“
„Möchtest Du mit…?“
„Möchtest Du in…?“

Wir haben festgestellt, dass wir nur diese drei Satzanfänge zu sagen brauchen und John geht schon los in die entsprechende Richtung: in die Küche, zur Bank, auf der wir seine Schuhe anziehen, oder ins Bad. Denn so lauten die viel benutzten Sätze in unserem Haus vollständig:

„Möchtest Du ein… Eis?“
„Möchtest Du mit… dem Auto fahren?“
„Möchtest Du in… die Badewanne?“

Wir sagen jetzt aber immer nur noch:

„Möchtest Du ein…?“
„Möchtest Du mit…?“
„Möchtest Du in…?“

zwölf.

‚Cause every single story
is a story about love
(The Shins/ 40 Mark Strasse)

Light Show im Wohnzimmer

Unsere Wohnung wird zum Club: zum Geburtstag bekommt John einen LED-Lichtprojektor. Wir haben lange überlegt, was wir ihm schenken können, das ist jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten so eine Sache. Aber dann dachten wir uns: er mag Musik und er interessiert sich für visuelle Effekte, also haben wir einen Projektor gekauft, dessen Lichteffekte sich nach Musik richten.

Jetzt testen wir, mit welcher Musik es am besten funktioniert. Schonmal nicht mit der neuen Cat Power, die löst fast nichts aus, The Olivia Tremor Control dagegen zieht ganz gut. Laut Beschreibung ist es am besten, wenn man noch eine Fog Machine dazukauft, das kommt dann vielleicht zu Weihnachten. Nach und nacht mutiert unsere Wohnung zu einem Snoezelraum, warum aber auch nicht.

~

Ein großer Junge, dessen Kinderausweis heute ausläuft, er ist jetzt offiziell kein Tweener mehr, unser Teenager, gestern haben wir im Bürgeramt den ersten richtigen Pass für ihn beantragt. Was ändert sich noch mit zwölf? Damals war das Highlight, dass man mit zwölf im Auto vorne sitzen durfte. Vielleicht probieren wir es mal mit John, allerdings habe ich Bedenken, dass er in die Schaltung oder ins Steuer greift, oder die Tür öffnet, die am Beifahrersitz keine Kindersicherung hat, also vielleicht lieber doch nicht.
Trotzdem: herzlichen Glückwunsch, Großer!

John im Auto

the magic wheelchair.

John geht es gerade nicht so gut, er flippt oft aus, laut und aggressiv, wir sind gemeinsam mit der Schule und allen Beteiligten auf Ursachensuche. Zweimal hat er auf dem Spielplatz verzweifelt geweint. Er saß jeweils auf der Schaukel und beobachtete Kinder beim Spielen, und plötzlich flossen die Tränen in Strömen, wir boten ihm an, nach Hause zu gehen, aber das wollte er nicht, er wollte auf der Schaukel sitzen bleiben und weiter den anderen Kindern zusehen. John nimmt seine Umwelt jetzt viel stärker wahr, und ich glaube, dieser eigentlich positive Entwicklungsschritt bereitet ihm Schmerzen, denn dadurch merkt er nun auch, wie sehr er ein Außenseiter ist, und er versteht nicht, was und wie die „normalen“ Kinder spielen. Verstecken, Fangen, Fußball, er versteht die Zusammenhänge nicht, die Interaktion. Aber er will es beobachten. Ich glaube, er versucht zu verstehen, wie sie das machen, aber dann versteht er es doch wieder nicht, und dann kommen die Tränen. Aber John hat ja völlig Recht: weglaufen nützt nichts. Er muss sich dem stellen, auch wenn es schmerzt. Er wird immer anders sein und er wird einen Weg finden müssen, mit sich, seinem Anderssein und seiner Umwelt zurechtzukommen. Wie mutig er wirklich ist. Wir versuchen so gut wie möglich, ihn zu unterstützen und zu ermutigen (statt mit ihm zu weinen, was man natürlich sofort tun möchte, wenn man hilflos daneben steht).

Wir können ihm diese Aufgabe und diesen Schmerz leider nicht nehmen, das ist vielleicht das Schwierigste. Wir können ihm nur zeigen, dass wir immer für ihn da sind, und ich glaube, das weiß er auch und spürt er auch, aber leider ist es nicht mehr wirklich genug. Er wird bald 12 Jahre alt. Mama und Papa, schön und gut, aber seine Orientierung geht nun deutlich über uns hinaus. In seiner Klasse kommt er mit den anderen Kindern sehr gut zurecht, sie mögen ihn auch sehr, aber John interessiert sich jetzt für „normale“ Kinder und wie sie miteinander spielen. Einmal habe ich auf dem Spielplatz in Neukölln zwei sehr nette türkische Mädchen getroffen und sie gefragt, ob sie mit John auf eine große Schaukel gehen würden. Das haben sie gerne gemacht und John hat sich total gefreut. Vielleicht sollten wir noch einmal einen Anlauf nehmen für die gemischte Sportgruppe der behinderten und nicht-behinderten Kinder. Vor Jahren hatten wir es schonmal probiert, aber damals hat es John noch gar nicht interessiert. Vielleicht ist es nun an der Zeit dafür.

Jedenfalls denke ich, dieser Schmerz von John, der auch unserer ist, könnte vielleicht ein Grund sein, warum er immer wieder ausflippt. Es wäre so schön, wenn er bei der Kommunikation ein paar Fortschritte machen würde – nicht, weil es eine Erwartungshaltung von mir ist, sondern weil es ihm selbst so helfen würde. Aber leider kommen wir weder mit Bildern, noch mit Gebärden, noch mit wiederholten Worten so richtig weiter im Moment, im Grunde sind wir in einer Warteschleife, und geben einfach von Tag zu Tag unser Bestes, one day at a time. Manchmal ist es eben schwer, für ihn, für uns, und dann hilft es aber eben auch gerade gar nicht, wenn man ständig abwertend angestarrt wird.

Wenigstens Letzteres haben wir einmal überwunden. Wir fuhren zu Ikea, John war schon im Auto genervt und wir befürchteten einen baldigen Ausbruch. Da sahen wir einen dieser Ikea-Rollstühle. John wird wahnsinnig gerne herumkutschiert, wir könnten ihn also in den Rollstuhl setzen und in Ruhe einkaufen, dachten wir, weil er wahrscheinlich gut gelaunt wäre, solange wir ihn herumfahren. Wir zeigten also seinen Behindertenausweis vor, hinterlegten einen Personalausweis und schoben los, und tatsächlich war John schlagartig gut gelaunt. Er machte seine glucksenden Ich-bin-glücklich-Geräusche, inklusive seinem signature dance, dem bereits seit 2006 praktizierten rudernden Sitztanz. Völlig unerwartet begegnete uns eine ganz andere Welt, in der es lauter lächelnde Leute gab. Wohin wir auch schoben, überall freundliche Menschen, Leute traten vorausschauend zur Seite, ließen uns im Restaurant sogar in der Schlange vor, es war einfach unfassbar. Wie oft schon habe ich mit John an Supermarktkassen angestanden und er flippte total aus, biss sich in die Hand, alle starrten uns an, aber keiner ließ uns vor – und nun, da John glücklich glucksend dasaß, wir völlig entspannt, wollte uns eine Frau unbedingt vorlassen.

Noch nie ist mir so klar gewesen, wie viel Mitgefühl körperlichen Behinderungen im Gegensatz zu geistigen Behinderungen entgegengebracht wird. Wir sind es schon so gewohnt, ablehnend, sogar angewidert angestarrt zu werden, man stumpft ja auch ab mit der Zeit und hält das für normal. So richtig bewusst geworden ist mir die Tragweite des Ganzen deshalb erst, als wir mit John in der Rollstuhlwelt unterwegs waren. Wenn wir eine Horrorszene im Supermarkt haben, dann denken die Leute vielleicht, wir seien unfähig, das Kind gescheit zu erziehen, ganz anders mit dem Rollstuhl, da vermittelt sich die Behinderung schon im ersten Anblick – und in dem Moment ist dann die geistige Behinderung plötzlich auch okay, anscheinend braucht sie nur einen deutlich sichtbaren Signifikanten. Es freut mich für die Menschen mit Körperbehinderungen, dass sie schon so viel deutlicher ein Teil der Gesellschaft sind, aber meine Güte, was für ein weiter Weg im Gegensatz dazu noch vor uns liegt, was geistige Behinderungen betrifft. Inklusion, das ist leider viel mehr als abgesenkte Bordsteine.

(Ansonsten hat sich John übrigens in Claudia Kleinert verliebt: wenn sie in der ARD oder auf rbb das Wetter ansagt, geht John zum Fernseher und gibt ihrem Mund auf dem Bildschirm einen Kuss.)

priceless moments am wochenende.

Vater und Sohn auf dem Sofa, Scott spielt Gitarre und singt Paul McCartney’s Put It There, John schmiegt sich an ihn an.

~

[Sowieso totaler Musik-Fan wieder im Moment, das Kind. Ich frage ihn: „Willst Du tanzen?,“ dann kommt er angelaufen und stellt sich auf meine Füße, für ihn heißt tanzen, dass er sich beim anderen auf die Füße stellt und so führen lässt. Was zunehmend schwierig wird.]

~

Gestern auf dem Rückweg vom Mauerpark auf dem Spielplatz an der Gleimstraße, alle vier Schaukeln besetzt, wir stellen uns an, John ganz geduldig zuerst, als sich dann aber vielleicht zwei Minuten lang nichts tut, fängt er an, sich heftig in die Hand zu beißen, ich frage die Kinder, ob einer vielleicht John schaukeln lassen würde, drei sehen weg und tun so, als hätten sie mich nicht gehört, einer springt von der Schaukel und ruft: „Ich mach das! Ich lass ihn gerne schaukeln!“

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