weihnachten 2008.

Und so ergab es sich an Weihnachten 2008, dass Vater, Mutter und Kind erkrankten. Nach drei Tagen und zwei Nächten der heiligen Familie unter dem Baum erhoben sie sich wieder von ihrem provisorischen Lager, schalteten die zu Weihnachten erhaltenen Staffeln von „Frasier“ aus und kehrten ins Leben zurück. [John mimte allerdings die ganze Zeit ein eher unruhiges Jesuskind, ein solches Energiebündel, auch im Kranksein, es ist unglaublich, was für eine Kraft in ihm steckt.]

hard candy christmas.

I’m barely getting through
tomorrow
but still I won’t let
sorrow bring me way down

[Alle krank, die Grippe nimmt keine Rücksicht auf Weihnachten, das passt zu den letzten Wochen, bald Monaten, von Johns aggressiver Krise, das passende Fest zu dieser Zeit also, so ein krankes Weihnachten. Aber man kann ja die Matratze ins Wohnzimmer holen und unter den Baum legen. We still won’t let sorrow bring us way down.]

Hard candy christmas: 1, 2

berlin im november.

I
John balanciert auf einem Holzbalken. Ein Mann, eine Frau und ein Mädchen (vielleicht drei bis vier Jahre alt) kommen in unsere Richtung. „Ich will auch machen, was der Junge da macht!“, ruft das kleine Mädchen. Sie springt fröhlich in Richtung des Holzbalkens, steht gerade darauf, als John anfängt, ein Medley seiner komischen Geräusche (irgendwo zwischen Löwe und Affe, durchsetzt mit diversen Zischlauten) zum Besten zu geben. Das Mädchen ist zwar leicht irritiert, scheint aber weiter auf demselben Balken balancieren zu wollen. Vater und Mutter sehen sich allerdings völlig schockiert an, und der Vater ruft dringend und drängend: „Milena, komm sofort her, wir gehen weiter!“ Das Mädchen ist vom scharfen Ton des Vaters erschrockener als von Johns Geräuschen, hüpft sofort von dem Balken und läuft zu den Eltern, die sich ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen umdrehen und mit dem Kind davoneilen. Wir: die Aussätzigen. Und die snobistischen Akademiker-Eltern in Prenzlauer Berg.

II
Ich kaufe mit John bei Lidl ein. Er streift durch die Gänge und bewundert die Verpackungen, die er sich so gerne ansieht. Weil ihm das so gut gefällt, macht er dabei seine glucksenden Mir-geht-es-gut-Geräusche. Zwei etwa sechsjährige Mädchen beobachten, wie er mit den Fingern gegen die Verpackungen schnipst (ein Zeichen seiner Anerkennung der Formen und Farben, seine Kommunikation mit den Dingen). Die beiden Mädchen tuscheln und als wir ganz bei ihnen in der Nähe stehen, sagt das eine Mädchen laut und bestimmt, direkt in Johns Gesicht: „Du bist echt ekelhaft.“ Ich bin schockiert, und sehe mich nach den Eltern um, die aber nicht zu sehen sind. Also gehe ich auf das Mädchen zu, sie sagt nach einem Blick in mein wütendes Gesicht gleich präventiv: „Ich habe nichts gesagt!“ Das zweite Mädchen verdrückt sich in den Nebengang, aber die kleine Idiotin habe ich eingekesselt. Ich erwidere: „Ich habe genau gehört, was Du gesagt hast. Komm mir nicht so.“ Sie: „Aber meine Freundin hat auch über ihn gelacht!“ Ich: „Das habe ich gesehen, aber das ist keine Entschuldigung für Dich. Du hast meinem Sohn etwas gesagt, das nicht in Ordnung war. Eins musst Du Dir merken: Es gibt ganz viele unterschiedliche Menschen auf der Welt, und die haben alle genauso ein Recht hier zu sein, wie Du. Das kannst Du Dir am besten für Dein ganzes Leben merken.“ Sie hört mir natürlich kaum zu, und ich lasse sie gehen. John hat nämlich in der Zwischenzeit angefangen, herzerweichend zu weinen. Ob er das Mädchen nun verstanden hatte, und darum weinte, oder ob er einfach intuitiv auf die Spannung zwischen mir und dem Mädchen reagierte, das weiß ich nicht. Wir, die Aussätzigen. Und die verwöhnten, hochnäsigen Blagen der snobistischen Akademiker-Eltern in Prenzlauer Berg.

Warum die schlechten Erfahrungen immer hier, an der Grenze zwischen Mitte und Prenzlauer Berg? Kann das noch Zufall sein? Selbst wenn John das größte Theater an der Supermarktkasse macht, hat uns in hier noch nie jemand vorgelassen, ganz im Gegensatz zu Friesoythe, meinem kleinen Heimatort, in dem uns schon häufiger Leute vorgelassen haben, obwohl ich dort viel seltener einkaufen gehe. In Berlin, jedenfalls in diesem Teil der Stadt, hat man keine Zeit für Wärme, Rücksicht, Mitgefühl und ähnlichen Quatsch. Hier sind wir hart und unnachgiebig, Leid passt nicht in unser Leben, Menschen, die anders sind, möchten wir in unserem Viertel am liebsten gar nicht haben, wir sind erfolgreich, schick gekleidet und unsere Kinder lernen schon mit fünf Jahren Chinesisch, da haben wir keine Zeit, irgendwelche behinderten Kinder an der Kasse vorzulassen, die sollen doch woanders hingehen, zum Beispiel in den Wedding, da müssen wir dann gar nichts davon wissen, dass es sie gibt; aber wenn sie wirklich darauf bestehen, hier zu wohnen, dann müssen sie sich eben damit abfinden, dass wir ihnen bestenfalls die kalte Schulter zeigen, wenn wir uns und unsere Kinder nicht gerade demonstrativ von ihnen wegzerren.

III
Im Park Sanssouci muss ich Johns Windel wechseln. Wir gehen auf die Schloss-Toilette, auf der nichts los ist. Die Toilettenfrau zeigt uns sofort die größte Kabine, in der ich ihn am besten wickeln kann. Als wir wieder herauskommen, schenkt sie John ein gebasteltes Papierschiffchen und redet freundlich mit ihm. Dass er nicht antwortet, stört sie nicht. Ich sage: „Er kann nicht sprechen“, woraufhin sie sagt: „Ich weiß. Aber er versteht bestimmt, wenn man ihm etwas schenkt.“ Die nette Toilettenfrau in Potsdam.

IV
Wir fahren im ICE und John wird die Reise lang. Mehrmals schon sind wir durch den ganzen langen Zug gelaufen, ich muss aber noch irgendwie eine Stunde bis Berlin rumbringen. Also nehme ich ihn mit ins Bord-Restaurant und kaufe ihm überteuerte Nudeln. Die verspeist er denn auch mit viel Freude. Eine halbe Stunde erkauft. Als ich bezahlen möchte, fragt die Kellnerin, ob er ein Eis essen darf. Ich, etwas irritiert: „Ja, schon.“ Sie zückt ein Eis hinter ihrem Rücken hervor und strahlt: „Das möchte ich ihm so gerne schenken!“ John freut sich, eine weitere Viertelstunde ist gesichert, wir sind schon kurz vor Spandau. Ich bedanke mich bei der Kellnerin, sie lächelt auf eine Weise, die ganz unaufdringlich und angenehm sagt: „Ich weiß Bescheid“. Vielleicht hat sie ein autistisches Kind in der Familie. Oder vielleicht ist sie einfach nur ein netter Mensch. Die patente Kellnerin im Bord-Restaurant des ICE Hannover-Berlin. Wenn die Toilettenfrauen und Kellnerinnen nicht wären, Menschen, die mir immer wieder zeigen, dass es auch anders geht, dass wir eben doch keine Aussätzigen sind, wenn es nicht auch solche Erfahrungen gäbe, dann würde ich vielleicht bald verzweifeln.

the talker is in da house [und wir im badezimmer].

Ich möchte den kleinen Cousin von R2-D2 vorstellen: das neue Kommunikationsgerät, inklusive Software für allerdings unverschämte 900 Euro, nach erstmaligem Ablehnen und folgender ‚Bewilligung nach Einspruch‘ dann doch von der Krankenkasse bezahlt (die Bürokratie!), hört auf den star-wars-artigen Namen GoTalk20+ und arbeitet mit Symbolen, dem geschriebenen Wort, und dazu mit der gesprochenen Sprache: wenn man auf ein Kommunikationsfeld drückt, wird das, was abgebildet ist und geschrieben steht, zusätzlich noch gesprochen. (Kann man selber aufnehmen und bestücken, mit der Software, die tausende von Symbolen enthält und individuell angepasst werden kann. Wenn man die Software installiert, muss man sich zuerst entscheiden, ob man „die sexuellen Symbole“ mitinstallieren will, ein amerikanisches Programm, natürlich. Ha, ich habe für das achtjährige Kind gleich eines der sexuellen Symbole verwendet, ich brauchte nämlich eins für „Kuscheln“, und da kamen eigentlich nur die beiden süßen Figuren in Frage, die sich umarmen. Die sind tatsächlich Teil der „sexuellen Symbole.“) Der entscheidende Unterschied zu reinen Bild- und Wortkarten, die wir bisher benutzt haben, und mit denen wir irgendwie in eine Sackgasse geraten sind, ist also das zusätzliche Hören des Symbols, bzw. das Sprechen des Gerätes. John selbst kann nur wenig sprechen, die Idee ist also, dass das Gerät das für ihn übernimmt. Dieses System ist sehr ausbaufähig und geht bis zu hochkomplexen Computern, mit denen einige nicht-sprechende Autisten hervorragend kommunizieren können.

Nun soll man das Training mit einem einzigen Symbol beginnen, das eine größtmögliche Motivation mit sich bringt. Zuerst wollte ich Eis nehmen, weil Eisessen natürlich eine Riesenmotivation ist, aber da das Kind bei jedem erfolgreichen Benutzen sofort das Angeforderte bekommen muss, entschied ich mich doch gegen das Eis, und nahm stattdessen ein für John ähnlich motivierendes Symbol: Baden.

Man ahnt es schon. Binnen vier Tagen, in denen ich für und vor John den Knopf drückte, und den erfreuten Sohnemann dann in die Wanne setzte, hatte er es schon verstanden. Am fünften Tag drückte er bereits selbst das Symbol mit der Badewanne, zielsicher zwischen all den anderen. Nun hat er den Talker sogar schon selbst aus der Schublade geholt, mir gebracht, mit triumphierendem Blick dezidiert auf „Baden“ gedrückt, und ist daraufhin schnell zur Badezimmertür vorgelaufen.

Seither sitzt John, wenn er wach ist und Zuhause, eigentlich nur noch in der Badewanne, und ich auf dem Klodeckel neben ihm. Was waren das noch für schöne Zeiten, als man mal im Wohnzimmer sitzen konnte. An unsere nächste Gasabrechnung möchte ich gar nicht denken. (Kann man die auch bei der Pflegekasse einreichen?) Die Haut des Kindes ist schrumpelig, seine Augen sind rot, aber er ist glücklich – und wahrscheinlich bereit dafür, dass ein bis zwei weitere Symbole in Aktion treten.

Hauptsache, dieser Ansatz wendet sich nicht gegen mich: kein Mensch kann mir schließlich garantieren, dass er das Gerät irgendwann auch für alltägliche Kommunikation nutzen wird, und nicht nur für „Baden“, „Eis“ und „Cheeseburger.“ Mich beschleicht so ein Verdacht. Aber man muss es ja versuchen. [Kindererziehung ist der härteste Job der Welt.]

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