disconnect [gesamtkunstwerk].

Für die Verlängerung von Johns Schwerbehindertenausweis ist in Berlin das Landesamt für Gesundheit und Soziales zuständig. Momentan haben sie dafür keine Zeit, das verstehe ich. Statt einer wirklichen Bearbeitung wurde also Johns auslaufender Schwerbehindertenausweis einfach ohne weitere Prüfung verlängert, dafür aber nur für ein Jahr – mit dem Ziel, dass die tatsächliche Bearbeitung dann in einem Jahr stattfinden soll.

Für uns brachte das allerlei Unannehmlichkeiten mit sich, zum Beispiel konnte die Straßenverkehrsbehörde unseren Parkausweis und unseren Parkplatz daraufhin auch nur jeweils für ein Jahr verlängern, weil sie auf der Grundlage der Dokumente aus dem LaGeSo arbeiten. Wir hatten allerlei Rennerei, die wir nun schon in einem Jahr wieder haben werden, und John muss dann auch wieder mitkommen, obwohl ihm diese Behördengänge schwerfallen etc. Aber auch das ist okay. Die Berliner Verwaltung ist überfordert, das ist klar, da kann man nichts machen.

Das Problem ergab sich ganz anders. Bisher hatten wir nämlich noch den alten Schwerbehindertenausweis, ein etwas merkwürdig grün-rotes, großformatiges Papierdokument. Die neuen Ausweise haben ein festes Kreditkartenformat. Wir kamen also mit John zum Amt, zogen eine Nummer, warteten brav, und als wir an der Reihe waren, übergaben wir der Sachbearbeiterin den ausgefüllten Antrag, unseren alten Ausweis und ein neues Passfoto. Sie nahm alles sofort an sich.

Ich fragte: „Wenn Sie fertig sind, könnten Sie den alten Ausweis dann entwerten und mir zurückgeben?“
Sie sagte: „Nein, das geht nicht. Die alten Ausweise behalten wir hier, die werden ordnungsgemäß vernichtet.“
Ich: „Es ist nur so, ich würde ihn gerne behalten. Als Erinnerung. Wenn man ihn entwertet, kann ich ja auch sonst nichts mehr damit machen.“
Sie: „Ich kann ja versuchen, das Foto abzuziehen, das können sie dann haben.“
Ich: „Hm, einen Ausdruck von dem Foto habe ich Zuhause sowieso noch. Ich meinte eher den Ausweis als Ganzes.“ [Ich konnte mich gerade noch stoppen, nicht Gesamtkunstwerk zu sagen.]
Sie (empört): „Na, so ein Ausweis ist ja nicht gerade etwas, worauf man stolz sein könnte!“
Ich: „Um Stolz geht es mir auch nicht. Mir geht es um die Erinnerung.“
Sie (mittlerweile richtig ungeduldig): „Als ob man sich daran gerne erinnert! Ich sage doch: Nein, das geht nicht.“
Ich: „Schade. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Ausweis vorher wenigstens noch fotografiert.“ [Ich traute mich an dieser Stelle schon nicht mehr, direkt danach zu fragen, den Ausweis noch einmal zum Abfotografieren zurückzubekommen.]

Die Sachbearbeiterin tat dann, als ob sie mich nicht gehört hätte, widmete sich schnell wieder der Bearbeitung und schickte uns in ein anderes Zimmer, in dem wir den neuen Ausweis abholen konnten. Meine Erklärung hatte offensichtlich weder zeitlich noch philosophisch in ihren Rahmen gepasst.

Dieser alte Schwerbehindertenausweis hat uns 12 Jahre lang begleitet. Ihm war auf der Rückseite irgendwann in einer anderen Farbe das zusätzliche Merkmal „aG“ aufgestempelt worden. Vorne drauf waren die verschiedenen Stempel des Versorgungsamtes Oldenburg und der ersten Verlängerung aus Berlin. Der Ausweis war als Fahrkartenersatz mit uns Bus, Zug, U- und S-Bahn gefahren und sah auch danach aus. Er war in verschiedenen Taschen, Rucksäcken und Koffern mit uns durch ganz Europa gereist. Der Ausweis war ein mehrfach angepasstes und gebrauchtes Dokument im besten Sinn, ja, es hat sich ein Teil unseres Lebens in ihm gespiegelt. (So weit die Ode an den Schwerbehindertenausweis.)

Ich hänge nicht nur an Sachen, „auf die man stolz sein kann.“ Ich hätte den Ausweis sehr gerne gemeinsam mit Johns Fotos und anderen Dingen aufbewahrt. Auch wenn er nicht im klassischen Sinn schön war und sehr benutzt aussah, so hatte er dennoch – oder gerade deshalb – ganz schön viel Charme. Ich erinnere mich gerne an ihn. [Und warum sollte mir eine Dame vom Amt vorschreiben können, woran ich mich gerne erinnere?]

5 thoughts on “disconnect [gesamtkunstwerk].

  1. Antworten
    tikerscherk - 18. Januar 2016

    Es ist mir nicht ganz klar, was die Sachbeabeiterin mit „nichts worauf man stolz sein könnte“ gemeint hat.
    Behinderung als ein nichtwünschenswerter Zustand, an den besser jede Erinnerung, ud sei es in Form eines Dokumentes, getilgt, oder zumindest nicht aufbewahrt gehört?

    Ich kann gut verstehen, dass Sie an eben diesem Stück Papier, das Sie durch Orte und Zeit begleitet und sich dabei verändert hat hängen. Als Ausweis zeigte es nur an, was sowieso bekannt war. Als Reisebegleiter dokumentierte es auch die Entwicklung Johns und das gemeinsame Wachsen.

  2. Antworten
    Moni - 19. Januar 2016

    Das mit dem Stolz fand ich auch einen merkwürdigen Kommentar. Er zeigt nach meinem Gefühl aber recht deutlich, wo wir uns in der Gesellschaft bitte einordnen sollen. Genau diese kleinen Situationen sind es, die einem den Platz zuweisen.

  3. Antworten
    Blogleserin - 19. Januar 2016

    Sehr geehrte Frau Scheele-Knight,

    wir kennen einander nicht persönlich, aber ich lese Ihr Blog sehr gerne, seit mich Google anlässlich der Rezension des Buches „Wo fahren wir hin, Papa?“ dort hingeführt hat.

    Ich habe noch nicht oft aus nächster Nähe erfahren, wie mit behinderten Menschen und ihren Familien umgegangen wird, aber ich wollte zu denken geben, dass die Dame vom Amt vielleicht – vielleicht – nur gemeint hat, auf so einen leblosen, bürokratischen Wisch müsse man nicht stolz sein (als legte sich jemand seinen Kfz-Schein unter’s Kissen); dass sie also gar nicht Ihren Sohn gemeint hat.

    Ich könnte mich natürlich irren, aber vielleicht betrübt Sie dieser Gedanke weniger.

    Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, meinen allerersten Kommentar zu lesen. Ihnen und Ihrer Familie wünsche ich nur das Beste.

    Mit herzlichen Grüßen,

    Anne M.

  4. Antworten
    Moni - 19. Januar 2016

    Vielen Dank für den Kommentar!

    Ich denke, es könnte schon sein, dass die Frau den Ausweis nur als bürokratisches Dokument angesehen hat. Aber spätestens als ich sagte, dass ich ihn gerne zur Erinnerung aufbewahren möchte, hätte sie dann anders reagiert, denke ich. Der Hinweis, dass man sich daran wohl nicht gerne erinnern könnte, geht ja auch in die gleiche Richtung…

    Ich hatte übrigens nicht das Gefühl, dass sie es böse gemeint hat. Eher hatte es den Anschein von Gedankenlosigkeit.

  5. Antworten
    tikerscherk - 19. Januar 2016

    Wenn ich mich noch einmal kurz zu Wort melden darf: auch ich glaube, dass es eher Gedankenlosigkeit war, die zu diesem Satz führte, dem aber dennoch, nach meiner Erfahrung, eine Haltung zugrunde liegt, die behindertes Leben als einen nicht wünschenswerten Zustand betrachtet. Schlimm genug, dass es Behinderte gibt, da muss man nicht noch einen Kult darum machen.
    Das ist gewiss nicht Ausdruck einer privaten Feindseligkeit, sondern eines gesellschaftlichen Konsens gegenüber den weniger `Tüchtigen´.

Schreibe einen Kommentar zu Blogleserin Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll to top