45 wochen [sudep].

Heute sind es 45 Wochen seit Johns Tod. Es treibt mich nach wie vor oft um, dass wir nicht wissen, wie John gestorben ist. Ich bekomme in meinem Kopf irgendwie nicht die Brücke hin zwischen dem „gerade noch mit ihm telefoniert“ und Scotts Anruf zwei Stunden später, dass John gestorben ist. Vielleicht ist es auch deshalb so schwer, weil ich nicht da war. Andererseits sagt Scott, ich könne froh sein, nicht da gewesen zu sein, weil es so schrecklich war. Beides führt am Ende wahrscheinlich eh zum gleichen Problem: der Fassungslosigkeit darüber, dass so etwas einfach – plötzlich und unerwartet – passiert.

Wortschnittchen verlinkte diesen guten Artikel von Roland Scholz zum Thema Sterben: Ganz am Ende. Ich erinnerte mich kürzlich auch daran, dass ich im Bücherregal noch „Wie wir sterben“ von Sherwin Nuland stehen habe (hier habe ich eine Rezension in der ZEIT gefunden).

Leider helfen mir der Artikel und das Buch bei SUDEP (sudden unexpected death in epilepsy) nicht viel weiter. Die Medizin weiß annähernd nichts über die Gründe und auch wenig über den genauen Verlauf des Sterbens. Eine recht groß angelegte Studie kam zu dem Schluss, dass der Tod meistens innerhalb von drei Minuten nach einem Krampfanfall eintritt. Der Anfall ist also schon vorbei und dann kommt es aus bisher ungeklärten Gründen plötzlich zu einem totalen Shutdown des EEG, gefolgt von einem Herz- und Atemstillstand.

In den allermeisten Fällen sind die Personen alleine, wenn dies passiert. In den Fällen, in denen jemand bei ihnen war, scheiterten die Wiederbelebungsversuche. Ich las einen Bericht, in dem zufällig sogar Sanitäter und ein Defibrillator in der Nähe waren, doch auch sie konnten nichts ausrichten. Der Shutdown ist anscheinend sehr schnell und vollumfänglich.

In Deutschland werden die Todesfälle von SUDEP noch nicht einmal statistisch erfasst, so dass man gar nicht weiß, wie viele Menschen daran sterben. Online habe ich zwar viel über das Thema gelesen, aber letztlich bleibt alles recht vage, weil das medizinische Wissen darüber, warum und wie genau SUDEP passiert, eben so gering ist.

Unter Neurologen gibt es eine Debatte darüber, ob genügend über SUDEP aufgeklärt wird. Wir waren ja knapp zwei Monate vor Johns Tod noch mit ihm im Epilepsiezentrum, sein EEG fiel schlecht aus und uns wurde gesagt, dass wir uns auf Krampfanfälle einstellen sollten. Über die Möglichkeit eines plötzlichen Todes wurden wir nicht aufgeklärt, das Wort SUDEP fiel nicht. Ein paar Wochen später hatten wir den nächsten Termin zur Abklärung, doch den hat John nicht mehr erlebt.

Hätte es uns geholfen, wenn der Arzt (oder irgendeiner der vorher behandelnden Neurologen) uns über SUDEP aufgeklärt hätte? Mein erster Impuls war zu denken: Natürlich, unbedingt. Man will doch alles wissen. Aber je länger ich darüber nachdenke, umso unsicherer bin ich mir. Es sind ja keine Anzeichen bekannt, auf die man achten könnte. Es gibt keine Vorbeugung, man kann nichts anders machen aufgrund des Wissens über diese Möglichkeit. Die Aufklärung würde also keine konkreten Handlungsoptionen eröffnen, sie würde aber, da bin ich mir sicher, enorm sorgen und ängstigen.

Wenn man dann bedenkt, dass es im Großen und Ganzen gesehen ein eher seltenes Phänomen ist und es am Ende auch keinen Unterschied macht, ob man davon vorher gewusst hat oder nicht, dann könnte eine solche Aufklärung auch mehr schaden als helfen. Wie gesagt, unter Neurologen und betroffenen Familien ist das Thema umstritten. Ich habe (noch) keine Meinung dazu und verstehe die Argumente beider Seiten. Ich wünschte mir aber, dass mehr geforscht würde, um dieses Phänomen zu verstehen. Wir haben John in den USA in das SUDEP-Register eintragen lassen.

Innerlich komme ich am Ende aber doch nur immer wieder zu dem Moment zurück, in dem John gestorben ist, allein in seinem Bett. Wie das gewesen ist, werden wir nie wissen. Aber das schreibt Roland Scholz ja auch sehr treffend zum Sterben: „Ab jetzt bist du mit dir allein. Das bedeutet nicht: einsam. Du kannst deine Freunde um dich haben, deine Familie, die ganze weite Welt, es ist gleich. Du stirbst allein. So, wie du allein atmest. So, wie du allein träumst.“

Es ist nicht einfach, dieses für einen geliebten Menschen zu akzeptieren, und schon gar nicht, wenn man diesen geliebten Menschen selbst in das Leben geboren hat.

4 thoughts on “45 wochen [sudep].

  1. Antworten
    Hannah - 19. Januar 2017

    Wir haben nachts, wenn wir schlafen, unser Kind am Monitor v.A. weil er eh Anfälle hat, bei denen fast immer die Atmung von leicht bis komplett (keine Atemtätigkeit=Tod in ca. 3 Minuten) betroffen ist oder er sich erbricht=Aspirationsgefahr etc. D.h. unbeobachtet und unbehandelt könnte man bei ihm dann auch zu dem Schluss kommen „SUDEP“. Wobei wir schon zu zahlreichen Ärzten Kontakt hatten, die leugnen, dass man direkt an Epilepsie sterben kann. Für uns ist es auch die Frage, wie wir ihm vor dem Hintergrund mehr Privatsphäre und perspektivisch das Wohnen in einer eigenen Wohnung ermöglichen können.

    1. Antworten
      Monika - 20. Januar 2017

      Die Sorge um die Privatsphäre und die Zukunft kann ich gut verstehen. Das sind natürlich Themen, die uns auch immer begleitet haben.

      John war ja sehr lange anfallsfrei. Mit so einem Rückfall, wie wir ihn erlebt haben, hat keiner gerechnet. Und man muss sagen, wir wissen ja auch gar nicht, was wirklich passiert ist. Es kann durchaus sogar sein, dass es gar kein Krampfanfall war. Wir wussten schließlich generell nicht, was wirklich los ist. Die Ärzte konnten sich nie einen Reim darauf machen. Und John konnte uns nicht helfen. Das ist so quälend und so tragisch mit einem Menschen, der nicht sprechen kann und auch nicht zeigen kann, wo ein Problem ist.

      Das ganze letzte Lebensjahr war John schwierig und wir haben herumgeraten. Wir haben ihm die Weisheitszähne rausnehmen lassen und bei der Narkose alles überprüfen lassen. Die Zähne waren es nicht. Der Bauch? Haben wir auch abklären lassen, nichts. Und warum wollte er nicht mehr spazieren gehen? Taten ihm die Beine weh? Manchmal lief er so komisch. Oder war es doch nur Unlust in der Pubertät? Fragen über Fragen, die wir und auch die Ärzte nicht beantworten konnten.

      Wir haben dieses Nichtwissen und Nichtverstehen Johns ganzes Leben akzeptiert und nun müssen wir es auch in seinem Tod akzeptieren lernen.

  2. Antworten
    Cornelia Blaich - 13. Februar 2017

    Wenn ich das lese, geht es mir sehr nahe.Wir haben eine 24jährige Tochter mit Down Syndrom und Autismus. Wie oft sind wir auch am Raten!Wie oft konnten uns die Ärzte nicht weiterhelfen! Sie spricht auch nicht. Wenn ihr was wehtut oder ihr etwas nicht passt, schreit sie schrill oder heult furchtbar. Es gelingt oft noch nicht einmal zu unterscheiden, ob es ein körperlicher oder seelischer Schmerz ist. Und wie soll man es einem Arzt erklären, wenn man selbst so gut wie nichts weiß, und doch genau weiß, dass etwas nicht stimmt? Unsere Tochter entwickelte auch vor ein paar Jahren eine eigenartige Gangart. Es wurde dann eine Beckenverwringung festgestellt. Mittlerweile sitzt sie bei Spaziergängen im Rollstuhl, da sie nach kurzen Strecken außer Atem kam und die Augen verdrehte.Vielleicht war es bei deinem Sohn etwas ähnliches, was dann eben eine relativ „harmlose“Störung gewesen wäre, die mit der anderen Sache nichts zu tun hatte.Vielleicht hilft es dir im Nachhinein, dass du da wohl nichts wesentliches übersehen hast?

    Ich danke dir für deine ausführlichen posts und die wunderschönen Fotos !Ein ganz lieber , sympathischer Junge!Ich wünsche euch bei der ganzen Tragik trotz allem viel Kraft weiterhin.

    Liebe Grüße

    Cornelia

  3. Antworten
    Monika - 16. Februar 2017

    Vielen Dank für den Kommentar. Das Problem mit dem Unterscheiden von körperlichem und seelischem Schmerz hatten wir auch. Ich habe manchmal so nach einer Erklärung gesucht und dann war es am Ende „nur“ ein Milchzahn, der schwer rauskam o.ä. Das ist schwer. Euch alles Gute!

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