durchlässigkeit versus echokammer [problemkind internet].

Wie das eben so geht, über einen Tweet von Mario Sixtus kam ich auf eine vergleichende Analyse der Debattenkultur bei Zeit Online und Sueddeutsche.de, von dort aus zum Artikel Unbegründet: Norbert Bolz’ Angst vor der gesellschaftlichen Fragmentierung bei Carta und von dort an die Quelle, einen Essay von Norbert Bolz in der Süddeutschen.

An Bolz’ Essay interessiert mich genau der Teil, den sich auch Marcel Weiß bei Carta herausgepickt hat, nämlich die Frage nach einer gesellschaftlichen Fragmentierung. Ich finde die Argumentation von Norbert Bolz nicht überzeugend, glaube aber, dass er trotzdem mehr Recht haben könnte, als mir und vielen anderen Netzaffinen lieb ist. Um von den abstrakten und theoretischen Überlegungen zu ‚Konformität versus Diversität‘ und ‚Gemeinschaft versus Fragmentierung‘ zu einem ganz konkreten Beispiel zu kommen, nehme ich mal mein Minderheitenthema Behinderung. Das Positive liegt auf der Hand: im Internet können Menschen mit Behinderungen auf einfachere Weise denn je zuvor ihre Anliegen kommunizieren und potentiell weltweit Resonanz finden. Foren, Weblogs und Communities verschiedenster Behinderungen und chronischer Erkrankungen sind ein lebhaftes Zeugnis des Informationsaustausches, und auch der Überwindung von Einsamkeit und Isolation.

Allerdings bewegt sich die Interessensgruppe tatsächlich in einem eigenen Raum, der kaum jemals von Menschen betreten wird, die nichts mit Behinderungen zu tun haben. Das Argument der Durchlässigkeit, das sicherlich auf ganz, ganz viele Themen zutrifft (gerade Technik, Musik und Wirtschaft, die Marcel Weiß nennt) greift bei ‚wirklichen‘ Minderheiten leider kaum bis gar nicht. Menschen mit Behinderung sind in der virtuellen Welt mindestens genauso randständig wie in der wirklichen, vielleicht sogar noch mehr. Die von Weiß erwähnte Vermischung von Interessen, Gruppen und Nischen findet eben nicht überall statt. Der Vorteil der Verlinkung – dass Einzelpersonen selbst entscheiden, was sie für verbreitenswert halten – bedingt eben auch typische Ausschlussmechanismen von Minderheiten. Weiß sieht keine Gefahr darin, dass Diskurse nicht mehr auf einer Ebene geführt werden, die zu einem gesellschaftlichen Konsens führt; die Gesellschaft zerfalle nicht davon, dass man die FAZ nicht mehr von vorne bis hinten lese. „Warum ist Fragmentierung überhaupt negativ?“, fragt er.

Die Antwort auf Marcel Weiß‘ Frage liegt tatsächlich nicht beim Journalismus und der FAZ von vorne bis hinten. Die Gatekeeper der traditionellen Medien lassen das Thema Behinderung ähnlich wenig durch wie das Internet, da nehmen sich die beiden Opponenten nichts. Die eigentliche Gefahr liegt bei der Politik und Gesellschaft allgemein: bisher waren Minderheiten wie Menschen mit Behinderungen zwar randständig, aber ihre Interessen wurden vertreten und berücksichtigt, eben durch etablierte gesellschaftliche Mechanismen, die bei Bolz vielleicht unglücklicherweise ‚bürgerlich‘ heißen. Es gibt Verbände und Gremien, wichtige Vertreter der Interessen auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen (Behindertenbeauftragte, Wohlfahrtsverbände, Landesbeiräte für Behinderte, Patientenvertreter in Bundesgremien etc.). Den Gremien und Verbänden aber geht der Nachwuchs aus. Da sitzen meist Männer und Frauen im Rentenalter, die nächste Generation kommt nicht mehr nach, unter anderem auch, weil sie ins Internet abgewandert ist. Im Internet aber werden keine Entscheidungen getroffen und das Internet hat keine Mechanismen, die dafür sorgen würden, dass diese Gruppe von Menschen zumindest prozentual gemäß ihres Vorkommens (2009 waren laut neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamts in Deutschland 8,7% der Bevölkerung schwerbehindert) berücksichtigt und inkludiert wird. Die tatsächliche Interessensvertretung wird immer geringer. Es stimmt, was Marcel Weiß schreibt: „Die Verteilung der Diskurse nähert sich den tatsächlichen Interessen der Bürger an.“ Aber genau das ist das Problem: das Thema Behinderung interessiert den Bürger größtenteils überhaupt nicht, und solange man nicht selbst betroffen ist, verdrängt man das Thema am liebsten sowieso.

Während sie früher ein vielleicht abgeschobener, aber immerhin noch durch Institutionen notgedrungen wahrgenommener Randteil der Gesellschaft waren, verschwinden die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen nach der Abwanderung ins Internet endgültig von der Bildfläche einer breiteren Wahrnehmung. Die Angst vor der gesellschaftlichen Fragmentierung ist nicht völlig unbegründet. Das Internet ist am Ende vielleicht leider doch mehr ‚Konformitätspumpe’ als ‚Diversitätsmaschine’, um Ronnie Vuine zu zitieren.

1 thought on “durchlässigkeit versus echokammer [problemkind internet].

  1. Antworten
    Noga - 16. September 2010

    Ganz ähnlich sind meine Beobachtungen was Angehörige von dementiell veränderten Menschen betrifft. In Deutschland gibt es derzeit über 900 000 Demenzkranke. Wenn ich mir anschaue, wo im Internet auf Blogs das Thema Demenz angesprochen wird, schaut das ganz mager aus.

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