Mutter a.D.

Kleine Fundstücke, wie diese Bildkarte von John:

Pause

~

Und ich weiß schon:
Solange meine Seele in mir wohnt,
werd ich das Dunkel dieses Augenblicks
schöpfen und trinken und bluten

(David Grossman: Aus der Zeit fallen)

~

Die gefühlt doppelte Schwerkraft in der Trauer. Man möchte eigentlich nur noch liegen. Draußen wird es immer ungemütlicher, während wir noch immer zu nichts anderem fähig sind, als um John zu trauern. Und es fühlt sich immer noch unwirklich an, dass er nie mehr da sein wird. Ich muss mir wieder und wieder die zwei Wochen unseres Abschieds vergegenwärtigen (was für ein treffendes Wort), um mich an die Wirklichkeit anzudocken. Wie gut, dass wir diesen Abschied hatten. Ich hatte es im März geahnt und es bestätigt sich, wie wichtig das war und ist.

Die Gedanken und Gefühle sind wie mit Helium gefüllte Luftballons, die ziellos unter der Decke schweben. Würde man sie nach draußen lassen, flögen sie auf Nimmerwiedersehen davon, was einer Selbstauflösung gleichkäme. Man kann für den Moment nur froh sein, wenn sie zumindest noch unter der Decke schweben. Und hier und da kann man sie für Momente zusammenfassen und herunterholen in den Raum der Wirklichkeit. In diesen Momenten dringt die Erkenntnis zum Bewusstsein vor, dass John wirklich nie mehr da sein wird. Und die Sehnsucht nach ihm wird so groß, je mehr Zeit vergeht.

Für uns ist die Welt stehen geblieben, wir sind wie in einem Kokon, aber ich sehe natürlich, wie draußen das Leben weitergeht, wie etwa die Engländer die EU verlassen, die Türkei sich von der Demokratie verabschiedet und die Amerikaner sich Trump zum Präsidenten wählen. Ich hätte fast erwartet, dass mir das alles nun egal sein könnte, aber eigentlich ist eher das Gegenteil der Fall. Das alles, wie auch jedes Schicksal, berührt mich.

Früher hätte ich mich bei solchen Nachrichten mit John aufs Sofa gekuschelt und er hätte mir seinen Kopf hingehalten für eine Massage, und danach hätte er mich angestrahlt, wie nur John es konnte. So glücklich zu sein über eine Kopfmassage. Muttergefühle ohne Gegenwart und Zukunft. Alles nur noch Rückschau. Die Momente, die wieder hochkommen, vergessen geglaubt, aber dann eben doch nicht. Die Erinnerung ist einerseits etwas sehr Positives und macht andererseits manchmal auch von Herzen müde, herzmüde.

Das Weiterleben kostet viel Energie, und die will andererseits auch irgendwie äußerlich umgesetzt werden. Gestern habe ich aktenordnerweise Behördenpapiere geschreddert. Etwa dreizehn Jahre von Anträgen, Bewilligungen, Ablehnungen, Widersprüchen. Ich war selbst erschrocken, was für ein administrativ wahnsinniges Leben wir da geführt haben. Aufbewahrt habe ich nur die Behördendokumente, die auch etwas Persönliches hatten, wie zum Beispiel die jährlichen Berichte der Einzelfallhilfe. Die Unmengen an Klein-Klein sind nun weg. Das war nicht John, das waren unsere Hindernisse, und erinnern möchte ich mich nicht daran, sondern an das Gute.

Auf dem Friedhof ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es John kalt sein muss und bin froh, dass wir ihm seine Decke mit in den Sarg gelegt haben. Wie irrational auch wieder. Das spielt natürlich in Wirklichkeit überhaupt keine Rolle. Aber das sind so ins Leere laufende Instinkte. Eine Mutter, die Kälte spürt, zieht ihrem Kind auf dem Weg nach draußen noch schnell eine wärmere Jacke an. Diese Form der Übertragung ist ja auch ein großer Teil des Elternseins, vor allem natürlich in der Zeit, in der ein Kind noch nicht sprechen und seine Bedürfnisse noch nicht ausdrücken kann. Und so war es bei uns in gewisser Weise ja eigentlich immer. Das kann man nicht so einfach abstellen.

Gestern in der U-Bahn trug ein Junge die gleiche blaue Winterjacke, die John vor ein paar Wintern gehabt hat. Selbst mit der U-Bahn zu fahren, ist eine Herausforderung. Wie tief Leere fallen kann. Und ist es jetzt gut oder schlecht, dass sowohl das Wetter als auch die politische Großwetterlage so trefflich mit unserem Inneren korrespondieren? Im Frühjahr hatten wir wenigstens noch den Magnolienbaum.

~

Winter is coming. Wir warten auf die sechste Staffel Game of Thrones auf DVD.

2 thoughts on “Mutter a.D.

  1. Antworten
    Karin - 15. November 2016

    Weiterhin alles Gute, so man das sagen kann.

  2. Antworten
    excellensa - 24. November 2016

    Ich denke oft an ihn und Euch. Weiterhin viel Kraft Euch und Danke für die Lebenszeichen hier.

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