Beginn mit Lorenz Langenegger, von dem ich mir ja eine andere Art Text erhofft hatte als im Roman „Hier im Regen.“ Er liest „Der Mann mit der Uhr“, einen Text, der aber leider die gleichen Probleme aufweist wie „Hier im Regen.“ Muss ich also eigentlich nicht viel dazu schreiben, habe ich hier vor ein paar Tagen schon formuliert. (Bemerkenswerter Satz: „Er raffelte einen Apfel.“ Sagt man das in der Schweiz?)
Die Jury ist erstaunlich verhalten, aber da es so viele neue Mitglieder gibt, muss die Jury sich erst beschnuppern. Neue Mitglieder: Meike Feßmann und Karin Fleischanderl zurückhaltend, Paul Jandl wünscht sich mehr städtische Wirklichkeit und weniger Abdriften ins Putzige, sehr gut. Keller: Beschaulichkeit zwischen Kontemplation und Stagnation, meint das positiv als österreichisches Lokalkolorit.
Danach Philipp Weiss mit einem Text, der mich auch überhaupt nicht überzeugt: „Blätterliebe.“ Der Protagonist ist ein empfindlicher Schriftsteller, der an seiner Arbeit leidet, und deshalb in die Notaufnahme rennt, was könnte schlimmer sein. Inhaltlich völlig uninteressant, aber formal? Viel indirekte Rede. Wiederholungen als Stilmittel, aber nervtötend. Zum Beispiel spricht der Arzt ständig „mit hoher Stimme.“ Nach dem vierten Mal frage ich mich, was das wohl für eine besonders hohe Stimme sein muss, und was mit diesem Arzt los ist. „Spieglein, Spieglein, sagte der Arzt mit hoher Stimme, kicherte und beugte sich zu mir hinunter. Wir müssten nun eine klitzekleine Spiegelung vornehmen, wir müssten mir in aller Kürze ins Innerste blicken, sagte der Arzt und wedelte mit einem Schlauch vor meinem Gesicht.“ Klitzekleine Spiegelung? Wedelt mit dem Schlauch? Weiteres Stilmittel: Gegensätze/ Paarungen. Links-rechts, lieben-hassen, Zwillingsschwestern, schreien-lachen usw. Derweil „nimmt sich der Arzt die Brille von der Nasenspitze.“ Sind wir hier bei der Feuerzangenbowle?
Die Jury ist nun etwas schwungvoller. Ijoma Mangold mit einer hervorragenden Kritik: die durchaus vorhandene Fingerfertigkeit des Autors (z.B. humoristisches Moment) nervt, weil man den Mechanismus (Konjunktiv, indirekte Rede, Wiederholungen) sehr schnell begreift, man fühle sich schnell benutzt. Hildegard Keller scheint es, als habe der Text etwas Metaliterarisches, sei vielleicht ein hinterhältiges Märchen auf den Bachmannpreis.
Statt eines Kommentars dupliziert der Autor in der Wirklichkeit seinen Text, in dem sich am Ende das Papier des Protagonisten im Beutel seines Mageninhaltes fand, und so isst der Autor denn auch seinen Text. Keller hatte vielleicht nicht Unrecht mit dem hinterhältigen Märchen auf den Bachmannpreis, aber dennoch gefällt mir das nicht. Der Autor ist 27, Langenegger 29. Was ist mit dieser Generation, wollen die alle die These der Akzeleration widerlegen?
Karsten Krampitz liest einen Auszug aus der Novelle „Heimgehen.“ Mir gefällt sein Text, DDR-Geschichte, endlich mal was Handfestes, endlich mal Dialoge statt indirekter Rede, endlich mal ernstzunehmende Handlung. Dazu noch Dialekt und alles hervorragend vorgetragen. Ein Lichtblick.
Die Jury ist skeptisch. Sulzer ist nicht überzeugt, Meike Feßmann auch nicht, Jandl kann nicht das Politische erkennen, das ihn interessiert hätte – ein guter Einwand. Fleischanderl empfindet eine deutsche Biederkeit, mit der der Autor hundertprozentig identifiziert sei. Sie hat den Text nicht verstanden. Während Paul Jandl, Meike Feßmann und Hildegard Keller (die allerdings kaum noch Deutsch sprechen kann) gute neue Juroren zu sein scheinen, bin ich bei Karin Fleischanderl sehr skeptisch (sie hatte ja auch Philipp Weiss eingeladen). Alain Claude Sulzer hat den Text nicht nur nicht richtig gelesen (Stasi-Spitzel-Frage hat er verpasst), er hat sich sogar so wenig damit befasst, dass er nicht weiß, dass der Text auf einer wirklichen Person beruht. Wundere mich immer wieder, wie unvorbeiretet unbedarft die Leute (gestern Stadler, heute Sulzer) in den Bewerb gehen. (Satz: „Mein Erzähler war kein Spitzel.“ / Krampitz empört)
Außerdem: ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber ich vermisse nach Moor und Stadler wirklich Ernst A. Grandits. Der war zwar immer ein bisschen schusselig, besonders bei der finalen Abstimmung, aber er hatte so eine angenehme Zurückhaltung, die dieser Moderatorenaufgabe sehr zu Gesicht steht. Mit Clarissa Stadler hat man nun eine Moderatorin, die zu allem eine Meinung hat, inhaltlich viel zu sehr eingreift, da ist sie keine Moderatorin mehr, sondern gebärdet sich als zusätzliches Jurymitglied, besinnt sich dann hier und da auf ihre Aufgabe, korrigiert sich sogar („Wir haben diskutiert … äh … Sie haben diskutiert“). Sie hat Burkhard Spinnen den Juryvorsitz quasi aus der Hand gerissen. Mal sehen, ob das morgen noch genauso ist, oder ob sie ein paar dezente Hinweise erhält.