tddl 2009 [die bücher, erster teil].

Langsam taste ich mich nun zu den Büchern vor, beginne allerdings mit einem Sachbuch. Hat zwar dann eigentlich nichts mit dem Bewerb zu tun, aber das ist ja mit das Schönste an Bachmann: dass alles Mögliche dazugehört, was eigentlich gar nicht dazugehört. Also, Bruno Preisendörfer: „Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleicheit unerwünscht ist.“

Es geht um die Bildungschancen von Kindern aus bildungsfernen Familien. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen hat Bruno Preisendörfer detailliert erforscht, wie Selektionsmechanismen funktionieren und geht möglichen Gründen nach, warum diese Selektion unterschwellig erwünscht war und immer noch ist. Preisendörfer rekurriert auf die Entstehungsgeschichte der einzelnen Schulformen, von der Volksschule über Haupt- und Realschulen bis Gymnasium und Privatschulen. Ein intelligentes, ideenreiches, eloquentes, sehr informiertes und dabei dennoch auch sehr kurzweilig und unterhaltsam geschriebenes Buch.

Zu bemängeln habe ich nur, dass die Perspektive der Bildungschancen von Kindern mit chronischen Erkrankungen und/ oder Behinderungen neben ein paar gewichtlosen Nebensatz-Referenzen kein Gehör findet. Auch unter diesen Kindern gibt es viele, die aus bildungsfernen Familien kommen und deren Bildungschancen dadurch beeinträchtigt sind. Natürlich hätte man dazu ein eigenes Kapitel schreiben müssen, aber die Förderschulen kommen bei aller detaillierten Betrachtung der diversen Schulformen in dem Buch leider nicht vor. Preisendörfer kritisiert, dass viel über multikulturalistische oder geschlechtsspezifische Diskriminierung gesprochen wird, ohne das Anliegen der bildungsfernen Familien dabei mit zu verhandeln. Durch diese Auslassung werde die Ungerechtigkeit strukturell bekräftigt (was sicher stimmt). In seinem Buch macht er aber in gewisser Weise den gleichen Fehler: die Förderschule ist die einzige Schulform, die er aus seiner Betrachtung ausschließt, er lässt die Diskussion der Bildungschancen von chronisch erkrankten und/ oder behinderten Kindern außen vor, und bekräftigt damit selbst strukturell die Ungerechtigkeit, die diesen Kindern widerfährt.

Man sollte nicht so argumentieren, dass die Perspektive dieser Kinder so speziell sei, dass sie in einem eigenen Buch verhandelt werden müsste, denn damit wird das Thema an den Rand gedrängt, in eine Ecke besonderer Bedürfnisse, die nur wenige Menschen interessiert und erreicht. Das Aussortieren in Spezialpublikationen ist eine strukturelle Diskriminierung; Spezialpublikationen gibt es genügend, aber sie erreichen die Menschen nicht, die nicht sowieso schon mit dem Thema befasst sind. Teil der Gesellschaft zu sein würde bedeuten, dass die Interessen gemeinsam mit denen anderer Problematiken mit behandelt werden.

Es gibt ein Zwischenstück über Selektion, das wäre zum Beispiel prädestiniert für das Thema Förderschule. Es gibt in dem Kapitel sogar eine Passage über Genforschung. „Manchmal ist unter den biologistischen Diskursgletschern der allerneuesten Gegenwart der faschistische Unterstrom der Vergangenheit zu hören, und so muss man sich nicht wundern, wenn in der einen oder anderen hippen genetischen Begriffspuppe die Mumie der Lehre von der erblichen Überlegenheit (sei es einer Rasse, sei es einer Klasse) steckt.“ (S. 63) Schade, dass der Autor hier die Einfahrt in das Thema Förderschule verpasst.

Am Ende dann doch noch ein bachmannrelevantes Fundstück. Auf S. 147 schreibt Preisendörfer: „‚Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.‘ Leute mit klassischer Bildung wissen, dass dieses Zitat von dem griechischen Dichter Archilochos stammt. Dass ich das auch weiß, verdanke ich nicht meiner klassischen Bildung, die eher rudimentär ist, sondern dem Segen der Anmerkungen, jenen Rosinen im Text, auf die ich der Lesbarkeit zuliebe in dem meinen verzichte.“ Aha, in dem Sachbuch verzichtet er also bewusst auf Rosinen im Text. Im Videoporträt sagt er, dass „die Rosinchen im Subtext ein zusätzliches Vergnügungsmoment“ sind. Vielleicht der Unterschied zwischen dem Journalisten und dem Literaten? Oder war das ganze Videoporträt ironisch gemeint und wir können in Preisendörfer einen Rebell des Bewerbs erwarten? (Und was hat es auf sich mit seiner besonderen Beziehung zu Rosinen, die überall vorkommen?)

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