inauguration.

Nollendorfplatz in der Kälte

Angeblich sind allerlei Prominente bei der Feier der Democrats Abroad im Goya anwesend, also musste alles noch einmal sicherheitstechnisch überprüft werden, kein Einlass ab 16 Uhr, wie geplant, sondern erst um 16:45 Uhr werden die ersten eingelassen. Die Schlange geht den ganzen Block hinunter und um die Ecke Richtung Winterfeldtplatz. Es werden jeweils 2-3 Menschen hineingelassen, und dann dauert es fünf Minuten, bis die nächsten hineindürfen. Die Schlange bewegt sich also meist gar nicht, und wenn, dann einen Schritt vorwärts. Schlechteste Organisation ever. Alle frieren, und sind nervös, ob sie überhaupt bis 18 Uhr reinkommen. Irgendwann geht ein Amerikaner nach vorne und macht Druck, jemand vom Sicherheits- oder Organisationsteam geht daraufhin die Schlange ab und redet wild in sein Walkie-Talkie, und danach geht es etwas schneller vorwärts. Wir sind irgendwo in der Mitte der Schlange und betreten das Goya um 17:45 Uhr. Sicher sind nicht alle rechtzeitig hineingekommen, denn hinter uns war die Schlange noch lang.

Im Goya

Wir sind gerade pünktlich im Saal zu Obamas Ankunft auf CNN. Im Saal überall Kameras und Reporter, man kommt vor lauter Filmerei nicht zu den Getränken durch. Vor uns diskutieren einige Besucher darüber, wer wo stehen darf, und schubsen sich durch die Gegend um einen guten Sichtplatz. Auf dem Klo spricht eine Frau am Handy und blockiert mir den Weg zurück in den Saal, weil sie die Tür versperrt. Völlig absurd, denn der Raum mit den Waschbecken ist groß und leer, warum blockiert sie ausgerechnet die Tür? Ich sage: „Entschuldigung, darf ich mal vorbei?“ Sie reagiert nicht, ich wiederhole meine Frage etwas lauter, sie dreht sich zwar zu mir um, macht aber immer noch nicht Platz, ich also noch mal lauter, da tritt sie endlich zur Seite, geht zurück zu den Waschbecken und redet weiter ins Telefon. Gerade fünf Minuten drin im Laden, und schon habe ich den Eindruck, dass vielen hier leider der Spirit fehlt.

Diane Feinstein

Die Zeremonie beginnt. Hinter uns steht ein junges, deutsches Pärchen, das die ganze Zeit laut redet. Wir können kaum hören, was Diane Feinstein sagt, hinter uns wundert sich Blondinchen: „Wer ist die denn überhaupt?“ Das Paar interessiert sich anscheinend nur sehr am Rande für den Inhalt der Veranstaltung und redet und redet. Leider ist es wie bei Konzerten: es ist doch ziemlich wichtig, in wessen Nähe man zufällig steht. Ich frage mich wieder, was hier eigentlich los ist, man musste doch weit vorher reservieren, das lief alles über die Democrats Abroad, was machen all die Leute hier, die so offensichtlich keine Affinität zu dem Ganzen haben?

Das Gebet

Der evangelikale Ultrapastor Rick Warren nervt im Goya alle, die ihn kennen (so muss man das angesichts des Pärchens hinter uns ja formulieren). Als er fertig ist, ruft einer laut in den Saal: „Go to hell!“ und viele applaudieren.

Aretha Franklin

Blondinchen hinter mir fragt schon wieder: „Wer ist die eigentlich?“ Und: „Was hat die denn für einen Hut auf?“ Die zweite Frage entbehrt wenigstens nicht einiger Berechtigung.

Joe Bidens Vereidigung

Aus unerfindlichen Gründen müssen sich viele Menschen im Goya auch während der Zeremonie ständig bewegen, sich zwischen den dichtgepackten Besuchern hin- und herquetschen. Was grundsätzlich nicht so toll ist, wird uns nun zum Segen: durch allerlei Schiebereien in unserer Ecke wird das Pärchen außer Hörweite geschoben und dafür stehen wir nun neben zwei schwarzen Amerikanerinnen, die das Geschehen angenehm aufmerksam mitverfolgen. Prima.

Obamas Vereidigung und Rede

Die Rede hört sich, ehrlich gesagt, so ähnlich an wie viele Reden vorher, ähnlich die zyklischen Sätze, allerdings mit etwas weniger Pathos, was ganz angenehm ist. Er spricht wie immer gut, souverän, aber nicht arrogant. Diese Balance kann er sehr gut halten. Man stelle sich mal vor, McCain hätte da jetzt gestanden. Wie ein Leitfaden zieht sich die Botschaft des Ärmel-Aufkrempelns durch den Text: dass die Rhetorik so dezidiert auf Arbeit einschwört, verwundert vielleicht am meisten. Als ich mich einmal umdrehe, sehe ich Blondinchen wieder mit ihrem Freund quatschen, aber zum Glück ist sie weit genug weg. Am Ende der Rede großer Applaus im Saal, Blondinchen kann man nun im ganzen Saal johlen hören, was umso erstaunlicher ist, als sie die Rede anscheinend doch kaum verfolgt hatte. Auch solche Obama-Fans gibt es, vielleicht ist es ganz gut, das nicht zu vergessen.

Die Hymne

Die Amerikaner um uns herum singen mit, allerdings nicht laut und aufdringlich, wie es mich in den Stadien manchmal beim Baseball/ Football/ Basketball stört, sondern leise, besinnlich, fast nachdenklich. Die beiden schwarzen Amerikanerinnen neben uns singen unglaublich schön und – man kann es vielleicht am besten so umschreiben – voller Genuss. Sweet victory.

Das Gedicht

Schwierige Aufgabe, und herausgekommen ist ein ziemlich schwaches Gedicht, finde ich. Nicht katastrophal, das nicht, aber eben auch nicht toll. Einige finden es zu prosaisch, aber das stört mich gar nicht. Eigentlich mag ich diese Snapshots von Alltagssituationen, und finde das vor dem Hintergrund des Nicht-Alltags der Vereidigungssituation auch interessant, es erinnert mich ein kleines bisschen an Frank O’Hara, aber eben nur ein kleines bisschen, so gut wie O’Hara ist es bei weitem nicht.

Das Ende

Die Medienmeute lässt dem Publikum im Goya kaum Zeit, das Ende der Zeremonie zu erleben: schon schieben sich die Kameras durch die Menge, Reporter halten jedem ein Mikro vor die Nase: „Wie hat Ihnen Obamas Rede gefallen?“, „Was empfinden Sie nach dieser Vereidigung?“, „Was bedeutet Ihnen der heutige Tag?“ Schnell weg.

Das Fazit

Vielleicht ist es wie beim Fußball: man hätte genausogut (oder vielleicht sogar besser?) Zuhause bleiben und das Ganze im Fernsehen verfolgen können.

krisen im autismus.

„Es ist mir wichtig, dass die Arbeit mit Menschen mit autistischen Verhaltensweisen mehr ist als nur eine empathische Annäherung. Insofern brauchen wir mehr Verstehen, als nur Empathie. Empathie ist notwendig, Intuition ist notwendig. Es reicht aber für wirkliches Verstehen von Fremdheit nicht aus. Für wirkliche Fremdheit muss ich aus mir selbst und über mich hinauswachsen. Das kann ich nur mit Begriffen, mit Theorien, die von mir distanziert sind, die mich reflektieren.“ [#]

(Ich kann kaum beschreiben, wie sehr mir dieser Aufsatz dabei geholfen hat, zu verstehen, einzuordnen, meinem Kind durch die Krise zu helfen. Was haben die Menschen bloß vor dem Internet getan? Wie kamen sie an so wichtige Anregungen und Erkenntnisse? Danke Internet, und danke Prof. Rödler.)

der arbeitgeber.

Gestern kleiner Stand-off in der Badewanne, die der Kandidat auch nach einer halben Stunde baden immer noch nicht verlassen wollte. Ich erklärte ihm, dass das Baden nun beendet sei und ließ das Wasser aus. Der Kandidat machte allerdings keinerlei Anstalten, aus der Wanne zu klettern. Ich versuchte, ihm zu assistieren, konnte den nassen Aal allerdings nicht bewegen. So blieb er also in der leeren Wanne liegen. Um ihn herauszuheben, ist er schon zu schwer; ohne seine Kooperation geht nichts mehr, und wenn man die nicht bekommt, heißt die Devise: Warten. So hielt ich den Hebel des Wasserhahns verschlossen, und John versuchte, das Wasser wieder anzustellen, es gelang ihm aber nicht, mich zu überlisten. Ich erklärte wiederholt, dass eine halbe Stunde in der Wanne genug sei, dass seine Haut schon ganz schrumpelig und rot sei und dass er nun wirklich herauskommen müsste.

Letztlich eine wunderbar normale Situation, wie mit einem trotzenden Zweijährigen. Wir haben eine weitere halbe Stunde so verbracht: ich hielt den Hebel zu, und er versuchte, ihn zu öffnen. Ich war entschlossen, diese Grenze geduldig, aber bestimmt zu setzen, und tatsächlich stand er nach einer halben Stunde plötzlich auf, als sei nichts gewesen, kam über den Rand geklettert und griff nach seiner Zahnbürste, mit erwartungsvollem Blick Richtung Zahnpasta, als wolle er sagen: „Nach dem Baden Zähneputzen, right? Dann gib mir aber gefälligst auch die Zahnpasta und hilf mir schon endlich dabei.“ Er war bestens gelaunt, und was mich am allermeisten gefreut hat: dass er diese Situation überwunden hat, ohne auch nur ansatzweise aggressiv zu werden. Noch vor zwei Wochen hätte er bedingungslos gebissen, gekratzt und geschlagen, um seinen Willen durchzusetzen. Vielleicht ist er mit seinen acht Jahren nun wirklich in der Trotzphase angekommen, vielleicht ist das sein Entwicklungsstand, der bei einem kräftigen, nicht-sprechenden Achtjährigen einfach ungleich schwerer zu handhaben ist als bei einem neurotypischen Zweijährigen. Aber langsam kommt er aus der Krise heraus, jeden Tag geht es ein bisschen besser. Toi, toi, toi.

Er hätte es sicher leichter, wenn er sprechen könnte (wir nennen ihn übrigens „das nicht-sprechende zweisprachige Kind“, denn da wir Zuhause zu viel Englisch sprechen, versteht er das mittlerweile fast so gut wie Deutsch, außerdem war Englisch die ersten beiden Lebensjahre ja sowieso seine Muttersprache, das merkt man doch auch). Könnte er sprechen, müsste er Auseinandersetzungen nicht ausschließlich körperlich austragen. Manchmal fehlt einem die Sprache doch. Aber daran arbeiten die Therapeuten, und da fällt mir ein, was ich gestern gedacht habe: John ist ein hervorragender Arbeitgeber. Er beschäftigt seinen persönlichen Bodyguard im Schulbus, er beschäftigt einen Vollzeit-Helfer in der Schule, neben dem herkömmlichen Lehrpersonal, er beschäftigt zwei Einzelfallhelfer und mehrere Therapeuten (Ergo, Logo und unterstützte Kommunikation), und wo uns jetzt die „zusätzlichen Betreuungsleistungen“ der Pflegereform bewilligt wurden, wird er auch noch für 200 Euro im Monat eine zusätzliche Betreuungskraft beschäftigen. Welcher Achtjährige ist schon so ein umfangreicher Arbeitgeber? Der Kandidat als Arbeitgeber schnürt [wie man so sagt] sein eigenes Konjunkturpaket.

kein mitleid.

Jerry Lewis soll bei den Academy Awards dieses Jahr den Jean Hersholt Humanitarian Award bekommen, eine Auszeichnung für seine langjährige Tätigkeit als Moderator einer Spendengala in den USA. Beim „Telethon“ wird ähnlich verfahren wie etwa bei der Gala „Ein Herz für Kinder“ hier in Deutschland. Erst im Dezember präsentierte Thomas Gottschalk dort vor Mitleid triefende Beiträge, unterlegt mit kitschiger Musik, die ganze Gala voll auf die Tränendrüse gedrückt, um den Griff zum Geldbeutel zu erleichtern: das schlimme, schlimme Schicksal all dieser armen kranken und behinderten Kinder. Ich wollte mir das ansehen, um herauszubekommen, wie schlimm diese Veranstaltungen tatsächlich sind, konnte es allerdings nur 20 Minuten aushalten, dann hätte ich vor Wut am liebsten den Fernseher erschossen (wie Elvis; ich muss dann immer an den sehr lustigen Film „Elvis meets Nixon“ denken). „Ragged Edge“ hat eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Jerry Lewis und dem Telethon, wie alles immer auf Mitleid zielt anstatt auf Respekt. Die Behindertenbewegung in den USA ist in Aufruhr und sammelt Unterschriften gegen die Verleihung des Preises an Lewis: Petition online. Sollte es in Deutschland irgendwann einmal ähnliche Erwägungen geben, beispielsweise Thomas Gottschalk als Moderator von „Ein Herz für Kinder“ auszuzeichnen – ich hoffe, wir würden hier auch so eine Unterschriftenaktion auf die Beine stellen.

gelesen 2008.

26. Denis Johnson: Ein gerader Rauch
25. Sven Regener: Der kleine Bruder
24. Iris Hanika: Treffen sich zwei
23. Michael Fitzpatrick: Defeating autism. A damaging delusion
22. Roy Richard Grinker: Unstrange minds. Remapping the world of autism
21. Robert Parish: Embracing autism
20. Bov Bjerg: Deadline
19. Susanne Schirdewahn: Schlafende Hunde
18. Elias Canetti: Das Gewissen der Worte
17. Elias Canetti: Die Fackel im Ohr
16. Elias Canetti: Die gerettete Zunge
15. Richard Powers: The echo maker
14. Paul Eluard: Liebesbriefe an Gala
13. Sherwin B. Nuland: How we die
12. Branka Schaller-Fornoff: Novelle und Erregung
11. Michael Kleeberg: Barfuß
10. Nick Hornby: A long way down
9. Siri Hustvedt: Die Leiden eines Amerikaners
8. Hervé Guibert: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat
7. Peter Handke: Versuch über die Müdigkeit
6. Miranda July: Zehn Wahrheiten
5. David Albahari: Die Ohrfeige
4. Jochen Schmidt: Meine wichtigsten Körperfunktionen
3. Ilija Trojanow: Der Weltensammler
2. Julio Cortázar: Autonauts of the cosmoroute
1. Detlev Kuhlbrodt: Morgens leicht, später laut

(Wie immer bedeuten die Zahlen keine Rangfolge, sondern einfach nur eine chronologische Sequenz. Ich versuche auf diese Weise, es mir leichter zu machen, diese Liste zu führen: indem ich nur oben ein ausgelesenes Buch einsetzen muss. Leider gelingt mir selbst das meistens nicht, ich vergesse die Liste hier und da, und versuche dann später, das inzwischen Gelesene zu rekonstruieren. Jedes Jahr natürlich der Vorsatz, im neuen Jahr etwas gewissenhafter mit der Liste umzugehen. Dieses Jahr könnte ich damit anfangen, zu jedem Buch gleich ein paar Sätze zu schreiben, so eine Auflistung alleine bringt ja nichts, man muss auch die Eindrücke festhalten, denn von einigen Büchern 2005 weiß ich zum Beispiel kaum noch, wie ich sie fand. Eigentlich möchte ich auch viel zu den Büchern auf dieser Liste sagen, aber das sind mir dann doch zu viele auf einen Schlag – besser, man macht das in Zukunft eins nach dem anderen. Sagen möchte ich nur, dass mich Bovs Buch gefreut hat, und dass mich Iris Hanikas Buch geärgert hat, aus ziemlich genau den Gründen, die Isa letztes Jahr bei der „Mittagsfrau“ verärgert haben. Ich werde nie verstehen, wie sowas sogar auf die Shortlist des Buchpreises kommen kann, es ist genau wie bei Julia Franck.)

[2005 \ 2006 \ 2007]

how the city hurts your brain.

While it’s long been known that human attention is a scarce resource — focusing in the morning makes it harder to focus in the afternoon — Kaplan hypothesized that immersion in nature might have a restorative effect. [#]

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