killing time.

Die kaputte Schranktür in der Küche neu befestigt (ein Opfer des beliebten Spiels Türenschlagen). Einen Haken außen an der Schlafzimmertür, wo auch der Schreibtisch steht, angebracht, damit wichtige Dokumente, beispielsweise für das Finanzamt, nicht mehr dem ebenfalls beliebten Spiel Blätterzerfetzen zum Opfer fallen. Das Auto gewaschen, gesaugt und geputzt (war das seit Monaten nötig). Endlich die neue Sonnenblende am Beifahrersitz angebracht, die seit ewigen Zeiten in einem Karton unter dem Schreibtisch stand (die alte Sonnenblende ein weiteres Opfer von Johns Kraft). Die Fahrräder geölt und beim einen Fahrrad endlich die kaputte Gangschaltung repariert (jedes Mal die Kastanienallee rauf dran gedacht und es fünf Minuten später wieder verdrängt). Das Kinderbücher-Regal wieder anmontiert, das John in seinem Zimmer aus der Wand gerissen hatte (hochgeklettert, draufgesetzt). Staub geputzt. K. endlich die versprochenen CD’s gebrannt, eingetütet und zum Briefkasten gebracht. Bücher zur Stadtbibliothek zurückgebracht. DVD zur Filmgalerie 451 zurückgebracht. Um den Lietzensee gelaufen (da war ich seit elf Jahren nicht mehr). Ein neues Bügelbrett gekauft (das alte hatte John so effektiv umgeworfen, dass es auseinanderfiel). Wieder Zuhause eine Ladung Wäsche eingesteckt. Eine Kartoffel-Zucchini-Pfanne gekocht. Langsam fällt mir nichts mehr ein, denn die beiden fehlenden Fensterscheiben in der Küchentür lassen sich jetzt nicht mehr in Angriff nehmen, dafür müsste ich nochmal zu (wie wo was weiß) Obi. Das alles also, um die Zeit bis 20:45 Uhr rumzukriegen: würde Deutschland häufiger entscheidende Spiele austragen, mein Leben wäre dermaßen in Ordnung. Sollte es ins Viertelfinale gehen, werden zuerst endlich neue Scheiben in die Küchentür eingesetzt, und dann fange ich an Brot zu backen. Jetzt ziehe ich John erstmal sein Trikot an.

Man lebt nur einmal – probiers aus!

Letzten Montag holte ich die für mich letzte Reisegruppe vor der Sommerpause vom Flughafen ab. Zwei Frauen hatten in Frankfurt einfach beschlossen, einen späteren Flug nach Berlin zu nehmen. Ich überlegte, ob ich überhaupt noch für ihren Transfer zum Hotel verantwortlich war, entschloss mich dann aber, nett zu sein und extra noch einmal nach Tegel rauszufahren. Für die beiden Frauen schien es eine absolute Selbstverständlichkeit zu sein, dass sie trotzdem noch abgeholt werden, jedenfalls sagten sie nichts, das anderes hätte vermuten lassen, und zeigten sich auch keineswegs übermäßig dankbar. Schon hatte ich ein schlechtes Gefühl, was diese letzte Gruppe betrifft: letzte Gruppen sind immer gefährlich.

Dienstag gingen wir im „Zwölf Apostel“ in der Georgenstraße essen und ich lernte den Rest der Gruppe kennen. Die älteren Frauen neben mir redeten leidenschaftlich und ausführlich darüber, dass die Berliner ja so schlecht angezogen seien, und dass in New York die Mütter ihre Kinder erstens viel zu lange in Buggys herumschieben, und ihnen zweitens viel zu lange erlauben, Schnuller zu haben. Das schlechte Gefühl wuchs.

Donnerstagmorgen ging ich mit der Gruppe zunächst in den Weddinger Sprengelkiez, es ging um soziale Stadtplanung, wir sprachen mit der Leiterin des SprengelHauses, die Leute waren sehr interessiert, so weit lief dann ja doch alles gut. Anschließend fuhren wir mit Taxen nach Charlottenburg, zum Savoy Hotel in die Fasanenstraße. Erst Wedding, dann Lunch im Savoy. Nunja. Bei der nachmittäglichen Führung „Hinter den Kulissen“ der Deutschen Oper sahen wir schonmal das Bühnenbild der gestrigen Premiere des Fliegenden Holländer. Die Dramaturgin erklärte der Gruppe die Opernlandschaft von Berlin, natürlich nicht ohne zu betonen, dass Berlin unbedingt drei Opernhäuser braucht. Später aßen wir im Diekmann’s am Potsdamer Platz zu Abend, und spazierten dann hinüber ins Kulturforum, wo sich bis 22 Uhr eine Führung durch die Gemäldegalerie anschloss. Caravaggio, Canaletto, Rubens, Vermeer, Cranach. Ich habe dort schon mehrfach Führungen mitgemacht und wanderte darum ein bisschen abseits, zu Bildern, die ich noch nicht genau angesehen habe. So entdeckte ich ein Gemälde von Hendrick ter Brugghen aus dem frühen 17. Jahrhundert, das einen musizierenden Jungen zeigt, dessen Mimik und Gestik sehr autistisch aussehen. Ich fragte mich, ob Hendrick ter Brugghen wohl tatsächlich einen autistischen Jungen gemalt hat, oder ob ich einfach unter Verfolgungswahn leide.

Freitagmorgen: Führung durch das Holocaust-Mahnmal und den darunterliegenden „Ort der Information.“ Die Führungen werden über die Stiftung organisiert und sind eigentlich immer sehr gut. Der Ausnahme zu dieser Regel begegneten wir leider an diesem Morgen: der junge Mann sprach nur schlecht Englisch, holperte darum in weitschweifenden, nach Worten suchenden Sätzen durch die Entstehungsgeschichte, sagte fast nichts zu Eisenman „weil er selbst Historiker sei und kein Architekt“, und ließ Degussa und die Diskussionen darüber, ob man den ermordeten Juden alleine, oder aber auch getöteten Homosexuellen, Behinderten und Sinti/Roma gedenken wolle, gleich ganz aus. Viele Fragen der Gruppe konnte er nicht beantworten, alles in allem war die Führung wirklich schlecht, und ich hatte mit dem Nachtragen anschließend meine liebe Mühe.

Abends gingen wir dann ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt, gespielt wurden Mussorgsky, Chatschaturjan und Rimski-Korsakow. Zuvor hatte die Gruppe über Hillary Clinton und Barack Obama diskutiert, war irgendwie auf das Gesundheitssystem zu sprechen gekommen, und ein Mann hatte gesagt, dass Eltern von behinderten Kindern viel zu viel für ihre Kinder wollen, es sei doch wirklich nicht wichtig, ob man deren IQ von 60 auf 65 bringt, wenn man dafür 30.000 Dollar im Jahr in ihre Erziehung stecken muss. Eine Frau hatte ihm entrüstet beigepflichtet: „And then normal children’s music lessons have to reduced, because there’s not enough money for that anymore!“ Sie hatten natürlich keine Ahnung von meiner Situation, innerlich kochte ich, Mussorgskys „Nacht auf dem Kahlen Berge“ brachte mich dann aber ganz gut wieder runter. Auf der Rückseite der Eintrittskarte für das Konzerthaus übrigens: Werbung für Gazprom.

Samstagmorgen traf ich wieder pünktlich im Hotel ein, drei der Reisenden saßen schon zeitungslesend in der Lobby. Ich schritt auf sie zu und begrüßte sie mit einem fröhlichen: „Good morning!“, worauf ich keine Reaktion erhielt. Alle drei lasen einfach weiter, und fingen dann nach eigenem Gusto irgendwann plötzlich an, mit mir zu sprechen. Die Service-Mentalität, dass sie für ihre Reise bezahlt haben, und man ihnen zur Verfügung stehen soll, und andererseits aber keine gegenseitige Höflichkeit erwarten darf, ist so typisch für reiche Leute, vor allem auch für reiche Amerikaner: da kann man am frühen Morgen schon mal einen kleinen Klassenhass kultivieren.

Samstagmorgen also. Führung durch die Sammlung Hoffman in den Sophie-Gips-Höfen, eine kleine Rache, denn mir ist schon vorher klar, dass ihnen diese zeitgenössische Kunst niemals gefallen wird. Zum Beispiel ist dort Zuzanna Janin aus Polen ausgestellt, die 2003 ihre eigene Beerdigung besuchte; die Leute dachten wirklich, sie sei tot, „I’ve seen my own death“, ich meine, ich wusste doch, dass diese Gruppe entsetzt sein wird. Zum Glück für das Reiseprogramm war der Maler, der die Führung durch die Sammlung machte, allerdings sehr gut, sie verziehen ihm manche Installation.

Sonntagmorgen, Pergamon-Museum. Am Ishtar-Tor prügeln sich die Besucher fast darum, an die Absperrung treten und das Tor ansehen zu können. Als wir den Platz freimachen, drängt sich eine deutsche Touristin vor eine andere, die laut zurückkeift: „Haa-llo! Ich habe auch bezahlt!“ Am Anfang der Saison findet man sowas noch lustig.

Es ist gar nicht unanstrengend, die amerikanischen Gruppen zu betreuen, die viel Geld für diese Reisen zahlen. Für das viele Geld wollen sie viel sehen, erfahren und wissen. Läuft man über die Weidendammbrücke, erzählt man ihnen, dass sich hier Theodor Fontane verlobt hat. Man zeigt, erklärt, erzählt ständig irgendetwas, und sei es nur, dass man auf eine Frage antwortet, dass der Baum da eine Kastanie ist. Wie kleine Kinder fragen und fragen sie den ganzen Tag, und da diese Leute meist recht gebildet sind, fragen sie häufiger nach Fontane als nach einer Kastanie. Sie saugen sämtliches Wissen aus einem heraus, und brauchen andererseits bei allem Hilfe. Am Ende des Tages ist man ganz ausgelaugt, leer.

Mal ganz zu schweigen von den ihnen eigenen Spleens, wie zum Beispiel, dass sie nie ihre Taschen an der Garderobe abgeben wollen. Jeden Tag geht man in irgendwelche Museen oder Konzerte, und da darf man nunmal keine Rucksäcke und großen Taschen mit hineinnehmen, das ist doch verständlich. Aber jeden Tag – und täglich grüßt das Murmeltier – diskutieren sie wieder mit dem jeweiligen Führer darüber, ob ihre Tasche nicht vielleicht doch klein genug ist, dass sie sie noch mit hinein nehmen dürfen. Dabei ist die Garderobe sogar kostenlos, ich werde nie verstehen, warum es so schwer ist, seine Tasche dort abzugeben, man kann doch sein Portemonnaie herausnehmen, und gut ist es. Eine Frau bettelte den Mann im Pergamon-Museum an: „You know, when you’re traveling, you get so attached to your bag.“ Hä? Gut, dass Sommerpause ist. Sehr gut.

Ach ja, weswegen ich dieses Posting „Man lebt nur einmal – probiers aus!“ genannt habe: ich bekomme ständig E-Mail-Spam mit dieser Betreffzeile und denke jedes Mal: „Tue ich doch, ich lebe doch, quasi automatisch, das brauche ich doch nicht extra auszuprobieren, das mache ich jeden Tag, oder was denkst Du, was ich hier gerade tue?“ Das ist doch wirklich der blödeste Spam aller Zeiten. (Oder vielleicht denke ich das nur, weil ich gerade eine Woche lang die blödeste Reisegruppe aller Zeiten begleitet habe.)

Wunderbarer Text zu „Lost“, den aber wohl wirklich nur Lost-Fans genießen können: „The opening act from the original unused teleplay of Lost’s pilot episode.“ Herrlich.
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Nach dem Treffen unserer Elterngruppe gestern Abend musste ich natürlich zwangsläufig wieder „Germany’s next top model“ einschalten. Ich kam erst nach zehn Uhr nach Hause, und schaltete gerade ein, als Christina vor der Jury stand und bewertet wurde. „Am Anfang warst Du ein Reh, ein Hase, ein Kätzchen“, sagt Heidi Klum gerade. „Aber Du hast Dich toll entwickelt, und jetzt sehen wir Dich an und sehen Christina. Du bist Christina! Das ist eine große Leistung, und darauf kannst Du stolz sein.“ Ich fasse es nicht, ich habe nur ein paar Sekunden eingeschaltet und bin schon wieder völlig überrollt. Diese Reihe von Tiervergleichen, absurd, und im Laufe der Show hat sie sich dann zu einem Menschen entwickelt, der sogar einen Namen verdient und jetzt erst, quasi plötzlich, eine Identität hat? Erst als sich die Jury die junge Frau nach eigenen Vorstellungen zurechtgebogen hat, erkennt sie Christina als Christina, und darauf soll Christina dann stolz sein. Irgendwie gehen hier so viele Ebenen durcheinander. Natürlich ist die Angesprochene über dieses Lob, nun endlich eine Identität zu haben, dann tatsächlich so gerührt, dass sie weinen muss. Die ewige Suche nach Anerkennung, deren Durst hier so aufs Äußerste gestillt wird. Sei’s drum, dass es nur durch verquere, fast scientologisch anmutende Praktiken geschieht.
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Soll es einen bei diesen ganzen Bewertungs- und Beurteilungsshows noch wundern, wenn die Jury nun bald alle Lebensbereiche durchdringt? In den USA hat eine Lehrerin die Klasse über einen autistischen Schüler entscheiden lassen. Sie hat die anderen Kinder gefragt, ob er nach einem „Fehlverhalten“ die Klasse verlassen soll. Die Kinderjury stimmte mit 14:2 gegen den autistischen Jungen und warf ihn hinaus. Ausgeschieden. Schalten Sie nächste Woche wieder ein um zu sehen, wer dann nicht mehr mithalten kann. („Alex Barton, 5, was instructed by his teacher to stand in front of the class and listen as other students described what they disliked about him, according to a police report.“ Klingt das etwa nicht nach GNT?)
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Interview mit der Mutter von Alex.
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Die New York Times hat eine Karte, die Krankheiten den Genen zuordnet, die sie gemeinsam haben: Mapping the Human „Diseasome“
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A set of Japanese interchange photos
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Wie man auf die Idee kommt, mit Flipflops Fahrrad zu fahren. Heute ist mir zum dritten Mal beinahe ein Radfahrer vors Auto gefallen, weil er mit seinen Flipflops fast das Gleichgewicht auf dem Fahrrad verloren hat. Fahrradfahren ist Bewegung, sogar recht schnelle Bewegung, Koordination, Balance, und damit von Natur aus unverträglich mit Flipflops, deren Träger vielleicht unfreiwillig, aber dennoch zwangsläufig, mit ihrem Schuhwerk eine lässige Gemütlichkeit signalisieren. Man muss schon beim Gehen ständig aufpassen, dass einem die Flipflops nicht wegrutschen, da kann man nicht schnell vorwärts kommen, Flipflops sagen: „Hey, ich hab’s nicht eilig.“ Fahrradfahren erfordert neben schmalen Pedalen, die sich schon nicht mit Flipflops vertragen, zusätzliche Balance und das harmoniert nun einmal nicht, jedenfalls habe ich noch niemanden erlebt, der diese Mischung gemeistert hätte, stattdessen strampeln sich flipfloptragende Fahrradfahrer umständlich, die Schuhe an den Pedalen verhakend, sie dabei fast verlierend, und darum schlingernd durch Berlin.
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Heute später, wenn das Kind schläft, Paul Grahams Text „Cities and ambition“ evtl. mal gegenlesen mit Simmels „Die Großstädte und das Geistesleben.“

Der Tischler nennt der Kollegin seinen Stundenpreis von 35 Euro, und sie sagt erfreut: „Oh, das geht ja noch, wenn wir Glück haben, verdienen wir das ja sogar manchmal auch.“ Darauf der Tischler sehr verstört: „Aber Sie sind doch alle studierte Leute, da in der Bürogemeinschaft, Sie müssten doch mehr verdienen als ich.“ Nunja.

Welcome Meeting einer neuen Reisegruppe pensionierter Amerikaner, 31 Leutchen, die sich noch nicht kennen und gerade erste Kontakte knüpfen. Geht eine Oma auf einen Opa zu und fragt: „So, what did you do to make life exciting?“

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