Von En Bokek fuhren wir in Richtung Norden am Toten Meer entlang über die Grüne Linie hinweg bis hoch nach Qumran. Mir war immer noch nicht so richtig klar, wohin man mit einem israelischen Mietwagen fahren durfte und wohin nicht, aber mein Cousin hatte uns erklärt, dass die Strecke über Qumran nach Jerusalem ausschließlich durch von Israel kontrollierte Gebiete führe und somit für den Mietwagen okay sei. So besichtigten wir die Ausgrabungsstätte mit den Felshöhlen, in denen einst die Qumran-Schriftrollen gefunden worden waren.
Von dort ging es weiter nach Jerusalem, wo wir den Mietwagen zurückgaben. Bevor es nun aber um Jerusalem geht: Palästina.
Eine ehemalige Babysitterin von John arbeitet seit sechs Jahren an der deutschen Schule in Beit Jala (auch geschrieben: Bayt Jala oder Bait Dschala, ich sage nur: Wolvs’burq-Syndrom). Jedenfalls hatte sie uns eingeladen zu kommen. Wir sollten in Jerusalem zum Damaskustor laufen und dort in den arabischen Bus nach Bethlehem steigen. Es gebe keine richtigen Bushaltestellen, wir sollten dem Fahrer einfach den Namen der Schule nennen, Talitha Kumi, denn der Bus fahre direkt daran vorbei und der Fahrer würde uns dann vor der Schule absetzen.
Am Damaskustor fanden wir problemlos den Bus nach Bethlehem. Der Fahrer sprach zwar kein Englisch, verstand aber den Namen der Schule. Der Bus verließ Jerusalem und zum ersten Mal durchfuhren wir einen richtigen Checkpoint. Auf der anderen Seite befanden wir uns allerdings immer noch in einem von Israel kontrollierten Gebiet, der sogenannten C-Zone. Hier sollte sich auch die Schule befinden. Wir fuhren weiter und plötzlich informierte uns ein großes, rotes Schild am Straßenrand darüber, dass wir nun das von der palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierte Gebiet erreicht hatten. Israelischen Staatsbürgern sei der Zutritt verboten. Der Bus fuhr einfach daran vorbei und hinein in die sogenannte A-Zone. Die Schule sollte aber doch in der C-Zone sein? Wir mussten zu weit gefahren sein. Innerhalb der A-Zone hielt der Busfahrer endlich an und winkte uns zu, dass wir aussteigen sollten. Er deutete auf die Straße und zurück, und wir verstanden, dass wir wohl zurücklaufen sollten. Was war passiert? Hatte er uns vergessen?
Uns blieb nichts übrig als auszusteigen und in die Richtung zurückzugehen, aus der der Bus gekommen war. Dass wir nun ahnungslos und ohne jede Karte alleine durch die A-Zone liefen, hatten wir so natürlich nicht geplant. Wir hatten kein Gefühl dafür, wie sicher oder unsicher das sein mochte. Wir gingen einfach los, zurück in die C-Zone und kamen irgendwann an eine Kreuzung, die wir aus der Busperspektive wiedererkannten. Hier waren wir von links gekommen. Wir bogen ab und folgten weiter dem Busweg, aber es war noch immer keine Schule in Sicht.
Konnte es wirklich so weit zu gehen sein? Wir waren gerade an einem vage offiziell aussehenden Gebäude vorbei gekommen. Wie hinderlich immer wieder, dass wir die Schrift nicht lesen konnten. Vor dem Gebäude hatten aber ein paar Frauen in Berufskleidung gestanden und geraucht. Sie sahen nach Sprechstundenhilfen oder Krankenschwestern aus. Vielleicht war das eine Praxis oder Klinik? Wir gingen lieber dorthin zurück, um nach dem Weg zur Schule zu fragen. Das Gebäude stellte sich als Zahnklinik heraus, eine Frau sprach zum Glück Englisch und sie erklärte uns, dass die Schule gar nicht weit entfernt lag, tatsächlich direkt an dieser Straße.
So standen wir schließlich vor dem großen Tor der Schule und wurden hineingelassen, als wir den Namen von Johns ehemaliger Babysitterin nannten. Hinter dem Tor erstreckte sich ein großer, weitläufiger Campus. Wir erfuhren, dass dies mit über 1.000 Schülern die größte Schule Palästinas ist. Und dass den arabischen Bussen von der israelischen Behörde gerade verboten worden war, an der Schule zu halten. Deshalb also waren wir in die A-Zone gefahren. Das hatte Johns ehemalige Babysitterin noch gar nicht gewusst, weil sie mit dem Auto zur Schule kam.
Die Schule beeindruckte uns sehr, wobei der Trubel vielleicht auch nicht repräsentativ war. Wir kamen zufällig gerade am Tag des Bodens, der in Palästina groß gefeiert wird.
Später fuhren wir gemeinsam mit dem Auto in die Berge von Beit Jala. Johns ehemalige Babysitterin wollte uns den Biobauernhof Hosh Jasmin zeigen, den ein palästinensischer Künstler und Filmemacher dort nach einem Vorbild aus Portland betreibt. Wir tranken palästinensischen Wein und aßen Hummus, Taboulé und Oliven. Das Olivenöl aus eigener Produktion schmeckte unglaublich gut. Zwischendurch kam auch mal ein Schaf vorbei. Der Ausblick auf die Berge war toll, aber auch wieder sofort mit einer Ernüchterung verknüpft, denn neben den Olivenhainen blickte man in der Ferne auch auf die riesige Mauer an der Grenze zu Israel.
Ich weiß gar nicht, wie lange wir im Hosh Jasmin geblieben sind, es war so gemütlich und schön dort, wir bestellten immer mal was Neues und sprachen ausführlich über John. Gemeinsame Erinnerungen aus den frühen Jahren, als John drei, vier Jahre alt war – und das an diesem angenehm alternativen, fast ein bisschen magischen Ort.
Gegen Abend brachte uns Johns ehemalige Babysitterin zurück an den Übergang zwischen C-Zone und A-Zone. Unterwegs zeigte sie uns die unterschiedlichen Autokennzeichen: die israelischen sind gelb und die palästinensischen grün-weiß. Das war mir vorher überhaupt noch nicht aufgefallen. So viele Details.
Den Bus zurück nach Jerusalem mussten wir – wie wir nun ja wussten – in der A-Zone finden. Wir liefen also wieder an dem großen, roten Schild vorbei und trafen auf der anderen Seite einen freundlichen Mann, der uns den Weg zu einem Ort wies, an dem der Bus üblicherweise anhalte (wie gesagt: keine Bushaltestellen, keine Schilder, kein nichts). Wir warteten etwa 20 Minuten und dann kam ein Bus, der tatsächlich anhielt. Es saßen viele Schulkinder darin und ein paar Erwachsene, nur wenige Touristen. Am Checkpoint stiegen die Kinder aus. Ein Mädchen, das vor uns gesessen hatte, ließ ihr Mathebuch auf dem Sitz liegen. Ich nahm es und ging ihr hinterher: „You forgot your book!“ Ein Mann drehte sich um, lächelte und erklärte: „You can just leave it. They will all get back on.“
Ah! Wir Touristen durften sitzen bleiben und unsere Pässe wurden im Bus kontrolliert, aber die Schulkinder mussten durch den Checkpoint laufen. Der Bus fuhr 50 m vor und auf der anderen Seite stiegen alle wieder ein. Mann, Mann, Mann. Auch nach zwei Wochen im Land fühlte ich mich immer noch ständig wie „fresh off the boat.“ Aber was für ein schöner Tag in Beit Jala.
Manchmal reicht ein einziges Wort, das man von „früher“ kennt, hier: Qumran, (kann aber auch Henrystutzen sein, zB) und sofort öffnet sich das Tor zu einer fremden und gleichwohl bekannten Welt.