Ich habe nachgezählt, weil mir das Jahr nach so viel Wegsein vorkam, und tatsächlich, im letzten Jahr war ich an 182 Tagen nicht Zuhause, also ziemlich genau die Hälfte des Jahres. Die krasseste Zeit war zwischen September und November, mit 19 Flügen innerhalb von 79 Tagen. Das war zum größten Teil Arbeit, aber auch ein Urlaub mit drei Tagen Stopover in Island (wie toll ist denn bitte die Blaue Lagune, und diese Landschaft, da muss ich unbedingt nochmal länger hin) auf dem Weg in die USA.
In Chicago haben wir viele unserer alten Orte wieder besucht, mit Erinnerungen an Johns Geburt und seine ersten Lebensjahre dort. Ein unglaublicher Moment war, ein Foto von John zu sehen, das im Stadtteil Roscoe Village immer noch über der Kasse eines Späti hängt. Der Besitzer hatte damals viele Jahre lang, bei uns muss es etwa 2002 gewesen sein, Fotos der Kinder aus dem Viertel gesammelt, und sie hängen alle immer noch da. Der Besitzer ist auch noch da und erzählte uns, dass viele der Kinder mittlerweile eigene Kinder haben und mit ihnen in den Laden kommen, um ihnen die Babyfotos von sich zu zeigen. Er konnte kaum glauben, dass eines dieser Kinder nun schon gestorben ist. Ich musste natürlich sofort weinen, aber trotzdem war es sehr schön, mit dem Kioskbesitzer zu sprechen.
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Wenn etwas zu Ende geht, ist das automatisch die Aufforderung, sich auf etwas Neues einzulassen. Damit hadere ich immer noch, denn dazu notwendig ist das Eingeständnis, dass wir uns nur wenig wirklich aussuchen können, und gerade nicht die wichtigen Dinge im Leben, wie den Zeitpunkt eines Todes. Theoretisch weiß man das natürlich, praktisch ist es aber schwer auszuhalten. Unabhängig davon, ob man etwas wollte oder nicht, muss man akzeptieren, wie es gekommen ist. Die damit einhergehende Veränderung ist eine Aufforderung, zunächst die des puren Weiterlebens, und dann die des neuen Gestaltens. Wir sind wohl immer noch in der ersten Phase.
Gefühlt hat sich am Stillstand der letzten bald drei Jahre wenig geändert. Die Seele ist in der Trauer immer noch schockgefroren, wobei ich mich im letzten Jahr immer wieder gefragt habe, was das eigentlich ist, die Seele. Ich habe einiges darüber gelesen, bin aber nicht viel weiter gekommen damit. Platon sagt, die Seele sei „das, was sich von selbst bewegt.“ Das immerhin finde ich plausibel. (Aristoteles ist schon wieder ganz anderer Meinung und von da an wird es nur unübersichtlicher. Gerade habe ich Knausgårds Im Sommer gelesen und er schreibt ja auch immer wieder über die Seele, allerdings auch ratlos. Ich lasse die Frage stehen, auf Wiedervorlage am Ende dieses neuen Jahres.)
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Ich bin so viel gereist, weil das meine beruflichen Tätigkeiten nun einmal fast alle mit sich bringen, Reiseleitungen in Deutschland und international sowie mobile Öffentlichkeitsarbeit über das ganze Bundesgebiet verteilt. Reisen geleitet habe ich im letzten Jahr neben Deutschland in Tschechien, Dänemark, Norwegen, der Schweiz, Südafrika, Botswana und Simbabwe. In Deutschland habe ich in zehn Bundesländern gearbeitet: Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Bayern.
Fun fact ja auch: Wenn man genug unterwegs ist, ist man fast nicht mehr da. Das Verschwinden als Teil des Reisens. Ich glaube aber nicht, dass das wirklich im Vordergrund steht. Wenn überhaupt, glaube ich eher, dass ich im Moment unterwegs einen besseren Ausdruck für das finde, was mich beschäftigt, und das ist vor allem das Unveränderliche in der Verwandlung, die ewige Schönheit der Welt, die Natur. Sie lehrt einen am besten diese Lektion, wie wenig wir Menschen zu bestimmen haben, wie klein wir sind.
Wenn ich in der Schweiz auf dem Schilthorn stehe und das Alpenpanorama sehe, oder in Utah das erstaunliche Farbenspektrum der Felsen, eingebettet in die unüberschaubare Weite der Landschaft, wenn ich in Südafrika durch den Busch gehe und wir in unserer kleinen Gruppe versuchen, die Spuren zu lesen, deren Art und Ausdruck so fern vom Menschlichen sind, im Wissen, dass ein Leopard wohl keine Mühe hätte, uns zu erlegen, dann wird es einem klar und deutlich nicht nur vor Augen geführt, sondern wirklich erfahrbar gemacht, dass es eine absolute Anmaßung wäre zu glauben, man hätte hier irgendwas zu bestimmen oder auszuwählen.
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Ansonsten, eher grundsätzlich gesprochen, gehört es wohl auch zur Trauer, dass man sich nirgendwo wiederfindet. Nicht drinnen und nicht draußen, nicht bei anderen, nicht bei sich selbst. Mehr als in den Vorjahren nehme ich den absurden Gegensatz wahr, in dem Scott und ich uns im Verhältnis zum äußeren Geschehen befinden. Jeden Tag werden Nichtigkeiten dramatisiert, das große Aufmerksamkeitsgerangel mit dem Tempo und dem schrillen Ton, den es mit sich bringt. Wir demgegenüber haben tatsächlich das vielleicht Dramatischste erlebt und sind im Kern der Stille gelandet. Es ist so ein Gegensatz.
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Andererseits: Was alles auf einen einströmt, scheint noch intensiver, noch überwältigender, wenn man selbst so leer ist. Es gehört zu meinem Beruf, mit Menschen zu sprechen, die frustriert und unzufrieden sind (nicht nur, aber auch). Schulklassen zu unterrichten oder mit Menschen zu reden, die eine ähnliche Einstellung haben, das ist verhältnismäßig leicht. Deshalb sind es gerade die anderen Gespräche, die eine Herausforderung darstellen, und die mich am meisten innerlich beschäftigen. Ich habe mir im vergangenen Jahr verstärkt Gedanken dazu gemacht, wie man in ein gutes Gespräch miteinander kommen kann, auch wenn man ganz unterschiedlicher Meinung ist, und auch wenn das Gegenüber sich dem zunächst verschließt. Ich habe viel dazu gelesen, habe alte Unterlagen von Weiterbildungen herausgeholt und nochmal durchgearbeitet, und in meinen Gesprächen bewusst daran gearbeitet.
Ein für mich schöner Moment in diesem Sinn war im August ein schwieriges Gespräch mit einem älteren, wütenden Mann im Allgäu, der zunächst nur Dampf ablassen und all seinen Frust bei mir abladen wollte, und mit dem es mir dann aber doch gelungen ist, die Kurve in ein echtes Gespräch zu bekommen, und obwohl wir am Ende immer noch ganz unterschiedlicher Meinung waren, hatte er sich im Verlauf andere Perspektiven angehört, wozu er anfangs nicht bereit gewesen war. Sein aggressiver Auftakt an der Grenze zum Rassismus hatte sich in deutlich mildere und respektvollere Töne verwandelt, nicht nur mir gegenüber, sondern auch in der Sicht auf andere Menschen.
Ich weiß, dass ich in einem einzelnen Gespräch keine Meinungen ändern kann, das wäre naiv zu glauben, und bei einigen lohnt sich tatsächlich auch gar kein Gespräch mehr, den Unterschied muss man lernen zu erkennen, aber grundsätzlich geht es mir um den Umgang, und darum, das Gegenüber als Menschen mit eigenen Sorgen und Wünschen wahrzunehmen, gegenseitig, und allein dadurch hebt sich manchmal (im Idealfall) schon dieser gnadenlose, giftige Ton auf. Das funktioniert oft nicht, aber ich arbeite daran und bin der Meinung, das in den letzten Jahren immer besser hinzubekommen, immerhin.
Nachdem der Mann sich verabschiedet hatte, dachte ich mir, dass es ein gutes Gespräch war, über das wir wahrscheinlich beide noch nachdenken würden. Tatsächlich kam der Mann später noch einmal zurück, bedankte sich für das Gespräch und schenkte mir eine Edelweißblume. Das fand ich doch ermutigend für meine Arbeit, for whatever it’s worth.
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Wir fahren, wenn wir in Berlin sind, immer noch jeden Tag zum Friedhof, weiterhin ein sehr wichtiger Ort für uns. Bald werden es drei Jahre sein, dass wir dort praktisch Zuhause sind. Scott hat sich bei der Dürre des letzten Jahres nicht nur um Johns Grab, sondern um die ganze Umgebung mit gekümmert. Er hat jeden Tag eine dreiviertel Stunde mit Wässern verbracht und rund um uns alle Pflanzen am Leben erhalten.
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Im Frühjahr habe ich mit einer neuen freiberuflichen Tätigkeit in Berlin begonnen (Besucherbetreuung im Kanzleramt) und zum 1. August habe ich beim Bundestag nach einer wie immer aufregenden Prüfung einen neuen Rahmenvertrag für vier Jahre bekommen.
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Und auf eine Art ist ja jedes Jahr auch unveränderlich. Hier meine unvollständige Liste:
- Frohes neues Jahr!
- Neujahrsspaziergang
- Vielleicht wird nun doch alles anders, erstmal weg mit der ganzen Weihnachtsdeko
- Schnee!
- ibes, ja oder nein?
- Der Januar zieht sich ganz schön, hoffentlich ist bald Februar
- Endlich Berlinale!
- Mittendrin oder spätestens anschließend: grippaler Infekt
- Boah, diese Kälte, dieses Grau, der Februar zieht sich aber auch ganz schön
- Neue Staffel Let’s Dance
- Diskussion über Zeitumstellung
- Zu Ostern: Diskussion über Traditionshasen und Tanzverbot
- Diskussionserschöpfung und Verlagerung auf Metaebene
- Hat Anne Will immer noch Pause?
- Jemanden in den April schicken
- Stimmung dreht sich langsam: „Frühling lässt sein blaues Band…“
- Fenster putzen
- Jetzt geht es bergauf
- Keller ausmisten
- Baumarkt: Gartencenter (pflanzen aber erst nach der Kalten Sophie!)
- Aprilwetter versus endlich wieder Grillen
- Karneval der Kulturen (aus diesem Anlass: Friedhof einmal im Jahr geschlossen)
- Steuererklärung
- Pfingstspaziergang, Muttertag, Himmelfahrt, Vatertag
- Zu viele Feiertage im Mai, man kommt zu nichts
- Erdbeeren
- Spargel
- Rhabarber (aber nur bis Mitte Juni!)
- Der Juni geht eigentlich, nur zu viel Arbeit
- Sommerferien
- Irgendwo, wo man hingefahren oder hingeflogen ist, ist es wirklich schön
- Jetzt ist es aber zu heiß
- Wespenstich, Biergarten, Sommerloch
- Endlich alle zurück aus dem Urlaub, endlich wieder Alltag, neuer Tatort!
- Ständig mit Leuten treffen, weil man sich ja so lange nicht gesehen hat
- Huch, schon Herbst?
- Erste Euphorie (Goldener Oktober)
- Es sich drinnen gemütlich machen (Ikea)
- Lecker Kürbiszeit!
- Diskussion über Zeitumstellung und Halloween vs. Reformationstag
- Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag, Volkstrauertag
- Stimmung: „Wer jetzt allein ist…“
- Kurzes Aufatmen: Thanksgiving
- Grünkohl (aber erst nach dem ersten Frost!)
- Adventskalender und Adventskranz, endlich wieder Weihnachtsdeko
- Weihnachtsmärkte, Last Christmas, Glühwein
- Diskussion: Darf man noch frohe Weihnachten wünschen?
- Tannenbaum und Rouladen
- Unschlüssige Zeit zwischen den Jahren
- Was macht ihr an Silvester?
- Ignorieren, aber trotzdem Raclette
- Bloß keine guten Vorsätze, einself11!!
- Puh, wieder ein Jahr geschafft
- Und dann von vorn
Joker (jedes Jahr, Überraschungseffekt nur durch unklaren Zeitpunkt)
- Mindestens ein Datenschutzskandal
- Weiteres Aushöhlen der Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedsland, aber ohne Konsequenzen wegen Einstimmigkeitsregel im Europäischen Rat
- Irgendjemand hat auf irgendeinem Produkt das Wort Halal entdeckt
- Diskussion über Vollverschleierung
- Verfall der Rechtschreibung
- Das Internet ruiniert unsere Kinder
- Das Internet ruiniert uns alle
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Interessant aber natürlich eigentlich nur, wie dieses wiederkehrende Gerüst dennoch jedes Jahr angefüllt ist mit einer jeweils unvergleichlichen Mischung aus Liebe, Enttäuschungen, Freuden, Schmerzen, Fort- und Rückschritten, Verlust und Erleichterung. Von letzterer hätte ich mir mehr gewünscht, dazu bleibt die Hoffnung auf 2019.
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Mehr Fotos auf Flickr (habe einen neuen Account eröffnet, da der alte schon fast 1000 Fotos hatte und das ist ja nun die neue Cutoff-Marke):
Elbe-Touren von Prag nach Berlin auf dem Schiff [#]
Schweiz [#]
Dänemark & Norwegen [#]
Südafrika, Simbabwe & Botswana [#]
Island [#]
USA [#]