Mein Jahresrückblick müsste nur einen Dreiwortsatz lang sein: John ist gestorben.
Mehr bräuchte ich nicht zu sagen. Wir müssen uns niemandem erklären. Jeder weiß es, ahnt es, versteht es aus einer Ahnung heraus, dass es das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Ich habe das Gefühl, im Moment erwartet deshalb auch keiner besonders viel von uns, und das ist hilfreich. Wir haben genug mit uns selbst zu tun. Heute sind es genau zehn Monate, die wir ohne John leben, wobei leben vielleicht auch etwas übertrieben ist. Es ist immer noch mehr ein Vor-sich-hin-Sein, aber wir sind noch da, und wenn auch nicht so ganz, immerhin irgendwie. Also doch ein kleiner Jahresrückblick.
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Ende April fing ich nach sieben Wochen Pause wieder an zu arbeiten und das tat und tut mir erstaunlich gut. Für das Reiseunternehmen war ich in Holland, Belgien, Frankreich, Deutschland, Tschechien, Österreich, Slowakei, Ungarn, Serbien, Rumänien und Bulgarien. Mehrfach. Und zwar mit Kollegen aus Argentinien, Polen, Deutschland, Südafrika, Frankreich, USA, Russland, Spanien und Griechenland.
Mit anderen Worten: Alles sehr bunt. [Und größer könnte der Kontrast kaum sein zu den hier in Deutschland vielfach geführten Gesprächen mit nationalistisch argumentierenden Bürgern. Aber es ist ja genau diese bunte Welt, die ihnen nicht gefällt/ Angst macht/ etc.]
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Das Highlight der Improvisation war, als wir im September mit dem Schiff drei Tage in Komárno festsaßen, weil ein anderes Flusskreuzfahrtschiff in der Nähe von Bratislava den Uferdamm gerammt hatte, woraufhin der Wasserpegel der Donau zur Reparatur abgesenkt werden musste und keine Schiffe mehr fahren konnten. Der EU-Gipfel in Bratislava verlängerte zudem die Sperrung der Donau. 135 Reisende, drei Tage in Komárno, in einer verschlafenen Stadt in der Slowakei, da ist es nicht weit bis zur Meuterei auf der Bounty. Wir organisierten aber Busse und Ausflüge und letztlich hat alles super geklappt.
Für das Referat Öffentlichkeitsarbeit war ich in Erfurt, Bruchsal, Schwäbisch Hall, Berlin, Neustadt an der Weinstraße, Dresden, Stendal, Gifhorn, Lehrte, Wunstorf, Schweinfurt, Osterholz-Scharmbeck, Lebach und Hofheim in Unterfranken. In Deutschland verreisen Scott und ich immer gemeinsam. Wir wohnen in Ferienwohnungen und haben eine kleine Mitnehmkiste (zur Kürbiszeit inklusive Pürierstab!), die es uns überall heimisch macht.
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In Urlaub zu fahren, dazu hatten wir letztes Jahr wenig Herz, oder Energie, oder wie auch immer man das nennen will, was man braucht, um aufzubrechen, wenn es keine beruflichen Gründe gibt. Wir verbrachten dann aber doch noch ein paar Tage auf Hiddensee, wo wir mehrmals mit John gewesen sind. Wenn wegfahren, dann an einen Ort der Erinnerung. Hier ist John den Strand entlang gelaufen und mit Klamotten ins Wasser, hier ist er die Rutsche runtergerutscht, hier auf den Anker geklettert. Ich weiß auch nicht, warum wir uns das ganze Jahr nur an Orten aufhalten wollten, an denen wir mit John gewesen sind. Wahrscheinlich hat es etwas mit der Verbundenheit zu tun, die man in der Erinnerung spürt. Leicht ist das aber auch nicht.
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Was auch noch war: Am 1. September 2016 ist die neue Kinder-Richtlinie in Kraft getreten, an der ich seit 2012 mitgearbeitet habe, mitsamt dem neuen gelben Heft. Ich habe so viel Arbeit da reingesteckt und dann war es sehr unspektakulär, als das Ganze endlich in der Versorgung ankam. Ich habe auch noch nicht viel darüber gehört, ob unsere Datenschutzbemühungen durch die herausnehmbare Teilnahmekarte fruchten, oder ob die Eltern unsere erklärenden Einführungstexte zu den jeweiligen U’s hilfreich finden. Ich habe jedenfalls mein Bestes gegeben.
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Über Bücher und Musik kann ich nicht viel schreiben. Neben Trauerbüchern habe ich vor allem „Panikherz“ gelesen, was ich sehr mochte. Unter den Trauerbüchern fand ich nur eines richtig gut, einen Roman, aber den dafür auch gleich wirklich großartig: Tonio. Ein Requiemroman von A. F. Th. van der Heijden. Den neuen Knausi konnte ich bisher noch nicht beginnen. Auch hier fehlte mir noch das Herz, oder die Energie, oder wie auch immer man das nennen will, was man braucht, um sich etwas Geliebtem neu zuzuwenden. Dabei möchte ich „Das Amerika der Seele“ eigentlich gerne lesen. Das Buch liegt hier und wartet geduldig auf mich.
Musikhören geht bei uns seit Johns Tod fast gar nicht. Je besser ich die Musik finde, umso trauriger macht sie, und zwar auf Schlag. Musik geht direkt ins Schmerzzentrum. [Leichter erträglich ist Musik, die ich schrecklich finde. Die ist einem dann ja auch egal.]
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Wenn wir in Berlin sind, verbringen wir viel Zeit auf dem Friedhof, so auch zu Weihnachten und Neujahr. Zuerst hatten wir überlegt zu verreisen, weit weg, aber dann sah ich mich irgendwo auf einem Balkon sitzen, mit einem schönen Ausblick, und doch nur denken: Was soll ich hier? Wir können vor der Situation nicht weglaufen. Besser, sich ihr ganz und gar zu stellen. So haben wir, in Erinnerung an die Feiertage mit John, zu Zweit ein ruhiges Weihnachtsfest und einen ebenso ruhigen Jahreswechsel erlebt. Teilweise waren wir zweimal am Tag auf dem Friedhof und haben sogar in der Kälte unsere Klappstühle aus den Büschen geholt und uns ans Grab gesetzt.
Die Zeit vergeht wie im Flug, irgendwie an uns vorbei, über uns hinweg, während wir gefühlt nichts tun. Generell, aber ganz besonders auf dem Friedhof. Man ist schon völlig damit ausgelastet, die Situation einfach nur zu ertragen.
Wir haben alles für John getan, was wir konnten. War es aber nicht genug, nicht gut genug? Solche quälenden Fragen schleichen sich leider immer wieder ein, aber sie bringen uns nicht weiter. Es lag doch nicht in unseren Händen. Und wie bei allem, auf das man keinen Einfluss hat, gilt es auch hier zu akzeptieren. Das war Johns Leben, es war schön und schwer, und für uns zu kurz, aber so sollte es sein. Dankbarkeit für die Zeit, die wir gemeinsam hatten, ist letztlich die einzig hilfreiche Perspektive.
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2016 war: Horror.
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