der autist als massenmörder [update].

Im Februar 2013 veröffentlichte ich einen Textteil aus meinem Autismusbuch. Mir ist immer mehr aufgefallen, dass die metaphorische Vereinnahmung des Begriffs Autismus konkrete Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des tatsächlichen Syndroms hat:

„Autisten sind viel häufiger Opfer als Täter, zum Beispiel Opfer von Mobbing, in der Schule und am Arbeitsplatz. Sie sind oft von Ausgrenzung betroffen. Durch die verzerrte Berichterstattung werden sie allerdings im Gegenteil geradezu als Psychopathen dargestellt. […] Die Prägung des Symbols lässt bereits deutliche Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des Syndroms erkennen, wie Newtown und München leidvoll verdeutlicht haben.“ [#]

Wir erleben im Moment, dass sich genau diese Beobachtung weiter fortsetzt. Eine mehr als zweifelhafte Studie mutmaßte frei von wissenschaftlicher Evidenz herum, dass es eine statistisch erhöhte Verbindung zwischen Autismus und Massenmord gebe. Die Autoren haben die beiden Begriffe gegoogelt und auffällig viele Treffer festgestellt. Sie nehmen eine Reihe von spekulativen und einseitigen Artikeln, unter anderem aus Quellen der Boulevardpresse (z.B. Daily Mail) zum Anlass, eine Verbindung zwischen dem tatsächlichen Syndrom und Massenmord abzuleiten, statt zu sehen, dass damit lediglich die Vereinnahmung des Begriffs dokumentiert wird.

Die Washington Post titelte daraufhin: Study: ‘Significant’ statistical link between mass murder and autism, brain injury. So zieht das Ganze nun also seine Kreise. Die veränderte Wahrnehmung des Syndroms als Folge der metaphorischen Konnotation prägt sich immer drastischer aus. Solange die Kritik an diesen beiden Vereinnahmungen im Mainstream gar nicht diskutiert, geschweige denn akzeptiert wird, ist ein weiterer Anstieg zu erwarten. Die Gesellschaft kann damit Probleme auf eine scheinbar einfache Art lösen: Diese ganzen Amokläufer und Massenmörder, das sind eben Autisten, Psychopathen („Das hat mit uns nichts zu tun“).

[Nur zur Info: Die Links zur Studie und zum Artikel in der Washington Post laufen über donotlink.com, damit kein Traffic auf die Artikel generiert wird und sie in den Suchmaschinen nicht aufgewertet werden.]

Zu weiteren Details empfehle ich Emily Willinghams Artikel: No, Timothy McVeigh Was Not Autistic

Es gibt eine Petition, dass die Washington Post ihren Artikel zurückziehen soll.

Nachtrag: Mela Eckenfels hat einen sehr guten, ausführlichen Text dazu geschrieben: Autismus und Massenmord: Der konstruierte Zusammenhang

2 thoughts on “der autist als massenmörder [update].

  1. Antworten
    Michael - 28. Mai 2014

    Danke für diesen Beitrag, den ich äußerst aufschlussreich finde. Wundern indes kann ich mich darüber nicht, denn es reicht weit weniger als Autismus aus, um ausgegrenzt und vergessen zu werden. Eine schwere Depression, mehrere Klinikaufenthalte über insgesamt 21 Wochen und meine sogenannte Familie hatte sich in Luft aufgelöst. Mit „sowas“ hat man nichts zu tun. Nun, ich mit denen auch nicht mehr. Jedenfalls, unsere Gesellschaft ist scheinbar unter dem ohnhin blätternden Glanzlack an der Oberfläche durch und durch verfault.

  2. Antworten
    Chris - 28. Mai 2014

    Ich selber finde es auch höchst alarmieren das die Tendenz und Verdrehungen im Bezug auf das sein als Autist für Auswirkungen und Mutmassungen nimmt. Vorfällen weil sich Menschen eben nicht mehr informieren und nur noch alles von hören sagen glauben zu wissen.

    Warum genau Menschen vor uns so Angst haben, hat sicher auch mit diesem Mist zu tun, aber auch weil wir anders sind.

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